Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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9

Der Lehrer Sterzel saß in einem größeren Kreise. Er hatte beide Hände über seinen Schmerbauch gelegt, wie es Frauen zu tun pflegen, wenn sie in gesegneten Umständen sind.

Er sprach begeistert von dem Buch des Geheimrats Dörpfeld, das über Homers Odyssee neue Aufklärungen brachte und nachzuweisen versuchte, hier handle es sich nicht um ein Volksgedicht, sondern um das unsterbliche Werk eines Genies.

Nicht aus Gespinsten der Phantasie sei die große Dichtung entstanden – in der ungeheuren Wahrheit der Geschehnisse ruhten ihre Wurzeln. Dörpfelds Verdienst sei es gewesen, den toten Kram verstaubter Erkenntnisse weggefegt, die Fenster geöffnet und frische Zugluft hereingelassen zu haben.

»Sehen Sie, meine Damen und Herren, es ist immer das alte Lied: Wer eine neue Einsicht kündet, alte Tafeln zerbricht, wird ans Kreuz geschlagen. Aber Wahrheiten sind zäher als Lügen – sie beißen sich durch, früher oder später. Sie haben Schwerter, Sägen und heimliche Äxte, mit denen sie durch Dickicht und Gestrüpp sich schlagen. Und hinterher haben es die Dunkelmänner immer gleich gesagt; denn Gedächtnis ist eine rare Angelegenheit! Und was die Ilias und Odyssee anbetrifft . . .«

»So liegt der Kern des Gedichtes darin«, unterbrach zum allgemeinen Erstaunen der Zuhörer Doktor Wanner den Lehrer, »daß die Repräsentanten des Staates hier zum erstenmal und auf eine geradezu klassische Art porträtiert worden sind.«

107 Doktor Friedrich Sterzel blickte den Sprecher interessiert an.

»Das müssen Sie uns näher erklären, Herr Kollege – wir sind ja wohl Kollegen.«

Wanner ließ einen Moment seine unsteten Augen über die Anwesenden gleiten.

»Bedarf es da noch einer Erklärung?« fragte er, und sein Blick traf Toni Wünsch, die ganz versteckt an einem der hinteren Tische saß.

»Nämlich«, begann Wanner, »im Achill und Odysseus sind nach meinem Dafürhalten jene Urtypen dichterisch gestaltet worden, die wir in allen früheren und späteren Staatsgebilden als gefährliche Machtfaktoren in die Erscheinung treten sehen.«

»Inwiefern gefährliche Machtfaktoren?« mischte sich Herr Testini in das Gespräch.

»Achill«, fuhr Wanner fort, »verklärter Heros – in Wahrheit Mörder und Totschläger – der im Siegesrausch noch bis zu dem Grade den Sadisten herauskehrt, daß er hinter seinem Wagen den Leichnam des toten Hektor herschleift. – Ist in ihm nicht der Kriegsheld und Kriegsgeneral κατ' ἐξοχήν gezeichnet, das Idol einer mit den irrsinnigsten Vorstellungen belasteten Menschheit?! Und auf der anderen Seite Odysseus, verschlagen, verlogen, listenreich – πολύτροπος, wie ihn sein Dichter euphemistisch nennt. Mit allen Salben gesalbt, unehrlich bis in die Knochen, Ahnherr jener Gattung, die man auf den Namen Diplomat getauft hat. Hier also ist der Mensch, der die Waffen schmiedet und rücksichtslos gebraucht – dort der geriebene Fälscher, 108 für den Unaufrichtigkeit Spiel und Sinn des Lebens bedeutet. Und beide heute, gestern, morgen die gefährlichsten Feinde der Menschheit!«

Der Großindustrielle aus Düsseldorf brach in lautes Gelächter aus.

»Auch eine Deutung des homerischen Gedichtes. – Sie sind wohl Pazifist, mein Herr – scheinen nicht zu wissen, daß die Welt, solange sie besteht, einerseits auf dem Recht des Stärkeren – und andererseits auf der staatsmännischen Einsicht der Führer beruht.«

Er hatte diese Worte mit großer Selbstgefälligkeit gesprochen. Nun sah er Doktor Wanner herausfordernd an, indem er zugleich seine Augen unruhig hin und her schweifen ließ. Auf dem Gesichte seines Gegners glaubte er jetzt ein ironisches Lächeln zu entdecken.

