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XXIX

Wir waren nun wieder in den gewöhnlichen Tageslauf zurückversetzt, und wenn es immer schwer ist, sich nach einem Traum, sei es nun ein heiterer oder düsterer, wieder in die Wirklichkeit zu finden, war es umsomehr für uns so, die wir nichts als quälende Sorgen wiedererkannten. Die Hauptsache war indessen schon vorüber, ohne daß wir danach gefragt oder daran gedacht hätten; denn Onkel Harre hatte sein Amt niedergelegt an eben dem Tage, wo Heileke, das Kind, noch für unrettbar im Spitale lag. Für uns, die wir die Vorgänge nur wie eine Geschichte anzuhören brauchten, war dies Vorbei eine willkommene Nachricht, gleichsam als ob nun ein neues Kapitel beginnen könnte, wo von schöneren Dingen die Rede wäre. Ganz anders war es für Onkel Harre, der alle Kraft hatte zusammenraffen müssen, um die Ehre seines Namens zu retten, so weit das möglich war durch würdiges Ertragen des selbstverschuldeten Unglücks, nun aber plötzlich zu Boden stürzte, wie im Kriege ein zu Tod verwundeter Fähnrich, wenn der Ansturm der Feinde zurückgeschlagen ist, sinkt und seine Fahne dem Nächsten reicht, daß nun ein anderer das gerettete Wahrzeichen des Heeres mutig in den Lüften flattern lasse.

Man müßte wissen, wie groß das durch die Seuche herbeigeführte Elend in unserer Stadt war, um zu begreifen, welche Last des Vorwurfs auf Onkel Harres Seele lag. Es war nicht nur, daß hohe Summen ausgegeben werden mußten für alles, was zur Pflege der Kranken und an Vorsichts- und Schutzmaßregeln angeschafft und eingerichtet werden mußte, sondern das war das Schlimmste, daß der Verkehr mit uns gänzlich aufhörte, der Handel, die Flamme unseres Herdes, erlosch, so daß nicht einmal etwas wieder einging zum Ersatze für das, was in so ungewöhnlich hohem Grade verausgabt wurde. Es kam dazu, daß gerade von den Begüterten sich viele entfernt hatten, die doch immerhin diesem oder jenem zu verdienen gegeben hätten. Es versteht sich von selbst, daß unsere verpestete Stadt von Fremden nicht mehr besucht, im Gegenteil von jedermann gemieden wurde. Alle öffentlichen Anstalten, wo sich Menschen zum Vergnügen oder zur Belehrung zu versammeln pflegen, wurden aufgehoben oder eingestellt; es gab kein Theater, keine Konzerte, keine Vorträge, keine Schulen, wodurch auch wieder viele Personen in Not gerieten. Man begann den Schaden, der unserer Stadt erwachsen war, aufs genaueste zu berechnen, und es fand sich, daß auf jeden Tag Summen von erschreckender Größe fielen. Da man von nichts anderem reden hörte, als von diesen unseligen Zuständen und in allen Zeitungen davon las, so konnte Onkel Harres Gemüt unter der unablässigen Wiederholung von Tatsachen, die für ihn die furchtbarste Anklage bedeutete, sich auch nicht für Trost und Beschwichtigung eröffnen. Es war aber dies nicht allein, was ihn den Vorsatz fassen ließ, seinem Leben ein Ende zu machen. Nach allem, was geschehen war, seinen Ruf vernichtet und seine Kräfte zerstört hatte, konnte er sich nicht mehr als erwerbsfähigen Mann betrachten. Dies wäre schon genug gewesen, um einen so tätigen, strebsamen Geist aufs unerträglichste zu peinigen, selbst, wenn er auf Gelderwerb nicht hätte bedacht sein müssen. Nun aber war sein Vermögen im Zusammenhang mit dem allgemeinen Niedergang unserer Verhältnisse derartig zusammengeschmolzen, daß ihm, abgesehen von dem allerdings beträchtlichen Teil, der in den Wasserwerken war, nur soviel blieb, wie eine kleine Familie zu einem leidlich behaglichen Leben gebrauchte. Er selbst hatte indessen niemals verstanden, sich einzuengen, und trotz allem guten Willen zu jeder Entsagung, die die Vernunft ihm riet, hätte er sich das jetzt nicht mehr aneignen können, wie er auch wohl wußte; also hätte er nichts tun können als das Vermögen, das seiner Frau und seinem Kinde noch auf lange Zeit dienen sollte, zu verringern, anstatt, wie er so gern gewollt hätte, es zu vermehren. Er, der früher der allseitig Belebende, Helfende, Kräftige gewesen war, sollte sich als eine Last, ja, als einen Stein des Anstoßes für seine Familie fühlen lernen: das wäre das Ende hoher Hoffnungen, der schmähliche Ausgang eines im Überfluß des Guten und Schönen begonnenen Lebens gewesen.

