Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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2

Die »Orinoco« verfolgt gemächlich ihren Kurs. Das Meer liegt da wie ein ungeheurer, unbeweglicher Riesenspiegel, klar, durchsichtig bis in seine Tiefen, schillernd unter dem beständig wechselnden Licht der Sonne. Es ist ein makelloses Wetter, die Luft rein und von wunderbarer Wärme durchtränkt. Die Damen tragen helle Sommerkleider – die Herren Sportanzüge.

Ja, um die Mittagsstunde hat man alles Überflüssige abgeworfen, räkelt sich, nur mit Bademänteln bekleidet, in den bequemen Liegestühlen, läßt 24 sich von der Sonne bestrahlen, nachdem man in dem großen, offenen Schwimmbassin auf dem Mitteldeck sein erfrischendes Meerbad genommen hat.

Es ist wie in einem großen Seebade. Man vertreibt sich die Zeit mit Shufflebord, Tennis-, Ring- und Wurfspielen. Man trainiert am Punching-Ball, spielt Karten, liest Romane und Reisebeschreibungen. Erledigt im Schreibzimmer seine Korrespondenzen. Flirtet ungeniert, photographiert.

Alles ist an Bord vertreten, Hochadel und Großindustrie, Ärzte und Anwälte, Geschäftsleute, die einmal ausspannen wollen, gewohnheitsmäßige Reisende, denen zu Hause der Boden unter den Füßen brennt.

Die Schwestern Wünsch leben nur der Erholung – sind glücklich, außer dem Doktor keinen Bekannten an Bord getroffen zu haben, und gehen allen Annäherungsversuchen beharrlich aus dem Wege. Erschöpft von ihrer intensiven Tätigkeit und einer niemals aufhörenden Saison, die ihren Geist nötigt, immer neue Modelle auf den Markt zu bringen – ihre Phantasie niemals zur Ruhe kommen läßt, haben sie ein tiefes Bedürfnis nach Alleinsein.

Nicht sprechen zu müssen – keinem gesellschaftlichen Zwang unterworfen zu sein, den Tanzenden, die unter den Klängen einer grellen Musik allabendlich auf der grünen Diele sich bewegen, von der Balustrade aus zuzusehen, ist alles, was sie ersehnen.

Der Pariser Aufenthalt mit seinen geschäftlichen Sorgen, seinen Nachmittagsausflügen und Abendgenüssen hatte ihre Nerven doch empfindlich angegriffen.

25 Sie sprechen in stillem Einvernehmen auch untereinander nur das Allernotwendigste – von jeher gewohnt, gegenseitig die größte Rücksicht zu nehmen. Und mit den Sterzelbrüdern war man übereingekommen, nur nach dem Abendessen sich für einen kurzen Schwatz zu treffen.

Die Herren hatten offenbar auch den Wunsch, für sich zu sein, nicht in dem großen Trubel unterzutauchen. Das für sie wie im Traum gekommene Glück, fremden Welten entgegenzufahren, wollten sie auskosten. Sie ließen die Krimstecher und Baedeker nicht aus den Händen, hatten immer etwas zu beobachten und zu erspähen und wirkten mit ihren massigen, untersetzten Erscheinungen, ihren weißen Schädeln, ihren altmodischen Röcken, die aus einem früheren Jahrhundert zu stammen schienen, weltfremd und rührend zugleich. Wenn die Dunkelheit heraufzog, saßen sie endlos beim Schach und sprachen kein Wort, das nicht unbedingt zum Spiel gehört hätte.

Man respektierte sie – aber über die Schwestern zerriß man sich gehörig den Mund – und allen voran war es die dicke Gräfin Plessen, die kein gutes Haar an ihnen ließ.

»Haben Sie je so etwas erlebt – Nähmamsells, die größenwahnsinnig geworden sind – und sich aufspielen, als seien sie Prinzessinnen – ausgerechnet im Tiergartenviertel – in der Budapester Straße haben sie ihren Modesalon aufgemacht, der an ausschweifendem Luxus nicht seinesgleichen hat.«

»Kennen Sie sie denn näher?« fragte eine blasse 26 Kaufmannsdame aus der Provinz und erschrak sichtlich, als die Gräfin sie mit einem verächtlichen Blick maß.

»Gott bewahre mich davor – ich habe meine Wissenschaft von einer Cousine, die bei ihnen arbeiten läßt und dumm genug ist, sich das Fell über die Ohren ziehen zu lassen.«

Die junge, sehr elegante Frau Doktor Holzmann, deren Mann Rittergutsbesitzer ist und Zigarren von ungeheurem Format jedem offeriert, kann ihren Widerspruch nicht unterdrücken.