»Wer sind Sie denn eigentlich?« schrie er mit jener Dreistigkeit, hinter der man die eigene Unsicherheit zu verbergen sucht. »Wer sind Sie?« wiederholte er, »und mit welchem Rechte stellen Sie derartige Behauptungen auf?«

»Ich bin«, entgegnete Wanner langsam, und einen Moment überlegte er, ob es überhaupt einen Zweck hätte, zu antworten – »ich bin, um mit Homer zu reden, »οὔτις« – zu Deutsch: Niemand! Dies, meine Damen und Herren, ist die nackte, ungeschminkte Wahrheit.«

Man blickte sich betreten an. In Wanners Ton hatte etwas gelegen, das die Situation peinlich machte. Man spürte vielleicht auch, daß der Großindustrielle auf eine verletzende Art diskutiert hatte – 109 und nahm im Innern für Wanner Partei, obwohl man seine Ausführungen kaum begriff – oder politisch ablehnte.

Niemand hatte ihm mit größerer Anteilnahme zugehört als Toni Wünsch – niemand angespannter gelauscht als Miß Bottchen. Aber wenn sich Toni im stillen kontrollierte, so konnte sie sich nicht verhehlen, daß weniger der Sinn seiner Worte als der Klang seiner Stimme sie gefangennahm. Sie sagte sich: dieser Mensch muß etwas Furchtbares erlebt haben, das ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und zum Widerstande gegen alles und jeden aufgereizt hat.

Miß Bottchen dagegen war vollkommen irritiert. Wie kommt er zu solchen Kenntnissen? fragte sich die ehemalige Studentin. Er zitiert den Homer, als ob er von Hause aus Philologe oder zum mindesten Akademiker wäre. Der Mensch, den sie verfolgte, hatte nie Gelegenheit gehabt, sich mit dem Urtext alter Dichter zu befassen. Sollten am Ende doch ihre Verdachtsgründe in ein Nichts zusammenfallen – sollte zum erstenmal ihr Instinkt versagen?

Sie schielte zu Wanner hinüber – aber Wanner war verschwunden – und auch Toni Wünsch hatte sich verflüchtigt.

»Diese Kanaille«, murmelte sie vor sich hin, »ist imstande, mir mein ganzes Konzept zu verderben.« Sie mußte unbedingt feststellen, ob die beiden nicht irgendwo zusammenhockten.

Als sie an Testini vorbeikam, blieb sie stehen.

»Was sagen Sie nun, mein Herr?« redete sie ihn an.

110 »Ich sage, das ist ein übergeschnappter Fisch, aus dem kein Mensch klug wird.«

»Im Gegenteil – er ist der gescheiteste Kopf an Bord – seine Formulierungen hatten Hand und Fuß – waren von Anfang bis Ende durchdacht.«

Er machte eine abwehrende Bewegung. »Ich für meinen Teil gehe Leuten dieses Schlages am liebsten aus dem Wege. Hautgout – verstehen Sie – Hautgout!«

»Mein verehrter Herr Testini, glauben Sie wirklich, die Welt sei durch die Geruchlosen auch nur um einen Schritt weiter gebracht worden? Die Abseitigen – die Verrückten sind das Salz der Erde – und glauben Sie mir, dieser Mensch, ich habe dafür einen flair, hat eine Riesenkarriere vor sich!«

Testini betrachtete sie ein paar Sekunden prüfend.

»Es fragt sich nur, was für eine Karriere! Meinen Sie, daß er durch den Strick – oder –«

»Sprechen Sie nicht weiter, mein Herr! In Ihrem eigensten Interesse bitte ich Sie, sprechen Sie nicht weiter!«

»Was bedeutet das?«

»Nichts mehr und nichts weniger, mein Herr, als daß Sie mit Ihren Äußerungen nicht nur Doktor Wanner, sondern auch eine Ihnen nahestehende Person stärker kompromittieren könnten, als Ihnen zu einem später gelegenen Zeitpunkt lieb sein dürfte.«

»Hören Sie mal, Sie stecken wohl mit meiner Tochter unter einer Decke?«

Miß Bottchen fixierte ihn mit unsagbar hochmütiger Miene.

111 »Bin ich für die Liebesaffären Ihres Fräulein Tochter verantwortlich?«

»Was wollen Sie damit sagen?« brauste Herr Testini auf.

