Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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30

Bei kaltem, häßlichem Wetter und aufgeregter See besteigen die Reisenden in Haifa wieder das Boot, um zur »Orinoco« zu gelangen.

Das Meer geht hoch – und der Kahn, der einer vorsintflutlichen Barke gleicht, wird immer wieder von den Wellen zurückgeschleudert.

Die Araber, die das Boot lenken, schreien, heulen wie unsinnig durcheinander – und in das nämliche, ohrenzerreißende Gebrüll stimmen die Leute am Ufer und die vorbeifahrenden Schiffer mit ein.

Von Bord der »Orinoco« suchen Matrosen den Bootlenkern das rettende Tau zuzuwerfen – vergebens!

Das Wasser dringt in den Kahn – und die Menschen, über hundert an der Zahl, die eng gedrängt nebeneinander sitzen, beginnen ängstlich und unruhig zu werden.

Im Augenblicke höchster Erregung reißt sich ein schwarzer Ruderer die Kleider vom Leibe, springt in das Meer und erwischt endlich das Seil. Die dunkle Haut trieft – aber in einer Sekunde hat er Jacke und Hose wieder umgeworfen und sammelt ab. Der Fez füllt sich mit silbernen Münzen.

Den Matrosen der »Orinoco« gelingt es jetzt, die Barke heranzuziehen. Und nun kommt das ärgste: Es gilt, die Passagiere bis zur Schiffstreppe der »Orinoco« zu tragen, die auf und niederschaukelt.

Selbst den Beherzten wird bänglich zumute. Dicke und beleibte Damen stützt man an ihrem Hinterteil, damit kein Unglück passiert.

273 Als Toni das Fallreep emporkletterte, schoß es ihr durch den Kopf: eine einzige Bewegung – und alles ist vorbei. Doch hinter ihr stieg Benjamin Sterzel die Stufen hinauf, jeden Schritt und Tritt von ihr kontrollierend.

»Ich danke Ihnen, Herr Sterzel.«

Langsam schleppte sie sich zu ihrer Kabine. Vor der Tür trat ihr die Stewardeß entgegen.

»Hier ist ein Brief, Fräulein Wünsch, den ich Ihnen persönlich übergeben soll.«

Wortlos nahm sie das Schreiben.

Sie wußte sofort, daß es von Doktor Wanner war – und vermochte es nicht zu öffnen.

Todmüde, ohne den Mantel abgelegt zu haben, warf sie sich auf das Bett, das Gesicht in den Kissen vergraben.

So verharrte sie lange – in einem Zustande trostloser Dumpfheit, in dem es nur den einen Wunsch gibt, das Bewußtsein auszuschalten.

Was konnte er ihr sagen! . . . Und hatte es überhaupt noch einen Sinn, diesen Brief zu öffnen – zu lesen . . . Doch – doch, sagte sie leise zu sich, du mußt den Becher bis auf den letzten Tropfen leeren.

Schwerfällig erhob sie sich, und mit unsicherer Hand und erstarrter Miene löste sie den Umschlag:

»Der Mensch, der Ihnen, Toni Wünsch, diese Zeilen schreibt – macht nicht den Versuch einer Rechtfertigung. Er spürt Ihnen gegenüber lediglich den Zwang, etwas über seine Vergangenheit zu sagen, wodurch sein Wesen vielleicht deutlicher werden wird.

274 Ich heiße Ernst Göhring und komme von unten her. Bin von neun Geschwistern, die freudlos aufwuchsen, das jüngste. Von dem Augenblicke an, wo ich zu denken begann, sehe ich einen verbrauchten, kranken Vater vor mir und eine versorgte Mutter, die sich die Hände wund rieb, um uns zu erhalten.

In diesen kümmerlichen Verhältnissen, in denen die Angst um das tägliche Brot keinen Raum für Zärtlichkeiten übrigließ, bin ich vierzehn Jahre alt geworden. Ich habe nie wie andere Jungen gespielt oder in Märchen und Geschichten mich ausgelebt. Ich hatte nie den Drang, eine schmutzige Wirklichkeit durch Vorstellungen der Phantasie wegzulügen.