»Es bleibt doch jedem unbenommen«, meint sie, »seine Lebens- und Geschäftsführung so einzurichten, wie es ihm beliebt. Und wenn die Damen ihren Salon so großartig führen, müssen sie doch auf ihre Rechnung kommen.«

Die Plessen sieht sie spitz an. »Diese Abenteuerinnen verstehen es, den Leuten Sand in die Augen zu streuen – mit ihren sogenannten Pariser Modellen die Berliner Judenweiber zu ködern.«

»Aber Ihre Cousine, gnädige Frau Gräfin«, wirft ein Großindustrieller aus Düsseldorf dazwischen.

»Ist ebenfalls nicht reinrassig«, erwidert die Plessen hitzig.

Ein lautes Gelächter unterbricht sie.

»Lachen Sie nicht, meine Herrschaften, die Geschichte ist ernsthafter, als Sie annehmen. Diese Art von Leuten ist es, die zum Klassenhaß aufreizt. Meinen Sie etwa, daß die Damen und Herren aus meinen Kreisen« – sie nahm bei diesen Worten eine steife Haltung an – »sonderlich erbaut sind, daß 27 jetzt die Frauen der Parvenüs, der Kriegsgewinnler den Ton der Mode angeben?«

»Verzeihen Sie«, sagt unterwürfig die blasse Dame aus der Provinz, »kann man dafür die Schwestern Wünsch verantwortlich machen?«

Die Plessen bekam einen roten Kopf. »Allerdings mache ich sie dafür verantwortlich – mit welchen Mitteln, auf welcher Grundlage, frage ich mich, setzen sie den Schwindel in Bewegung – jedermann zerbricht sich den Kopf darüber – und glauben Sie etwa, daß es im Auslande einen besonders guten Eindruck macht, wenn man in Berlin solchen Aufwand treibt?«

»Ach, kommen Sie mir nicht mit dem Ausland, Frau Gräfin; erstens verkaufen die liebend gern an uns ihre Ware – und zweitens können wir doch unmöglich bei jedem Schritt, den wir tun, ängstlich nach draußen schauen. Wenn kostbare Kostüme angefertigt werden, so ist das doch nur ein Beweis unseres allmählichen Aufstiegs.«

Es war wieder der Düsseldorfer Großindustrielle, der in das Rededuell eingriff. »Ich bin Geschäftsmann«, fügte er hinzu, »und weiß, daß große Spesen oft förderlicher sind, als wenn man knausert – insofern muß ich allerdings die Schwestern Wünsch, die zu kennen ich nicht die Ehre habe, in Schutz nehmen.«

»Sehen Sie es nicht, meine Herrschaften, oder wollen Sie es nicht sehen«, replizierte die Gräfin scharf, »mit welchem Raffinement diese Damen sich zu kleiden verstehen, wie sie –«

28 Mitten im Satz verstummte sie, denn aller Augen richteten sich plötzlich auf Doktor Wanner, der, ohne daß sie es bemerkt hatten, an ihnen vorbeidefilierte.

»Schauen Sie, vor dem Menschen habe ich eine unbestimmte Angst – ein unbehagliches Gefühl steigt in mir auf, sobald er sich nur nähert. Es ist, als ob der Leibhaftige an Bord spukte – empfinden Sie es nicht auch so, meine Damen und Herren?« fragte Doktor Holzmann.

»Seit wann machen Sie in Gretchen- und Mephisto-Stimmung?« entgegnete der Großindustrielle.

»Schauen Sie sich nur sein Gesicht an – diese stechenden Augen und dazu die Unverfrorenheit, mit der er sich über alle gesellschaftlichen Formen hinwegsetzt.«

»Es ist schon ein starkes Stück«, bekräftigte die Gräfin Plessen, »daß ein Mensch hier an Bord, wo man sich beim besten Willen nicht ausweichen kann, ohne Gruß an einem vorübergeht – und sich den Anschein gibt, als ob nichts und niemand für ihn existiere.«

Die kleine, blasse Dame fuhr in die Höhe. »Erst tratschen wir über die Schwestern Wünsch, und jetzt muß Doktor Wanner herhalten – und dabei bemühen wir uns alle«, setzte sie freimütig hinzu, »einen Blick von ihm zu erhaschen und sein Interesse zu erregen.«

»Ich muß doch sehr bitten«, wehrte pikiert Frau Doktor Holzmann ab, »was mich betrifft, so kann mir dieser Herr im Mondschein begegnen, ohne daß ich mich nach ihm auch nur umschaue. Mein Interesse 29 geht etwa so weit – wie soll ich mich ausdrücken –, also etwa so weit, wie für einen Verbrecher, der steckbrieflich verfolgt wird.«

Alle sahen die Dame verdutzt an. Und Rittergutsbesitzer Holzmann, der sonst ihr gegenüber nicht den Mund aufzutun wagte, entgegnete etwas gereizt: »Wirklich, ja wirklich, Eugenie, ich muß Dich bitten, in der Wahl Deiner Worte . . .«

