Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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6

Die Brüder Sterzel hatten Toni und Camilla nach dem Abendessen zum Tee geladen. Sie saßen auf der Galerie, während auf der Diele das junge Volk tanzte.

»Eigentlich gehören Sie gar nicht zu uns alten Knastern«, sagte der weißbärtige Schuster.

»Um so größere Ehre für uns«, setzte der kugelrunde Lehrer hinzu, »wenn so junge, schöne Damen . . .«

»Seit wann raspelt Ihr denn Süßholz«, fuhr Doktor Friedrich Sterzel dazwischen, »meine Mädels finden keinen Geschmack daran – denen ist nur mit Geradheit gedient.«

59 »Wer raspelt hier Süßholz?« Der Schuster richtete sich in seiner ganzen Ehrwürdigkeit auf – »hast Du etwas davon bemerkt, Benjamin?«

Der Amerikafahrer zuckte leicht zusammen.

»Die jungen, schönen Damen mögen verzeihen – ich war mit meinen Gedanken anderswo.«

»Und wo warst Du, Bruder Benjamin?« fragte der Lehrer.

»Bei den Bäumen war ich.«

Die Schwestern schauten verwundert auf.

»Ja, wahrhaftig, bei den Bäumen! Je älter ich werde, um so größeren Neid kriege ich auf die Bäume. Da habe ich drüben wie ein Lasttier geschuftet – bin darüber alt und morsch geworden – wage vor Angst kaum in den Spiegel zu schauen. Ein Mensch wird mit zunehmenden Jahren runzelig, säuerlich, schrumpft ein und verfällt, hat nicht Zeit, zu reifen und weise zu werden – ein Baum breitet sich mächtig aus, wurzelt immer tiefer, kommt dem Erdreich immer näher.«

»Wir auch, lieber Bruder, nähern uns von Tag zu Tag der Erde – und schließlich läuft alles auf das gleiche Ende, den gleichen Sinn hinaus.«

»Und worin liegt der Sinn?«

»Sich mit Anstand auf das Sterben vorzubereiten«, antwortete der Schuster.

»Das steht auf einem anderen Brett – von Leben war die Rede, und ich behaupte, mit den Menschen wird Schindluder getrieben. – Jeder wird an sich und seinem Nächsten zum Räuber und Mörder, geht wegen des bißchen Existenz mit Fäusten und 60 Knüppeln los, sobald er auf Widerstände stößt. Ein Baum schläft seinen Winterschlaf, sammelt seine Kräfte zu neuen Trieben und feiert in jedem Frühjahr Auferstehung. Ich hätte es mir drüben einmal leisten sollen, sechs Monate im Jahr auszuruhen – vor die Hunde wäre ich gegangen. Man arbeitet und schuftet, begräbt Frau und Kinder, wird müde und verbraucht, und zuletzt steht man ratzekahl da – und muß noch seinem Schöpfer danken, wenn man soviel zusammengekratzt hat, um nicht auf seine alten Tage zu verhungern.«

»Weißt Du, wie es den Bäumen geht«, sagte der Schuster, »steckst Du in ihnen, hörst Du ihr Ächzen und Stöhnen?«

»Ich sehe, daß sie in Schönheit leben, viel, viel älter werden als wir und an Kraft und Besitz zunehmen, während wir elend verfallen.«

»Hat Benjamin nicht in einem gewissen Sinn recht?« griff Doktor Sterzel in die Unterhaltung ein. »Ich selbst habe mich oft gefragt, ob ein so unvollkommenes Wesen wie der Mensch überhaupt eine Existenzberechtigung hat. Er bringt ein Herz mit auf die Welt, damit es verkalkt, Nieren, damit sie einschrumpfen, Lungen, damit sie zerlöchert werden, eine Leber, damit sie anschwillt, eine Galle, damit sie sich entzündet, die Zähne fallen ihm aus, und seine Haare lichten sich, werden dünn, trocken und weiß. Die Augen erblinden, und die Ohren verlieren das Gehör. An seinem Leibe wachsen Geschwüre, in seinem Körper bilden sich Ablagerungen, die ihm das Leben zur Qual machen. Ist es ein Vergnügen, 61 dem unaufhaltsamen Verfall seines Leibes zuzuschauen? Von den unheimlichen Trieben, unter deren Zwang er sonst noch steht, will ich gar nicht sprechen. Jedenfalls gehört schon eine Portion Sanftmut und Selbstbeherrschung dazu, das Schicksal, das er mit auf den Weg bekommen, zu ertragen.«

»Man muß das Fleisch vom Geiste trennen – das Fleisch zerfällt – aber der Geist besteht – von Ewigkeit zu Ewigkeit«, entgegnete der Schuster.

»Wo sitzt der Geist? Im Bauch oder im Hirn?« fragte der Lehrer.

»In der Seele, Bruder, in der Seele!«

»Ach, Du bist Zeit deines Lebens ein Christ gewesen – hast gehungert und gedarbt und am Mysterium Dich gesättigt – hast vor lauter Spintisieren schließlich Deinen Körper vergessen. Wenn Du wenigstens Deinen Geist auf Flaschen gezogen hättest, damit man diese heilige Essenz einmal genauer untersuchen und auf ihre chemischen Bestandteile hin prüfen könnte!«

Die Schwestern griffen ein.

»Ja, wollen Sie denn den Geist leugnen?« fragte Toni.