Wie ich schon früher gesagt habe, hatte mein Onkel sich schon seit Jahren mit der Meinung getragen, seine Geisteskräfte ließen nicht nur allmählich nach, sondern gingen geradezu einer Zerrüttung entgegen, was sein aufgeregtes Wesen auch uns auf Augenblicke glaublich machte. Ich weiß nicht, wieviel er sich hiermit in der letzten Zeit beschäftigt hatte, und ob er wirklich Symptome an sich wahrgenommen hatte, die ihm ein solches Unglück gewisser hätten machen müssen. Ezard gegenüber aber hatte er sich, wenn auch nicht eingehend geäußert, doch Andeutungen gemacht, die diesem die Augen öffneten über das, was kommen mußte. Ich erfuhr aber damals nichts von meinem Vetter, manches besprach man nicht, weil es nicht über die Lippen wollte, solange der Ausgang doch noch ungewiß blieb. Es war eine Zeit, in der wir handelten, litten und lebten; jetzt ist die Zeit, wo ich sinne und erzähle.

Es vergingen nach der Genesung des Kindes Heileke einige Tage, während welcher Onkel Harre bald in sich versunken dasaß wie ein Abwesender, bald durch unerträgliche Gereiztheit und aufgeregtes Wesen seine Umgebung und am meisten sich selbst peinigte. Das Unglück wollte, daß ihm eine Flugschrift in die Hände kam, in welcher jener junge Doktor Wittich über das Entstehen der Cholera in unserer Stadt berichtete, und zwar in einer Weise, welche sie zu einem persönlichen Angriff auf Onkel Harre machte. Darin war allerdings nichts Unwahres gesagt, nur zeigte sich Onkel Harres Persönlichkeit in einem durchaus entstellenden Lichte, als ob er ein so kaltlächelnder, cynischer, auf Kosten der duldenden Armut sich mästender Tyrann gewesen wäre, als welchen ein Sozialist sich den Besitzenden vorzustellen liebt. Das war gerade deswegen schlimm, weil es, obgleich völlig unzutreffend, sich nicht widerlegen ließ, indem an den Tatsachen nichts verdreht war, und einzig von den darstellenden Worten diese zweideutige Beleuchtung ausging, die nicht zu haschen und festzustellen war. Wir bemerkten wohl, daß Onkel Harre die Schrift gelesen hatte, und hielten es auch unter uns für das Beste, mit ihm davon zu reden, gewannen es aber nie über uns, sowie er da war mit der unnahbaren Würde seines Grams im Gesicht. Ich wandte mich, im Innersten über den häßlichen Angriff des Rheinländers empört, an Ezard mit der Anfrage, ob wir nicht in irgend welcher Art für Onkel Harre und die Ehre unseres Namens eintreten sollten, da es nicht immer vornehm, sondern zuweilen feig und faul sei, eine erhaltene Beschimpfung schweigend hingehen zu lassen. Er erwiderte mir, sein Vater habe den bestimmten Wunsch ausgesprochen, daß alles derartige unterbleibe. Mehr fügte er nicht hinzu, es schien mir aber, als ob er noch besondere Empfindungen und Gedanken habe, die er mir nicht mitteilen dürfe oder wolle, die ihn selbst aber vollständig beschäftigten. Wenige Tage darauf lud Onkel Harre mich und den Urgroßvater ein, den Abend bei ihm zuzubringen, da er die Genesung seines Kindes feiern wolle. Wir sahen mit Erstaunen und Wohlgefallen, wie verändert mein Onkel sich an diesem Abend darstellte: mit demselben Schwunge der Haltung, die mich an ihm entzückt hatte, als ich noch ein Junge war, mit dem klugen Leuchten der Augen, das seine geistreichen Worte so anmutig begleitete, ja, bis auf die Gewohnheit, seine dichten weißen Haare mit einer raschen Bewegung der Hand aus der Stirne zu streichen, war