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XXVII

Ich teilte meine neuen Entschließungen Ezard mit, denn von mir aus hätte ich nicht gewußt, was ich allenfalls für das allgemeine Beste hätte unternehmen können. Ezard dagegen hatte ganz auf eigene Hand, ohne von irgend jemandem Anweisungen oder Ratschläge zu bekommen, denn alle zuständigen Behörden hatten den Kopf verloren, eine wahrhaft staunenswerte Tätigkeit ins Werk gesetzt. Er sorgte dafür, daß in ausreichender Anzahl Krankenwärter vorhanden waren, die zum Teil von auswärts berufen werden mußten, ebenso dafür, daß die Kranken gehörig verpflegt wurden, was alles anfangs in der nachlässigsten Weise gehandhabt war. Es bildeten sich unter seiner Leitung freiwillige Kommissionen, welche dies und jenes überwachten: das Verbrennen der Wäsche von Kranken und Gestorbenen, die Desinfektion der Häuser, die Austeilung gekochten Trinkwassers, welches auf öffentlichen Plätzen unentgeltlich geliefert wurde, sodann die Einholung der Erkrankten und die Ablieferung der Genesenen. In einer von diesen Kommissionen wurde nun auch ich auf meinen Wunsch untergebracht.

Dies alles konnte nicht so auf einmal ins Leben gerufen werden, wie ich es hier aufzähle. Denn Ezard bekleidete damals kein Amt mehr, das ihm ein rasches Durchgreifen ermöglicht hätte, und erst nach Verlauf einiger Zeit sah die Bevölkerung den Wert seiner Bemühungen ein und schloß sich ihnen an. Allerdings wurde er bald vom Senat mit einem geeigneten Titel ausgerüstet an die Spitze der sämtlichen Kommissionen zur Bekämpfung der Cholera gestellt, so daß er nun von Amts wegen mit mehr Nachdruck handeln konnte. Niemand hätte sich besser dazu geeignet. Seine Ruhe wurde durch nichts erschüttert; er zeigte niemals Furcht, Ekel oder Ermattung. Wunderbar war es, wie seine Gegenwart auch die Kranken, obwohl er nicht Arzt war, beruhigte. Übrigens handelte er nicht sowohl aus Menschenliebe, obwohl ich ihm auch solche Empfindungen keineswegs absprechen möchte, als zunächst um seines Vaters willen, indem es sein sichtlicher Wunsch war, daß man alle ihm schuldige Anerkennung diesem zu gute schreibe und diesen eines Teils der gegen ihn erhobenen Vorwürfe um seinetwillen entlaste. Höchst auffällig war in dieser Zeit Luciles Benehmen, insofern als sie sich gänzlich von Ezard absonderte und eine Reihe von Gemächern bewohnte, die er nicht betrat, während sie ihrerseits auch niemals sein Zimmer aufsuchte. Ich konnte nicht umhin, ihr gelegentlich, da ich bereits durch einen voraufgegangenen Wortwechsel mit ihr gereizt war, meine Verwunderung über dies Betragen, ja meine Mißbilligung desselben auszudrücken, wurde aber sogleich geschlagen, da sie es ohne Mühe mit den trefflichsten Grundsätzen in Einklang zu bringen wußte. Vor Ansteckung, sagte sie, habe sie erstens überhaupt keine Furcht, zweitens wisse sie wohl, daß man sich durch geeignete Maßregeln gerade vor der Cholera ziemlich unfehlbar sicherstellen könne. Deswegen würde sie sich nicht ungern, ja eigentlich mit Vorliebe der Krankenpflege widmen, wenn nicht ihr kleines Mädchen wäre, für das sie in erster Linie zu sorgen hätte. Dessen Körper sei augenblicklich durch eine erst kürzlich überwundene Krankheit geschwächt und für schädliche Einflüsse deshalb doppelt empfänglich; sie müsse aber auf alles dies umsomehr bedacht sein, weil ihr Mann über die Sorge um fremde Menschen die um sein eigenes Kind vergäße. Auch mich würde sie in Gegenwart des Kindes nicht empfangen, indessen bürge ihr meine Ängstlichkeit dafür, daß ich meine Person und somit auch die anderen nicht allzugroßen Gefahren aussetze.

