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IV

Ich habe noch nichts von meinem Urgroßvater gesagt. Wenn, wie ich später einsah, unsere ganze Familie nicht in dies Jahrhundert hineinpaßte, so stand mein Urgroßvater, der Großvater meiner Mutter, Ferdinand Olethurm, dem jetztlebenden Geschlecht vollends ganz ferne; wie er ja tatsächlich einer anderen Zeit entsprossen war, da man noch nichts vom neuen Deutschland, Franzosenhaß und sozialer Frage wußte. Sein vaterländisches Gefühl galt einzig seiner hansischen Vaterstadt, die er so im Herzen hegte, als habe er selbst Steine zu ihrem Aufbau herbeigetragen. Obwohl er insofern ein echter Patrizier nach der alten Weise war, so besaß er doch eine so merkwürdige Beweglichkeit des Geistes, daß ihm nichts Neues, mochte es auch noch so weit außerhalb des Gesichtskreises seiner Jugend und seines Mannesalters liegen, unverständlich oder gar gleichgültig war. Was an ihm so äußerst erfrischend und wohltuend für die Jungen war, war dieses, daß er nie ein Ereignis oder eine Idee zuerst vom moralischen Standpunkt aus betrachtete, wie das von einem so alten und ehrwürdigen Manne vielleicht manche erwarten würden. Wenn ihm ein Mensch gefiel, so hätte er sich füglich als ein Strauchdieb und Pirat entpuppen können, mein Urgroßvater hätte schon eine Erklärung dafür gefunden. So groß war seine Fühlung für das Leben des Herzens; denn was in der Welt geschieht, das ist ja doch auch im letzten Grunde erklärlich, ja notwendig. Ferdinand Olethurm hätte einer Erklärung aber auch andernfalls entraten können und hätte frisch zugeliebt und gehaßt, wie es ihm ums Herz war. Dadurch machte er weniger den Eindruck abgeklärter Weisheit, als den unerschöpflicher Jugendkraft und unzerstörbarer Eigenart, und damit beherrschte er die Menschen und bannte sie unter seinen Einfluß.

Mich und Galeiden liebte er über die Maßen, sie wohl noch etwas mehr als mich; einesteils vielleicht schon deshalb, weil sie ein Mädchen war, dann aber auch weil sie bei ihrer großen Weichheit zuweilen eiserne Härte und Festigkeit zeigen konnte, die ihm reizend erscheinen mochte wie eine Mandel im Grießpudding. Überhaupt galt sie für ein merkwürdiges Kind, obschon ich nicht zu sagen wüßte, woran das lag. Ebensowenig wüßte ich zu sagen, warum jedermann in unserm Hause ein so unabweisbares Bedürfnis nach ihrer Gegenwart hatte, da es vorkam, daß man derselben gar nicht gewahr wurde, wenn sie auch eine Stunde lang mit einem im selben Raume war. Meine Eltern konnten sich nicht entschließen, sie, wie man es der Sitte gemäß mit den Töchtern macht, in eine Pension zu geben; anstatt dessen wollten sie, um sich doch etwas an die geläufigen Erziehungsgrundsätze ordentlicher Leute zu halten, eine Französin ins Haus nehmen, von der Galeide die scheu verehrte Sprache der übrigens verhaßten Nachbarn erlernen sollte.