er wieder die bezaubernde, lebensvolle Persönlichkeit, die er in seinen Mannesjahren gewesen war. Nun aber, da er sie sich gleichsam wiedererobert zu haben schien, und da wir alle wohl wußten, welche ungeheure Last er mit Anstrengung von sich abgeschüttelt haben mußte, ehe er sich so vor uns zeigen konnte, gefiel er nicht nur, sondern riß zur Bewunderung hin, und es gereichte mir zur Genugtuung, daß auch Eva einen ähnlichen Eindruck empfing wie ich und vielleicht zum ersten Male seit langer Zeit wieder fühlen mochte, was sie zu dem so viel älteren Manne hinzog, als sie seine Braut wurde. Heileke, das Kind, begrüßte die Veränderung mit unbefangenem Jubel, den sie zwar nicht sowohl laut äußern konnte, da sie noch schwach war und sich still halten mußte, als durch ihre selig strahlenden Augen ausdrückte, mit denen sie ihren Vater, wo er ging und stand, begleitete; von Zeit zu Zeit rief sie ihn mit ihrem feinen Stimmlein zu sich hin, worauf er auch sogleich herbeieilte, neben ihrem Sessel niederkniete und sich von ihr umarmen und küssen ließ. Alles war zur Fröhlichkeit gestimmt, mich beeinträchtigte einzig der Ernst, den ich in Ezards Mienen wahrnahm, und der trotz aller guten Eindrücke nicht weichen wollte, sich vielmehr immer steigerte. Daneben aber sah man ihm die tiefe, unbegrenzte Liebe an, die er für seinen Vater hatte, obgleich er nicht viel Wesens davon machte; aber in jedem seiner Worte und seiner Gebärden, die seinem Vater galten, drückte sich zarteste Schonung und zugleich Verehrung aus, was dieser auch bemerkte und dankbar zu empfinden schien. Der Abend verging uns in angenehmer Weise, denn ein jeder von uns war bemüht, alles Bittere, was uns die letzten Zeiten so schwer gemacht hatte, zu umgehen und dem andern wohl und nicht wehe zu tun, und daß ein jeder dies Bestreben am andern spürte, hatte in sich schon etwas Beglückendes. Es war spät, als wir aufbrachen, und wir trennten uns freundlich, ja, nicht ohne Heiterkeit. Die bestimmte herzliche Art, mit der Onkel Harre von uns allen Abschied nahm, hätte uns auffallen können, wenn nicht sein schönes freies Wesen uns den ganzen Abend über an eine gehobene Stimmung gewöhnt gehabt hätte. Er begleitete uns an die Haustür, dort gab er Ezard noch einmal fest die Hand und lächelte; dessen Gesicht blieb aber so ernst wie zuvor und schien mir sogar eine schmerzliche Klage auszudrücken, worüber ich indessen in dem Augenblick nicht nachdachte.

Am anderen Tage kam uns die Nachricht von Onkel Harres Tode; mit einem Revolverschuß hatte er sich das Leben genommen. Auf einmal sah ich nun die Ereignisse des vergangenen Abends in anderem Lichte an. Ich begriff vor allen Dingen, daß der wunderbare Mensch den Entschluß mit klarem Blick gefaßt hatte und ebenso sicher und ruhig von uns hatte scheiden wollen. Nichts hätte mich so unsäglich erschüttern können wie dieses Betragen. Er erschien mir wie ein Höherer, der Edelsten einer, und noch heute sage ich mir, daß er im Tode so genannt zu werden verdiente. Durch die Art, wie er in den Tod gegangen war, hatte er unserem Schmerze jede Bitterkeit und jedes Übermaß genommen; denn er hatte uns das Gefühl einzuflößen vermocht, daß er um das, was er mit dem Leben verliere, nicht zu beklagen sei, daß er aber etwas zurückgewinne, um das er sich gebracht hatte, nämlich den Frieden im Innern und den ehrenden Anteil der besseren Menschen.