Vorzüglich diese letzte Anspielung setzte mich so in Erstaunen, daß ich für den Augenblick nichts zu erwidern wußte. Auch hätte niemand behaupten dürfen, ihre Vorliebe für die Krankenpflege sei erheuchelt, wenigstens war die Begeisterung, die aus ihren schönen Augen funkelte, ehrlich und nicht gering. Da der Himmel sie aber nicht an das Krankenbett, sondern in eine andere, behaglichere Stellung gesetzt hatte, verbrachte sie diese schlimme Zeit in leidlicher Gemächlichkeit und wiegte sich wohl dazu in dem Traume, Ezard werde durch diese Trennung anfangen ihre Gesellschaft zu vermissen, und das verlorene Glück würde endlich wieder bei ihr einkehren.

Ezard hingegen lebte mit dem kleinen Harre so gut und froh, wie es ihm seit langer Zeit nicht geworden war. Das merkte man ihm auch bald im Äußeren an; obwohl er noch niemals eine solche Last von Arbeit und Verantwortung auf sich gehabt hatte, gewann sein ganzes Wesen einen Glanz von Gesundheit: seine Wangen bräunten sich, seine Stimme klang frischer, der Ausdruck gequälter Müdigkeit, den er schon lange an sich hatte, wich aus seinem Gesichte. Es schien so, als fühle er sich frei, da er nun so abgesondert von Lucile lebte, und bildete sich ein, er wirke für Galeiden und eine ewig himmlische Zukunft an ihrer Hand.

Ich selbst fing allgemach auch an, mich in meiner Tätigkeit wohl zu fühlen und vergaß oft völlig, auf welches traurige Ziel sie gerichtet war, denn da ich noch niemals eigentlich praktisch gearbeitet hatte, fühlte ich meine ganze Person nun auf die wohltätigste Weise in Anspruch genommen. Freilich traten die Erfolge unserer nützlichen Bestrebungen noch nicht ein, vielmehr verschlimmerte sich der Stand der Dinge täglich. Daß die Hitze nicht nachließ, war vielleicht von allem das erschwerendste und entmutigendste; denn abgesehen davon, daß sie für das Umsichgreifen der Krankheit selbst verderblich war, erschlaffte sie Körper und Seele dermaßen, daß auch die Gesunden kaum die für eine so vielfache Tätigkeit notwendigen Kräfte aufbringen konnten. Die rote Sonne schien mitten am dunkelblauen Himmel festgebannt zu sein wie ein Fluch Gottes und zu warten, bis die gepeinigte, kämpfende Stadt unter ihrem bösen Blicke ganz und gar verendet sei.