Unter den jungen Mädchen, die auf dieses Gesuch antworteten, war eine mit Namen Lucile Leroy aus der welschen Schweiz. Es war damals mehrere Jahre her, seit ich in der Schweiz gewesen war, aber das Bergland lag noch immer in meiner Erinnerung da schön und fleckenlos im Sonnenstrahlglanze, und es sagte mir ungemein zu, daß ein Mädchen aus jenen wunderbaren Gegenden in unseren traurigen Norden kommen sollte. Meine Eltern hatten stets Lust zu etwas Besonderem, und ein Schweizer war für uns etwas Rares wie dort oben unsere Austern oder eine pommersche Gänsebrust. Galeide sagte nicht viel dazu, obwohl es sie besonders anging; es schien ihr aber mehr leid als lieb zu sein. Es wurde nun ausgemacht, daß die Lucile zu uns kommen sollte; alles ging so einfach von statten, daß man nicht am allerkleinsten Anzeichen bemerken konnte, wie verhängnisvoll diese Wahl für uns werden sollte. Denn zugleich mit den zarten Mädchenfüßen setzte das Schicksal seine eherne Sohle auf unsere glatte Schwelle und trat verhüllt und furchtbar mitten in unser gemächliches Phäakentum. Nicht daß von Lucile selbst irgend ein Unheil ausgegangen wäre, noch daß es sich überhaupt schon in nächster Zeit verkündet hätte. Sie wurde von meinen Eltern mit einer weitherzigen Liebenswürdigkeit empfangen, wie sie wohl nicht vielen Mädchen in solcher Stellung geboten wird. Man bemerkte aber bald an der Weise, wie sie es aufnahm, daß sie das wohl verdiente. Klug und tätig wie sie war, war es ihr ein leichtes, das zu leisten, was von ihr erwartet wurde, und in diesem Bewußtsein betrug sie sich im übrigen wie ein willkommener Gast, machte niemanden durch erzwungene und augenfällige Demut unglücklich, sondern genoß die Freundschaft, die sie empfing, und vergalt sie durch glühende Liebe und Anhänglichkeit. Sie war lebhaft, wußte immer von anregenden Dingen zu sprechen und, was meinen Eltern das Erwünschteste war, sie besprach sie in einer uns fremden Weise und stellte sich meist auf solche Standpunkte, die wir zu übersehen pflegten. Denn sie war in ganz anderen Kreisen und Verhältnissen aufgewachsen. Was wir unbewußt in uns aufgenommen hatten, die vielfachen Bildungseinflüsse einer großen Stadt, danach strebte sie mit Hintansetzung und Unterschätzung der Natur in bewußter, planvoller Weise; einen reichgebildeten Geist achtete sie über alles und suchte sich einen solchen mit achtunggebietendem Eifer und Fleiß anzueignen. Alles was sie bei uns fand, entzückte sie: die weiten hohen Räume unseres Hauses, die darin herrschende Anordnung, die mehr auf das Schöne als auf das Nützliche zielte, und unsere ganze Art zu leben, von der sich ungefähr dasselbe sagen ließ. Aber so sehr dies sie bezauberte, blieb sie doch dabei, mehr als sie wissen mochte, sie selbst und konnte den Zaun, der den wohlgepflegten Blumen-, Obst- und Gemüsegarten ihrer Seele einhegte, nie völlig durchbrechen. Infolgedessen mißbilligte sie manches, was bei uns geschah und äußerte es mit einem Freimut, der meinen Eltern umso besser gefiel, als sie sich nicht danach zu richten brauchten. Sie hörten gern zu, wenn sie in beredter Predigt ihre Grundsätze entfaltete und fingen sogar an zu bedauern, daß Galeiden eine solche Art zu reden und zu denken abgehe. Denn Galeide sprach wenig von Grundsätzen, hatte auch keine, oder wenn sie einmal äußerte, daß sie dies oder das gut oder schlecht fände, dies oder das tun oder nicht tun würde, sagte sie es kurz und derb, oft in unerhörten Ausdrücken, die sich freilich, von ihrer sanften Stimme getragen, weniger anstößig ausnahmen, als wenn ein anderes Mädchen sie gebraucht hätte. Immerhin gedieh mir diese Gewohnheit zum Ärger.