Und dennoch geht auch durch meine Knabenjahre ein Traum, an den ich mich klammerte wie an einen Strohhalm. Immer wieder sehe ich mich als großen Arzt und Forscher, den Körper des Menschen mit der Gier eines Abenteurers durchsuchend, fest davon überzeugt, Geheimnisse aufzudecken – und zu umwälzenden Ergebnissen vorzudringen.

Dieser so geartete Junge besitzt nicht einmal den Mut, von seinen aussichtslosen Träumen zu irgend jemandem zu sprechen.

Er kommt aus der Volksschule in den Friseurladen, läuft nach kaum zwei Jahren davon und wird in einem Krankenhause als Heilgehilfe angelernt. Er sieht von nun ab ständig Todkranke auf ihren Matratzen und frißt jede Bewegung, jeden Griff der behandelnden Ärzte.

Er stiehlt Geld, um medizinische Lehrbücher zu 275 kaufen, von denen er kein Wort versteht. Er erkennt, daß die lateinische Sprache das Abc ist, um in die Welt der Rätsel einzudringen. Der ärmste Kranke ist seines letzten Groschens nicht mehr sicher.

Die Diebstähle werden entdeckt – er läuft noch rechtzeitig davon, um nicht vor Gericht gestellt zu werden.

Und jetzt beginnt ein Hungerdasein, bei dessen Schilderung ich nicht verweilen will. Ich verkaufe morgens und abends Zeitungen und verlege mich, durch Erfahrungen gewitzigt, nur noch auf gelegentlichen und ganz sicheren Taschendiebstahl.

In den Vormittagsstunden schleiche ich mich in die Kollegs, benutze den Ausweis eines Studenten, dem das Saufen größere Freude als das Hören macht. Vervollkommne mich inzwischen im Lateinischen und Griechischen, bin in Laboratorien, Kliniken und Operationssälen von nun ab ein ständiger Gast, obwohl ich weiß, daß jede Möglichkeit, ein regelrechtes Examen zu machen, für mich ausschaltet.

Ich trainiere mich bis zu dem Grade, daß mir wenige Stunden Schlaf genügen, und lege mich in freien Minuten auf das Fälschen und Kopieren von Dokumenten und fremden Unterschriften.

Auf Grund falscher Papiere gelingt es mir, als Assistent eines hervorragenden Arztes unterzukommen. Seine Empfehlungen ebnen meinen künftigen Weg. Die ersten wissenschaftlichen Versuche lenken die Aufmerksamkeit auf mich. Ich werde Chefarzt eines Krankenhauses in einer mitteldeutschen Stadt, das nach meinen Angaben neu organisiert und 276 reformiert wird. Daneben übe ich eine bedeutende Privatpraxis aus. Mein Ruf als Diagnostiker steigert sich von Jahr zu Jahr.

Jeden gesellschaftlichen Umgang meide ich ängstlich. Dagegen bin ich skrupellos im Verkehr mit den Frauen. Es sind meistens Patientinnen, die sich mir an den Hals werfen, ohne daß es irgend welcher Anstrengungen meinerseits bedarf.

Frauen sind für mich da, um mich zu entspannen – um nach der Arbeit Atem zu schöpfen. Ich brauche sie in gewissen Erregungszuständen, um geistig wieder fruchtbar zu werden.

Ich habe außer für meine wissenschaftliche Tätigkeit nie ein starkes, innerliches Gefühl aufgebracht. Ich bin, wie ich glaube, ein Mensch, der keiner wirklichen Leidenschaft fähig ist. Unterworfen den Aufwallungen eines gesteigerten Trieblebens, besitze ich nicht die Wärme des Herzens – bin ich zu egozentrisch, um für einen anderen Menschen, oder sage ich korrekter, für eine Frau – eine echte Anteilnahme aufzubringen.

Noch einmal: Frauen sind für mich da, um mich körperlich auszulösen und mir jenen undefinierbaren Anreiz, jenen Elan zu geben, den ich für meine Forschung brauche.

In diese Zeit, in der ich glaubte, wissenschaftlichen Ergebnissen nahe zu sein, die der Medizin neue Wege weisen sollten, fällt die Katastrophe meines Lebens.