Obwohl ich am Abend meistens übermäßig ermüdet war, konnte ich doch der ungemilderten Hitze wegen oft durchaus nicht schlafen, oder der Schlummer lag nicht wie ein mild wärmendes Tuch, sondern wie eine erstickende Last schwer über mir. Ich entsinne mich eines Traumes einer solchen Nacht, den ich noch nicht vergessen habe; er mochte daraus entstanden sein, daß, weil ich damals am Tage wenig mehr an die Gefährdung des Lebens dachte, die zurückgedrängten unheimlichen Eindrücke sich vielleicht gerade deswegen Nachts umso lebhafter regten. Ich ging in diesem Traume mit Galeiden über einen felsigen Paß, wie ich ähnliche in der Schweiz gesehen hatte; es war kein Halm und kein Kraut mehr in dieser Einöde, nichts als Felsen, die wie Grabsteine über den Leibern eines ausgestorbenen Riesengeschlechtes dastanden. Wir gingen schweigsam nebeneinander, Galeide in einem weißen, schleppenden Gewande, das merkwürdigerweise mit einem leise rieselnden Ton, als ob es eine Welle wäre, über den steinigen Boden glitt. Während wir anfänglich gemeint hatten, wir wären allein, sahen wir auf einmal, daß menschliche Gestalten um uns her waren, die wir aber nicht hatten kommen hören, so lautlos gingen sie. Es waren viele, und alle seltsam angetan, dazu so verhüllt, daß wir zuerst von ihrem Äußeren nichts unterscheiden konnten. Als auf einmal, ich weiß nicht wie, ihre Gesichter erkennbar wurden, sahen wir, daß sie eine grünlich bleiche Farbe hatten, und daß die Augen ohne Bewegungsfähigkeit starr in den Höhlen saßen. Da faßte ich Galeidens Hand und raunte ihr mit unsäglichem Grauen zu: siehst du es? sie sind alle tot. Worauf Galeide ernsthaft nickte und wir beide hastig weitergingen, und je mehr die Gestalten uns umringten, desto ängstlicher suchten wir ihnen zu entkommen, denn ich hatte deutlich im Bewußtsein, daß wir verloren sein würden, sowie sie uns als Lebende erkennten. Ohne daß ich zu sagen wüßte, wie, kam es, daß sie sich zwischen mich und Galeiden schoben, und plötzlich sah ich aus einiger Entfernung, wohin ich verschlagen war, daß sie einen Reigen um Galeiden schlangen und sie in feierlichen Wendungen umschwebten; dann nahmen sie einen Kranz aus weißen Rosen und setzten ihn ihr auf, und so im Kreise tanzend entfernten sie sich mehr und mehr mit ihr, während ich mit aller Kraft, die in mir war, ihnen nach wollte, mich aber aus den Felsen nicht herausfinden konnte, die zu wachsen und gegen mich anzudrängen schienen. Von dieser Beklemmung und vergeblichen Anstrengung mag ich erwacht sein.

Während Galeide, obwohl sie nur als ein seltsamer Traumesschatten in diese Zeit hineintaucht, mir stets mit voller Lebenswirklichkeit vor den Sinnen ist, könnte ich mir von einem andern weiblichen Bildchen, das mit der Erinnerung an das Jahr der Seuche enger verwebt ist, leicht einreden, ich hätte es nur geträumt in einer von jenen schwülen Nächten. Aber es war leibhaftig da und von Fleisch und Blut, wie ich auch wohl zu empfinden bekommen habe. Das Mädchen, von dem ich spreche, hieß Flore Lelallen und war die Tochter eines Kaufmanns, der sich in überseeischen Ländern Reichtum und eine ausländische Frau erworben hatte, von denen beiden in märchenhaft übertriebener Weise geredet zu werden pflegte. Im ganzen genossen die Lelallen nicht des allerlautersten Rufes, obwohl sich ihnen nichts Bestimmtes nachsagen ließ; man konnte hie und da reden hören, es sei beim Erwerbe des fabelhaften Reichtums nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Auch lebten sie so ziemlich für sich allein, wobei freilich vielleicht nicht genau zu unterscheiden war, ob die Menschen sich von ihnen zurückgezogen, oder ob es sich umgekehrt verhielt. Wie es in der Cholerazeit nicht selten vorkam, wurden beide, Mann und Frau, gleichzeitig von der Cholera befallen und in das Spital geschafft, so daß Flore allein in dem großen Hause, das ihnen gehörte, zurückblieb. Flore mochte über zwanzig Jahre alt sein, darauf ließ mich eine überraschende Reife und Selbständigkeit ihres Geistes schließen; indessen war ihr Äußeres das eines Kindes, das Figürchen unentwickelt, aber dabei von höchster Lieblichkeit. Daß ich die Bekanntschaft des mir bisher ganz fremden Mädchens machte, ging so zu.