»Sagen Sie mir lieber, meine junge Dame, wie Sie mit der Existenz von Geist und Seele die infernalische Niedertracht des Menschen, seinen eingeborenen Hang zum Bösen in Einklang zu bringen vermögen?«

Sie wurde der Antwort überhoben, denn in diesem Moment trat der Großindustrielle an ihren Tisch, verbeugte sich und forderte Camilla zum Tanze auf.

62 Sie zögerte – aber auf einen Blick der Schwester hin folgte sie der Aufforderung. Zum Erstaunen aller erhob sich gleichzeitig Benjamin Sterzel: »Darf ich bitten, Fräulein Toni?« Seine Augen flehten so eindringlich, daß sie von vornherein jeden Widerstand aufgab.

Mitten im Tanze mit dem alten Manne spürte sie, daß aller Blicke auf sie gerichtet waren, daß ihr Partner sie so fest umschlungen hielt, als wollte er sie nicht mehr freigeben.

Das rede ich mir ein, sagte sie sich im stillen und suchte in ihrer ganzen Haltung sich den Schein der Unbefangenheit zu geben.

Die Musik brach ab – Benjamin Sterzel reichte ihr den Arm, blieb mitten im Gedränge der Menschen stehen und sagte kaum hörbar:

»Ich habe Sie in den letzten Tagen dringend sprechen wollen und fand keine Gelegenheit. Darf ich Sie jetzt um ein paar Minuten bitten? Ich werde Sie gewiß nicht lange aufhalten – ich verspreche es Ihnen.«

Er ließ ihr keine Zeit zur Entgegnung, drängte sie dem Ausgang zu, und ehe sie sich's versah, stand sie mit ihm an der Reeling und hatte das Meer in seiner grenzenlosen Weite vor sich.

»Fräulein Toni«, sagte er unvermittelt, während er die kleinen Augen übernatürlich aufriß, »es ist eine Frage – eine bescheidene Frage, und bei der Vorrede kann ich mich nicht lange aufhalten. Ich bin siebenundfünfzig, und viel Zeit zu verlieren habe ich nicht. Vom ersten Augenblick, wo ich Sie gesehen, dachte ich, die wäre eine Frau für dich. Der Lehrer 63 hat mich ausgelacht, der Schuster den Kopf geschüttelt, und der Doktor ist, wie von der Tarantel gestochen, in die Höhe gefahren. Altersunterschied? Ältere Männer als ich haben blutjunge Mädchen geheiratet und gesunde Kinder in die Welt gesetzt – –und was meine Manneskraft anbelangt, nehme ich es mit dem Jüngsten noch auf. Last not least, ich bin 250 000 Dollars wert – das ist in deutschem Gelde rund eine Million. Für alle Zukunft hätten Sie demnach ausgesorgt. Business is business – man muß auch darüber reden – und jetzt habe ich alles gesagt – und nun sind Sie an der Reihe!«

Toni war fassungslos. »In welch böse Lage haben Sie mich gebracht, Herr Sterzel! Überfallen mich, setzen mir den Revolver auf die Brust und drücken los. Ich könnte mir die Antwort leicht machen – könnte einfach sagen: es tut mir unendlich leid, Sie kommen zu spät, mein Herr – ich bin gebunden! Ich tue das nicht – rede mich auch nicht auf den Altersunterschied heraus. Mein Vater und meine Mutter waren durch Jahrzehnte getrennt. Und wenn ich trotzdem Nein sagen muß, so liegt der Grund lediglich darin, daß ich nie in meinem Leben an Ehe oder Bindung gedacht habe – daß ich meine persönliche Freiheit nicht aufzugeben vermag. Seien Sie mir nicht böse – es geht eben nicht!«

Sie streckte ihm freimütig die Hand entgegen.

»Well – well«, sagte Benjamin Sterzel, schlug ein und hielt sie einen Moment fest – dann war er verschwunden, ohne noch ein Wort hinzugefügt zu haben.

64 In der Nacht lagen die Schwestern Wünsch noch lange mit wachen Augen in ihren schmalen Kabinenbetten.

»Toni, schläfst Du schon?«

»Nein, ich bin wach.«

»Weißt Du, daß mir der Düsseldorfer heute einen Antrag gemacht hat?«

Toni lachte schallend auf.

»Da gibt es gar nichts zu lachen!«

»Einen richtiggehenden Heiratsantrag?«

»Vom Heiraten war keine Rede!«

»Sondern?«

»Er hat mir vorgeschlagen, uns in Ägypten abzusondern und sechs Wochen zu zweit durchs Land zu reisen. Er kennt Ägypten genau – und hat mir das Beisammensein in den verlockendsten Farben geschildert. Was sagst Du dazu?«

»Nichts, Camilla, das sind Dinge, bei denen ein Dritter zu schweigen hat. Aber, Gott sei Dank, liegst Du auf dem Rücken, denn sonst könnte meine Neuigkeit Dich aus dem Gleichgewicht bringen. Benjamin Sterzel hat mir in der gleichen Sekunde, vermute ich, sein Herz, seine Manneskraft und sein Vermögen zu Füßen gelegt.«

Camilla hatte im Nu das Licht angedreht und war mit einem Satz im Bett der Schwester.

»Erzähle, erzähle!«

»Da ist weiter nichts zu erzählen«, antwortete Toni kühl. »Trotz meinem Nein, hoffe ich, sind wir als gute Freunde geschieden.« 65

 


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