»Ich will damit sagen,« entgegnete sie scharf, »daß, sollte Doktor Wanner sich nach einer anderen Seite binden, eine gewisse junge Dame eine Handlung begehen könnte, deren Folgen Sie, Herr Testini, niemals verwinden würden.«

Einen Moment weidete sie sich an seiner Verblüffung, dann wandte sie ihm den Rücken, ohne ihm noch zu einer Frage oder einer Entgegnung Zeit zu lassen.

Zu ihrem Unglück lief sie der Gräfin Plessen in die Arme.

»Haben Sie mit angehört, was dieser Bursche – klang das nicht – –?« sie schnappte nach Luft, »nein, ich finde partout keinen passenden Ausdruck für dieses Benehmen, Miß Bottchen! Was wollte er eigentlich – kein Wort habe ich verstanden!«

»Wenden Sie sich an Herrn Sterzel, Frau Gräfin«, sie wies bei diesen Worten auf den Lehrer, der die Ellbogen auf den Tisch gestützt hatte und bei Nennung seines Namens emporfuhr.

»Darf ich Sie fragen, mein Herr, hatten die Reden des Herrn Doktor Wanner überhaupt irgendwelchen Sinn und Verstand?«

Der Lehrer lächelte.

»Es war eine sehr extreme und leidenschaftliche Interpretation des Homer. Aber sofern man das Extreme gelten läßt, wird man dieser Deutung eine gewisse Selbständigkeit nicht absprechen können.«

112 »Hat das Extreme überhaupt eine Existenzberechtigung – unterwühlt es nicht den Staat – die Gesellschaft – die Familie?«

»Peinliche Fragen, Frau Gräfin«, erwiderte der alte Herr, während ein spöttisches Lächeln über sein gemästetes, glattes Gesicht sich ausbreitete. »Ich stehe auf dem Standpunkt, jeder hat mit seiner Meinung und Auffassung der Dinge recht! Gottes Wiesen sind so groß, daß für jedes Pflänzchen Raum ist. Was wollen Sie, meine Gnädige?« fuhr er fort, »die Welt wäre entsetzlich eintönig, wenn nur dieselben Blumen wüchsen – nur die gleichen Stimmen laut würden. Seien wir froh, daß es ein Links und ein Rechts gibt. Jesus schritt links – die Juden gingen rechts – und die Römer mit Pilatus an der Spitze hielten sich in der Mitte. So war es – so ist es – und so wird es immer sein!«

»Und wo stehen Sie, Herr Lehrer?« fragte die Plessen spitz.

»Ich, meine Gnädigste, wenn ich durchaus Bekenntnis ablegen muß, stehe links, stehe rechts, stehe in der Mitte.«

Ein stürmisches Gelächter entstand, ohne daß die Plessen sich auch nur einen Augenblick einschüchtern ließ.

»Dann, mein Herr, zählen Sie zu den Lauen, die unser Herr und Heiland in einer seiner Offenbarungen ausspeit – und auf die Melanchthon ein Wort gemünzt hat, das Ihnen gewiß nicht unbekannt ist. Mein Gedächtnis hat leider . . .«

»Darf ich Ihnen zu Hilfe kommen – es lautet: 113 Ihr seid nicht heiß – Ihr seid nicht kalt – Ihr seid lau – und lau ist widerlich.«

»Richtig – an dieses Wort habe ich gedacht.«

»Meine Gnädigste, unser Herr und Heiland – und vereint mit ihm der weise Melanchthon – haben im Eifer des Gefechts – in der Leidenschaft der Auseinandersetzung zuweilen die Grenzen ein wenig verschoben. Das ist menschlich – das ist göttlich! Wir kleineren Kreaturen dürfen uns an das Wort der Bibel halten: Alles hat seine Zeit. Geborenwerden und Sterben – Lachen und Weinen – Tanzen und Schreiten. Und wenn ich noch auf den Wechsel der Jahreszeiten hinweisen darf, so haben Hitze, Kälte und laue Frühlingswinde dieselbe Berechtigung. Sollte nicht der nämliche Ausgleich, den die Natur schafft, auch im Bezirk der Menschen Geltung haben? Je älter ich werde, meine Gnädige, um so mehr neige ich zu dieser Denkweise.«

 


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