Zu der Verlassenen, die keinen Augenblick sagen konnte, ob sie noch Vater und Mutter habe, zog eine ältere Verwandte, mit der sie nun ein Stockwerk des Hauses bewohnte, das nur Gesellschaftsräume enthielt und für gewöhnlich unbenutzt gewesen war. In diesen weiten Sälen allein mit der alternden Tante mochte es Floren unheimlich sein, besonders da sie nicht wohl anders konnte, als sich in ihren Gedanken unablässig mit Krankheit und Tod beschäftigen. Da kam ihr, vielleicht in Erinnerung an die berühmte Pest, die Boccaccio schildert, der Einfall, daß sich alle diejenigen zusammentun möchten, welche vom Tode nichts wissen wollten und das Leben liebten und es bis zum letzten Augenblick und bis auf den letzten Tropfen genießen wollten. Diese Gesellschaft sollte den Namen einer Bande vom heiligen Leben tragen, und die Mitglieder auf nichts anderes verpflichtet werden, als daß sie sich, solange es anginge, froh und sorgenlos hielten, daß aber, wenn einer aus dem tollen Kreise durch den jähen Tod weggerissen würde, er den anderen mit lachender Miene Valet zu sagen habe, die ihrerseits sein Schicksal wohl beklagen, aber nicht um ihn trauern dürften.

Dieser Plan wurde bekannt und weiter verbreitet und fand bei manchen jungen Leuten, die sich Unterhaltung davon versprachen, Anklang; auf diese Weise kam auch mir davon zu Ohren. Ich war davon sehr eingenommen, denn in einem durch künstliche, wenn auch unschuldige Mittel herbeigeführten Rausch oder Zustande der Erregung der Gefahren zu spotten oder zu vergessen, war meiner Natur weit zusagender, als dem Tode besonnen mit ruhiger Furchtlosigkeit ins Gesicht zu sehen. Wer nun der Bande vom heiligen Leben angehörte, hatte sich durch das Tragen einer roten Rose zu kennzeichnen und durfte sich damit Abend für Abend in dem verödeten Hause der Lelallens einfinden. Dort wurde man von Floren und ihrer Tante empfangen, von denen die letztere die Spuren ihrer ehemaligen Schönheit durch die purpurrote Rose, die sie in ihren ergrauenden Haaren recht sichtbar befestigte, so prächtig zu heben wußte, daß ihr Anblick keineswegs ohne Anziehungskraft war. Die Nichte indessen war das Holdeste, was man sich nur ausdenken kann, den zarten, gelenkigen Körper in einen florartigen Stoff gehüllt, aus dem das lockige Haupt auf dem schlanken Hälschen hervorleuchtete wie ein Schneeglöckchen aus dem Schnee auf leicht gebogenem Stengel. Denn ihr Gesicht blieb immer blaß, ungeachtet der Lust, die in diesen Abenden um sie her schwärmte.

Viele von den jungen Menschen, die zu unserer Bande hielten, entsprachen nicht ganz dem Bilde, das Flore mit ihrem Plan verbunden haben mochte, indem sie nur ein platt fideles Wesen zu entfalten im stande waren anstatt der bacchantischen Ungebundenheit, die die weltfremde Phantastin gern vor ihren Augen als ein schönes, tiefsinniges Gepränge entfesselt gesehen hätte. Doch war unter ihnen einer, der wenigstens durch regelmäßige und sehr eindrucksvolle Schönheit gut an seine Stelle paßte; außerdem beschäftigte er durch diese Äußerlichkeit so sehr, daß man gar nicht dazu kam, sich über seine sonstigen Eigenschaften klar zu werden. Diesen pflegte sie mit Entzücken zu betrachten, was sie nicht sonderlich verhehlte, vielmehr flüsterte sie mir häufig zu: »Sieht er nicht aus wie Paris? wie Dionysos? O es geht nichts über Schönheit! Das Geheimnis der Welt liegt irgendwie in der Schönheit. Denn wenn man etwas Schönes betrachtet, so weiß man alles, nur leider in einer anderen Sprache, als die wir sprechen können.« Ob das Mädchen begriff, daß ich die reizenden Umrisse ihrer verschleierten Seele besser erkannte als die anderen, oder ob mein zur Betrachtung geneigtes Wesen ihr freudesüchtiges Gemüt beschäftigte, kurz, sie widmete mir ein besonderes Vertrauen, welches ich freilich nicht ungern gegen ein spröderes und zugleich zärtlicheres Betragen preisgegeben hätte.