Da ich mich mit Ezard allein in Gegenwart der Leiche befand, entsann ich mich des vergangenen Abends mit Deutlichkeit, und ich richtete, indem ich einem plötzlich in mir aufsteigenden Gefühle nachgab, die Frage an ihn, ob er von der Absicht seines Vaters unterrichtet gewesen sei. Er erwiderte: »Gewußt habe ich nichts als das, daß es so sein mußte, und daß er selbst es einsah. Ich wußte, daß es schon seit Wochen in ihm war, und als ich ihn gestern auf einmal so klar, heiter und stolz vor mir sah, fühlte ich: jetzt hat er sich gefaßt; jetzt wird er es tun.« Ich konnte mich eines Grauens nicht erwehren und fragte nicht ohne Vorwurf: »Du ahntest oder wußtest, was in deinem Vater vorging, und hieltest ihn nicht zurück? Du verkehrtest mehr und inniger mit ihm als wir alle, er deutete dir vielleicht an, was er tun zu müssen glaubte, und du redetest es ihm nicht aus, sondern sahest zu, wie er sich in den Tod stürzte?« - »Ja,« sagte Ezard, »das tat ich, weil es so sein mußte. Er hat den Teil seines Vermögens, der in den Wasserwerken ist, der Stadt vermacht und so seine Schuld abgetragen, soviel in seiner Macht war. Lebend hätte er nicht wieder gutmachen können. Denn was wäre er gewesen in den Jahren, die er noch gelebt hätte? Ein hinfälliger, nutzloser, geschwächter Greis, ein krankes schädliches Glied am Leibe unserer Familie. Daß er das erkannte und sich und uns davor beschützte, war noch einmal seiner schönsten Jahre würdig. Hätte ich meinen Vater, den ich liebe, daran hindern sollen, wenn er lieber wie ein Held von uns scheiden wollte, anstatt so schmählich zu leben?«

Obwohl in diesen Worten vieles war, was mich ergriff und überzeugte, so erschien mir Ezard doch, da er sie so ruhig, wenn auch nicht ohne Erregtheit sagte, unfaßbar und unheimlich, und es kam mir eine Erinnerung an einen ähnlichen Augenblick, wo wir an der Leiche meines unglücklichen Vaters gestanden hatten, und er jene seltsamen Worte geflüstert hatte: es ist der erste. Ich entsetzte mich so über den Einfall, daß mein Herz heftig zu schlagen anfing, und indem ich Ezard anblickte, war es mir, als sähe er meine Gedanken, was auch wohl möglich war, da ich durch eine Gedankenverbindung darauf gekommen war, die ihm vielleicht noch näher lag als mir. Es war ein heißer Drang in mir, es auszusprechen, und doch zitterte ich davor. Plötzlich hörte ich mich mit überlauter Stimme die Worte hervorstoßen: »Ezard, ist dies der zweite?« worüber ich selbst ein solches Grauen empfand, daß ich Ezards Antwort gar nicht verstanden haben würde, wenn er mir etwas entgegnet hätte. Aber er erwiderte nichts, nur konnte ich aus seinem Gesicht sehen, aus dem die Augen traurig und furchtbar zugleich auf mich blickten, daß er mich wohl verstanden hatte. Es reute mich, daß ich so Unnennbares ausgesprochen hatte; denn nun regte sich noch eine Frage in mir, die mir zwar selbst willkürlich und ungeheuerlich erschien, nämlich die: Wer wird der dritte sein? und obwohl ich mir sagte, daß ich keinerlei Ursache hatte, Ezards Traum oder Wahn so auszugestalten, konnte ich doch nicht verhindern, daß beständig eine Antwort in mir auftauchen wollte, die mich schwindeln machte, als ob ich am Rande eines jäh abfallenden Felsens stände und gerade vor mich in die Tiefe blickte. Ich rannte in den Straßen auf und ab, ich weiß nicht wie lange, während mir die Zähne vor innerem Frost aufeinanderschlugen; am anderen Tage war es mir wie ein wilder Traum, und ich dachte darüber hinweg; zuletzt vergaß ich es wieder.

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