Trotzdem es Galeide mit Kummer empfand, wie sehr das interessante, fremdartige Wesen unsern Eltern einleuchtete, ließ sie doch Lucile die Eifersucht nicht entgelten; ich muß das als einen stolzen und würdigen Zug ihres Charakters anführen. Der Altersunterschied von fünf oder sechs Jahren machte sich zwischen den beiden Mädchen verhältnismäßig wenig bemerkbar. Ich erinnere mich, daß man überhaupt häufig dazu kam, mit meiner Schwester, die doch in mancher Hinsicht noch ein tolles und höchst unvernünftiges Kind war, wie mit einer reifen Person zu reden. Sie waren wie Schwestern miteinander, nein, weit inniger als solche gemeinhin zu sein pflegen. Galeide eiferte Lucilen sogar ein Unmerkliches nach und überhäufte die Fremde mit zarten, liebenswürdigen Zeichen ihrer Zuneigung. Lucile erwiderte diese Liebe nicht minder schwärmerisch, ja, sie übertraf Galeiden vielleicht noch darin. Mir gegenüber äußerte sie das zuweilen, wenn ich Galeiden einen zu geringen Willen zum Guten zur Last legte, den ich nebenbei gesagt nicht nur selbst nicht besaß, sondern damals sogar für etwas Verwerfliches hielt an einem Manne. »Sie mag ihn nicht haben,« sagte Lucile, »aber warum auch? Sie ist gut. Du weißt, daß es das Wesen des Genies bezeichnen soll, daß es nicht die bestehenden Gesetze befolgen muß, sondern in dem was es tut, selbst der Welt Gesetze gibt. Ein solches Wesen wird Galeide sein, und das ist auch das Geheimnis des unwiderstehlichen Zaubers, den sie ausübt.« Dies schien mir eine ungeheuerlich übertriebene Bemerkung zu sein.

Lucile und ich nannten einander du. Sie behandelte mich mitunter sehr als Knaben, was ich mir indessen nicht gefallen ließ. Und es glückte mir auch, mich auf eine höhere Staffel ihrer Achtung zu schwingen dank meiner Belesenheit und einer leidlichen Regsamkeit meines Geistes, wodurch es mir möglich wurde, ihr in den schöngeistigen Diskussionen, die sie liebte, ein willkommener Partner zu sein. Ehe sie da war, hatte ich mir eingebildet, sie müsse aussehen wie die Kordula vom Wallensee, obgleich das ein unbegreifliches Naturspiel gewesen wäre. Diese Vorstellung rührte mein Gemüt in angenehmer Weise, trotzdem ich in der Liebe bereits anfing, ganz andere und weniger erbauliche Wege zu gehen. Ich söhnte mich aber bald damit aus, daß Lucile nicht Kordula war; denn sie machte Eindruck auf mich, und es schmeichelte mir, daß sie sich nicht ungern mit mir beschäftigte. Ihre Gegenwart hielt mich in wohltätigen Schranken, wenigstens insofern, als ich die Folgen meines Leichtsinns zu unterdrücken trachtete. Wenn ich mit dem leisesten Anflug eines Rausches oder in der jämmerlichen Stimmung, wie sie den übertriebenen Schlemmereien junger Leute sich anschließt, zu Hause erschien, so zögerte sie nicht, mir ihre Mißbilligung und Verachtung in scharfer Weise zu zeigen. Ich wies das zwar mit anmaßender und unliebenswürdiger Empfindlichkeit zurück, aber doch fürchtete ich solche Zwiste und gab mir Mühe, die Anlässe dazu zu vermeiden. Im Grunde besserte ich mich freilich nicht, dazu war ihr Einfluß nicht stark genug. Wie hätte das auch sein sollen? Ich gab jedem Anstoß nach, ob er zum Guten oder zum Bösen lockte, wenn er nur in einer Weise ausgeübt wurde, die mir zusagte. Ich wollte ein Weltmann sein und war ein Tor; einer der zu leben weiß, wollte ich sein und lernte nichts als frühzeitiges Absterben. Ich glich dem Hunde, der, nach dem Spiegelbilde seines Knochens schnappend, ihn selbst ins Wasser fallen läßt und nicht mehr findet.

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