Eines Abends zog mich die Tante in eine Fensternische und teilte mir mit, sie habe gewisse Nachricht, daß Florens beide Eltern gestorben seien. »Die Rosen in meinem Haar,« sagte sie, »brennen mich wie Feuerfunken, und welchen wüsten, grellen Klang ich aus dem Aneinanderklirren der Weingläser höre, das können Sie sich nicht denken. Aber wie soll ich es Floren sagen? Raten Sie, helfen Sie mir!« Unwillkürlich gingen meine Augen zu Floren hinüber, und es fiel mir ein, daß sie einem leichten Abendwölkchen gliche, das ein kaum spürbarer Windatem vom Himmel weghauchen könnte. Sie empfand meinen Blick sogleich und sah nun ihrerseits zu uns herüber, worauf ich rasch das Gespräch mit der Tante abbrach; denn es war, als könnte sie mit den Augen hören. Nach einer kurzen Weile wandte sie sich von den anderen ab, die sie gerade umringt hatten, setzte sich in eine der breiten Fensterbänke, wo sie bequem Platz hatte, winkte mich zu sich hin und sagte, indem sie den Arm um meinen Hals schmiegte: »Ich weiß wohl, daß Papa und Mama gestorben sind; Tante hat es Ihnen eben gesagt.« - »Was würden Sie tun, wenn es so wäre?« fragte ich unsicher. »Nenne mich du,« flüsterte sie, indem sie sich fester an mich lehnte, »ich bin ja eine Waise.« So unsäglich mich nun auch ihre liebliche Art gegen mich beglückte, so war sie mir in diesem Augenblick doch unwillkommen, da ich nicht wußte, wie die übrige Gesellschaft es auslegen würde, und ich machte deshalb Miene, von ihr zurückzutreten, worin sie mich auch sofort begriff. Denn sie flatterte auf wie ein Vögelchen, stellte sich mitten unter die anderen und sagte: »Habt ihr gesehen, wie ich Ludolf Ursleu umarmt habe? Darum weil ich ihm gut bin! Und nun hört zu: es sind zwei Blätter vom heiligen Baume des Lebens abgefallen. Wir wollen zu ihrem Gedächtnis trinken. Stoßt mit mir an!« Nicht alle wußten, was gemeint war, einige mochten es ahnen; der Name des Todes in diesem wilden Kreise, der ihn so oft unnützlich geführt hatte, nun ernstlich genannt, machte sofort alle verstummen, und es wurde plötzlich eine Stille, in der man ein schwaches Echo von dem noch eben vernommenen lauten Gelächter zu hören vermeinte. Ich hatte das Gefühl, als würde ich den Tod selbst durch die Scheiben blicken sehen, wenn ich mich gegen das Fenster kehrte; aber ich gewann es nicht über mich. Es erhoben nun alle die Gläser, und ein schöner, läutender Ton erscholl von dem Zusammenklingen des guten Kristalls, dann setzten wir an und tranken aus. Florens Glas war nur halb gefüllt gewesen, sie leerte es langsam bis auf den letzten Tropfen. Davon mochte es kommen, daß eine zarte Röte in ihr Gesicht stieg; ihre Augen erschienen mir größer und dunkler als zuvor, und das alles gab ihr ein fieberhaftes Aussehen, das mir bange machte. »Habt ihr gehört, wie es herrlich tönte?« sagte sie in das beklommene Schweigen hinein. »Die beiden Lebenstropfen haben das unendliche Meer berührt und fließen eins mit dem andern in die Ewigkeit hinein. Und wir wollen weiterleben und sie nicht beweinen. Geht jetzt, nur Ludolf Ursleu soll noch eine Weile bei mir bleiben.« Alle verabschiedeten sich sogleich, denn die seltsame Todesfeierlichkeit hatte trotz aller früheren Prahlereien die unbefangene Lustigkeit zerstört und ich blieb allein mit der Tante und Floren.