Die Gräfin Plessen unterbrach ihn: »Verzeihen Sie, Herr Doktor Holzmann, Ihre Frau Gemahlin hat, ohne es zu wollen, unser aller Gefühle ausgedrückt.«

»Das ist nicht wahr«, schrie beinahe hysterisch die Komtesse Seckendorf, »ich begreife nicht, wie man einen Menschen, der ganz offenbar aus Gründen, die uns nichts angehen, den Verkehr und jede Berührung mit anderen meidet, im übrigen niemand behelligt, mit derartigem –« sie stockte mitten im Satze, »nein, ich begreife es wirklich nicht«, schloß sie erregt.

»Du hast durchaus recht, Charlotte«, stimmte ihr lebhaft Fräulein Testini, ein junges, sehr anmutiges Fräulein zu, das sich in Begleitung ihres phantastisch reichen Vaters, eines Hamburger Kaffeehändlers, an Bord befand.

»Wir regen uns über Doktor Wanner auf«, setzte sie hinzu, »weil wir gekränkt sind. Wir sind gekränkt und beleidigt und würden ihn anders beurteilen, nähme er Notiz von uns.«

»Meine Frau«, erklärte Doktor Holzmann, »hat in ihrer impulsiven Art sich in einer Weise geäußert, die leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte. 30 Sie hat mehr das Außergewöhnliche dieser Erscheinung kennzeichnen wollen, als . . .«

»Sehr nett von Dir, daß Du Dich meiner annimmst. Aber du weißt, mein Lieber, ich habe in schwierigeren Fällen meine Sache selbst geführt.« Und hitziger werdend: »Es liegt für mich kein Grund vor, meine Worte zu modifizieren. Ich habe nicht behauptet, dieser Herr, Gott schütze mich davor, hätte auch nur das geringste auf dem Kerbholz. Ich habe mich lediglich gegen seine falsche Interessantheit gewandt, die einigen von uns«, fügte sie süffisant hinzu, »den Kopf verdreht zu haben scheint. Es ist so leicht, zu bluffen! Man braucht sich nur anders zu benehmen als normale Menschen. Man grüßt niemanden, betritt als letzter Gast die Schiffsbar, setzt sich auf den hohen Schemel am Büfett, trinkt einen Cocktail nach dem anderen und spinnt solange, bis der Barkellner in aller Höflichkeit darauf hinweist, daß auch an Bord die Polizeistunde geschlagen hat. Das geht mich natürlich gar nichts an – ist Privatangelegenheit dieses Herrn – ich meinte nur, irgendein verfolgter Mensch könnte sich nicht anders benehmen.«

»Sie glauben also doch?« fragte jemand.

»Gar nichts glaube ich!«

»Und woher wissen Sie, meine gnädige Frau, wenn ich mir schon die Frage erlauben darf, daß er allabendlich, wie man aus Ihren Worten schließen muß, sich sinnlos betrinkt?«

Eine allgemeine Stille trat ein. Dann ließ sich eine ölige Stimme aus dem Hintergrund vernehmen: »Von mir weiß es Frau Doktor Holzmann. Ich habe 31 nämlich das Vergnügen, daß meine Kabine an die des Herrn Doktor Wanner stößt. Da ich Nacht für Nacht durch besagten Herrn gestört werde – dürfte Ihnen der Grund meiner Recherchen einleuchten.«

Alle wandten sich der Sprecherin zu. Es war eine hochbusige Dame über fünfzig, deren rotbraune Haare von ihrem blendend weißen Gebiß auffallend abstachen.

»Er trinkt also – ist ein notorischer Säufer – ja, meine Herrschaften, das erklärt vieles. Mein seliger Mann, Graf Plessen, hat immer behauptet, einem Trinker, er gebrauchte sogar ein Fremdwort, wenn ich mich erinnere, ist alles zuzutrauen.«

Die Komtesse von Seckendorf und Fräulein Testini erhoben sich wie auf ein verabredetes Zeichen.

»Verliebte Gänse«, sagte die Plessen und zog die Nase hoch.

»Heutige Jugend, meine Gnädigste, alles gesteigert, überspannt und immer zum Anormalen neigend«, mischte sich ein älterer Anwalt in die Unterredung.

»Sagen Sie, Frau Gräfin«, der Großindustrielle aus Düsseldorf beugte sich dicht an ihr Ohr, »halten Sie die Schwestern Wünsch tatsächlich für Halbseide – für ein bißchen Hautgout – wissen Sie am Ende gar Genaueres? Mich würde das riesig interessieren!«

Die Gräfin Plessen lächelte statt jeder Antwort vieldeutig.

 


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