Ich war in Beziehungen zu einer verheirateten Frau getreten, deren Gatte Verdacht schöpfte und 277 die Scheidungsklage anstrengte. Bei dem Prozesse kam es in der Hauptsache darauf an, wem das Kind zugesprochen werden würde.

Ich war als einziger Zeuge geladen. Von meiner eidlichen Aussage hing das Urteil ab. Ohne jeden Gewissensbiß schwur ich, daß mein Verkehr mit der betreffenden Dame rein freundschaftlichen Charakters gewesen sei.

Die Folge davon war, daß die Klage des Mannes abgewiesen wurde; wenige Monate später jedoch kam es zu einer vollkommenen Versöhnung zwischen den beiden Ehegatten. Herr X. hatte sich mit seinem Wort verpflichtet, jetzt und für alle Zukunft jeden etwa begangenen Fehltritt seiner Frau zu verzeihen, falls sie ihm die Wahrheit eingestünde. Solchem Drucke gab sie endlich nach, ohne zu ahnen, daß nun von seiten des Mannes die Meineidsklage gegen mich erhoben werden würde.

Über dieses mein Privatvergehen wären die Menschen vielleicht hinweggekommen. Denn mein Ruf war bereits so fest gegründet, und das an sich Moralische meiner Handlungsweise hatte rein gefühlsmäßig etwas so Bestechendes, daß die öffentliche Meinung mehr als geneigt schien, den ganzen Fall nicht tragisch zu nehmen. Es gab andere Gründe, aus denen ich ein Verfahren fürchten mußte.

Ich war mir von vornherein darüber klar, daß die Staatsanwaltschaft gegen mich vorgehen würde. Und ebenso sicher stand fest, daß meine Vergangenheit bis aufs letzte durchforscht und mit allen ihren 278 Irrungen und Wirrungen ans Licht gezerrt werden würde.

Mein Absturz war unvermeidlich; denn trotz meinen wissenschaftlichen Leistungen war ich mit einem Schlage als Kurpfuscher, Betrüger und Hochstapler entlarvt, der niemals einen Doktorhut erworben, geschweige denn ein regelrechtes Examen absolviert hatte.

Der Prozeß verlief, wie ich es erwartet hatte. Er endete mit einer zweijährigen Zuchthausstrafe für einen Menschen, der laut Urteil mit einem Raffinement ohnegleichen es verstanden hatte, Behörden und Bürger zu täuschen.

Ich appelliere jetzt nicht an Ihr Verständnis, wenn ich sage, daß dieser Schlag mich menschlich nicht berührte. Er traf mich, weil er zu einem Zeitpunkt fiel, wo ich nach jahrelangen Forschungen endlich dem Resultate ganz nahe zu sein glaubte. Denn außer meiner Arbeit ist nichts in meinem Dasein entscheidend gewesen.

Der Zusammenhang zwischen mir und der bürgerlichen Welt war zerschnitten. Ich kam in eine Atmosphäre, von der ich nach wenigen Tagen todsicher wußte, ich würde sie im günstigsten Falle als ein geistig und körperlich gebrochener Mann verlassen.

Was hatten Welt und Dasein noch einen Sinn für mich, wenn meine Arbeit unvollendet blieb!

Es gelang mir, mit Hilfe von Freunden meine Wärter zu bestechen.

Alles weitere kennen oder ahnen Sie. Ich wurde gehetzt und verfolgt noch an Bord der ›Orinoco‹.

279 Und jetzt versuchen Sie, zu begreifen, wenn ich aus Furcht vor dem Klirren eiserner Ketten den goldenen Käfig vorzog.

Denken Sie an die großen und guten Augenblicke, die uns beschieden waren – und verstehen Sie, soweit ein Verstehen möglich ist, einen Menschen, der aus grenzenloser Ehrfurcht nicht den Mut aufbrachte, an sein verpfuschtes Leben Ihr Dasein, Ihre Zukunft zu binden.

Ihr

E. G.«

Toni saß regungslos da.

Die Blätter waren ihren Händen entfallen.

 


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