Der rasch genossene feurige Wein und die ungewöhnlichen Eindrücke dieses Abends hatten mein Blut in Bewegung gesetzt, daß es, anstatt in dem gewohnten bleiernen Flusse zu fließen, zu meinem eigenen wohligen Befremden in kühnen Kaskaden sich überstürzte. Ich sah mich vor Floren hinknieen, ihre weißen Hände mit einer für diese zerbrechlichen Gebilde fast bedrohlichen Inbrunst an die Lippen pressen, und hörte mich mit bestrickender Wärme ihren Namen wiederholen. Diese plötzliche Anwandlung schien dem zarten Wesen weder willkommen noch unwillkommen zu sein, sie legte wieder wie vorhin, indem sie sich sachte vorbeugte, den Arm um meinen Hals und sagte: »Du weißt ja, daß ich dich nicht liebe, Ludolf. Ich liebe euch alle nicht, euch Männer, aber wenn du mir verhilfst zu leben, will ich dir gut sein, soviel ich kann, und niemandem mehr als dir.« Da ich betroffen schwieg, fuhr sie zu sprechen fort und klagte: »Ihr wißt es, daß ich sterben muß und helft mir doch nicht. Wenn ihr mich wahrhaft liebtet, würdet ihr mich festhalten und mich nicht in den tiefen schwarzen Brunnen der Vergangenheit fallen lassen, vor dem ich mich fürchte.« Inzwischen hatte sich die Tante zu ihr gesetzt und umschlang sie mit großer Zärtlichkeit, während sie sagte: »Kind, du bist überregt. Diese Weise zu leben ist nicht die rechte für dich. Du solltest dir vor einem natürlichen Schmerz nicht so sehr grauen lassen. Weine doch um deine Eltern, weine dich aus! Die erstickten Sorgen und Tränen sind es, die dich beängstigen.« - »O Tante, du weißt es nicht,« sagte sie mit leidenschaftlichem Ernste, wie ich ihn noch nie an ihr wahrgenommen hatte. »Weinen könnte ich, aber nur um mich. Sie haben doch gelebt! Aber ich, nun ich erwachen wollte, muß ich fort. Könnte ich ein häßlicher, kriechender Käfer sein, wie gerne wollte ich, wenn ich nur in der lieben warmen Luft bleiben dürfte, unter der guten Sonne, die ich so liebe.« Sie schien mir in diesem Augenblick von so unvergänglich hinreißendem Leben durchleuchtet, daß ich mit aufrichtiger Überzeugung ausrief: »Flore, du wirst nicht sterben! Du kannst nicht sterben! Wer hat dir den wahnsinnigen Glauben eingegeben?« Der erhabene Glanz war nun aus ihrem Gesicht gewichen; mit demütigem, süß geheimnisvollem Lächeln sagte sie: »Mein Apfelbäumchen blüht zum zweiten Male, da es jetzt September ist. Daher weiß ich es. Ehe es ausgeblüht hat, werde ich tot sein. Und ich bitte euch, macht dann einen vollen Kranz aus den Zweigen, die noch blühen werden, und setzt ihn mir auf, deswegen weil sie so schön sind, und weil ich so viele Tränen darauf geweint habe, obwohl ihr alle meint, Flore könne nicht weinen.« Die Tante sah mich an, und wir schienen uns zu sagen, daß wir ihren Worten Glauben schenkten, obgleich wir sie für törichten Aberglauben ausgaben. Aber ihre Erscheinung hatte etwas von einem Traum an sich, der nicht dauert, der, während man die Augen schließt und wieder öffnet, verschwunden sein kann, ja, wenn ich sie nicht alle Tage gesehen hätte, hätte ich mir wohl einreden können, sie sei nur ein Märchen, das ich einmal als kleiner Junge gelesen und mit meiner Phantasie in die Wirklichkeit hineingezaubert hätte. Diese schmerzhafte Empfindung, daß sie wirklich ihren Eltern werde nachsterben müssen, beengte mich so, daß ich es nicht zu verbergen wußte und es für besser hielt, mich zu entfernen. Ich reichte dem Mädchen die Hand und sagte: »Flore, habe keine Furcht vor dem Brunnen, ich halte dich fest. Siehst du, so!« fügte ich hinzu, indem ich ihre Hand ein wenig in meiner zusammenpreßte. Das schien ihr Vergnügen zu machen, denn sie lächelte treuherzig und versuchte mit ihren winzigen Fingern den Druck zu erwidern.

Als ich am Morgen in das Lelallensche Haus kam, um nach Florens Ergehen zu fragen, empfing mich die Tante allein und teilte mir mit, daß sie noch am selben Tage mit Floren verreisen wolle. Wohin, sei ihr gleich, das Mädchen verlange fort aus der Stadt und aufs Meer, und so würden sie mit dem nächsten Schiff, das sie erreichen könnten, das Festland verlassen. Auf dem Meere wolle sie sterben, habe Flore gesagt, denn dann würde sie eine Möwe und könne Tag für Tag über den dunkelgrünen Wellen auf und ab blitzen. »Dergleichen seltsame Dinge,« fügte die Tante hinzu, »hat sie ihr Leben lang im Munde geführt, und man ließ sie gewähren, weil es lieblich anzuhören war.« Sodann rückte sie näher zu mir und sagte leise: »Wir kommen nie wieder, darauf richte ich alles ein. Das Kind wird sterben, und ich gehe nach Amerika, denn in dies Haus will ich nicht mehr zurück.« Es überlief mich ein Schauer, wie es uns zu gehen pflegt, wenn sich einmal die Falten des Vorhangs, der die Zukunft verhüllt, verschieben und wir einen Blick auf das werfen können, was ein weises Gesetz uns ewig verborgen halten will. »Der Tod,« fuhr die Tante noch leiser fort, »ist schon in ihr. Aber ihre Seele entwischt ihm noch. Er ist hinter ihr, wie ein Geier ein Lerchlein oder sonst einen winzigen Vogel verfolgt, und oft meine ich fast, ich sähe sie flattern mit immer matterem Flügelschlage. Deswegen will sie auch fort und aufs Meer, weil sie sich einbildet, die starke Seeluft trage ihre erlahmenden Schwingen noch eine Strecke weiter.« - »Laßt sie mich sehen,« bat ich. Indessen wurde mir der Bescheid, daß sie mich nicht mehr begrüßen wolle. Die Bande vom heiligen Leben, ließ sie mir sagen, möge sich in diesen Räumen, zu denen die Tante mir den Schlüssel gab, wie sonst versammeln. Wenn die Nachricht von ihrem Tode käme, sollten wir vom edelsten Wein aus dem Keller holen, die Gläser bis zum Rande füllen, anklingen lassen und zu ihrem Gedächtnis trinken. Das solle ihr Grabgeläut sein. Dann sollten wir die Gläser, aus denen wir getrunken hätten, zerbrechen und ihrer nicht mehr gedenken.

Aber ich gedenke ihrer noch oft, und zuweilen am Abend wähne ich das luftige Seelchen auf einer Felsenkante am Berg gegenüber halb sitzen, halb schweben zu sehen, weiß wie Mondschein, und mir sehnsüchtig zunicken, bis es sich auflöst und schwindet und als ein goldener Tropfen leise klingend wieder hinabfällt in den schwarzen, grundlosen Brunnen der Vergangenheit.

*

 


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