Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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15

Die Tage waren wärmer geworden – auf spiegelglatter Meeresfläche verfolgte die »Orinoco« ihren Kurs – steuerte Port Said entgegen – und plötzlich lag die Stadt an der nördlichen Einfahrt des Suezkanals mit dem Denkmal Ferdinands von Lesseps auf einem der beiden imposanten Wellenbrecher vor den Blicken der Passagiere.

Die Reisenden hatten nur kurzen Aufenthalt; denn ein paar Stunden später sollten sie schon auf dem Bahnweg von Port Said nach Kairo fahren.

Verdächtiges Gesindel, fliegende Straßenhändler, 156 gefährlich aussehende Lastträger drängten sich wie die Schmeißfliegen an sie heran. Besonders der Großindustrielle war den Attacken ausgesetzt. Einer dieser Burschen heftete sich an seine Fersen und ließ sich trotz aller Flüche nicht abschütteln.

»Kleine Schweinerei, Herr Baron; allerliebste Schweinerei und nur fünfzehn Piaster – Baron wolle nicht – sein Freunde von Deutschland – muß kaufen, Baron – gebe Sie zehn Piaster – gebe Sie fünf Piaster – spottbillig – wunderbare Schweinerei – Herr Baron.«

Und ehe sich's der Großindustrielle versah, hatte ihm der Händler ein kleines Paketchen in die Tasche bugsiert.

»Hier ist das Eingangstor zu Ägypten«, sagte der Lehrer mit verklärten Zügen zu Toni. »Noch ein paar Stunden – und wir stehen vor den Urdenkmälern ältester Vergangenheit.«

In der Bahn saß Wanner neben Toni. Das Glück seiner Nähe verzauberte sie. Ihre Augen glänzten – auf ihrem Gesicht lag eine schimmernde Röte, auf ihrem schlanken Hals traten die Adern in leisen, geheimnisvollen Strichen hervor.

Das Wunderwerk des Kanals begleitete sie streckenweise. Japanische, englische, nordische, französische und türkische Schiffe glitten durch die schmale Wasserstraße an ihnen vorbei.

»Sehen Sie dorthin«, sagte Wanner zu Toni. Sie folgte der von ihm gewiesenen Richtung. Ein Riesenschiff, dessen mächtige braune Schornsteine von dem schneeweißen Grundton sich malerisch abhoben, 157 trotz seiner Ausmaße überraschend schön in der Linie und vollendet in der Takelage, bot sich dem Auge.

»Es ist die ›Qronsay‹,« erklärte Wanner, »das große englische Auswandererschiff, das nach Australien geht. Schauen Sie nur hin, wie es durch alle seine Luken das letzte europäische Licht frißt – und sehen Sie sich auf dem Zwischendeck die verelendeten Menschen an. Mit Sack, Pack und Kindern, die noch nicht kriechen können, fahren sie einem ungewissen Schicksal entgegen.«

Toni horchte verängstigt auf. Es war der gleiche, feindselige, gegen die Gesellschaft und alles Bestehende gerichtete Ton, der sie schon einmal im Tiefsten erschreckt hatte.

»Wissen Sie«, fuhr Wanner fort, »daß ich mich am liebsten auf diesem Zwischendeck befände – und aufatmen würde, wenn ich das aus allen Poren stinkende Europa hinter mir hätte und noch einmal von vorn beginnen könnte?«

Wieder hatte seine Miene einen erbitterten und rachsüchtigen Ausdruck angenommen, als zählte er sich zu den Ausgestoßenen, Gedemütigten, Zertretenen.

»Ich wünschte, daß Sie niemals in die Zwangslage kämen, die Heimat verlassen zu müssen. Was liegt hinter Ihnen, was haben Sie durchgemacht, um solche Wünsche zu nähren? Verzeihen Sie diese Fragen – nichts liegt mir ferner, als in Ihre Vergangenheit – oder gar in Ihr Inneres mich drängen zu wollen! Mir wird nur angst und bange, wenn plötzlich so ein Notschrei aus Ihnen herausbricht!«

158 »Ich bin immer ein Mensch in Not gewesen – es gibt in meinem Leben keine Stunde, in der ich wirklich aufgeatmet habe. Glauben Sie mir, es war mehr als eine leere Phrase, wenn ich Sie vor mir warnte. Ich bin mit Energien geladen und zugleich hemmungslos in meinen Trieben. Ich verachte das Leben und besitze nicht die Kraft, es wegzuwerfen.«

Toni Wünsch begann plötzlich zu frieren.

»Sprechen Sie nicht weiter, Herr Doktor. Ein Mensch, der in so jungen Jahren einen Welterfolg . . .«

Er machte eine leidenschaftliche Bewegung.

»Lassen wir diesen Gegenstand unberührt, wenn ich Sie bitten darf.«

»Ich werde kein Wort darüber verlieren, sobald Sie es verbieten«, entgegnete sie unterwürfig.

»Ich habe Ihnen nichts zu verbieten.

»Alles dürfen Sie mir verwehren!«

Bei diesen Worten zuckte es um ihren Mund, und ihre dünnen Nasenflügel bewegten sich zitternd.

»Schwatzt nicht soviel, Herrschaften – reißt die Augen auf – saugt euch voll«, ließ sich jetzt die Stimme Doktor Sterzels vernehmen.

Das Bild hatte sich mit einem Male verändert – wurde plötzlich allem Wissen, allen Vorstellungen zum Trotz unfaßbar und phantastisch.

»Betrachten Sie«, fuhr Doktor Sterzel fort, »wie Wüste und Fruchtland nur noch durch eine einzige, feine Linie voneinander geschieden sind!«

Der Zug raste jetzt in einem schnelleren Tempo dahin – vorbei an armseligen Fellachendörfern, die 159 sich seit Jahrtausenden nicht verändert hatten, deren Bewohner buchstäblich noch in Erdlöchern, in Lehmhütten ohne Dächer hausten.

Die Reisenden verstummten. Maultiere, Kamele, Büffel- und Rinderherden hoben sich von der unendlichen, unübersehbaren Ebene ab. Uralte Brunnen, deren Räder von den in ewigem Gleichmut trottenden Kamelen in Bewegung gesetzt wurden, tauchten auf – und dazwischen hochgewachsene Menschen mit edlen, einfältigen Gesichtern, die in die Knie sanken, vor der Erde sich demütig beugten, um, in sich versunken, still ihr Gebet zu verrichten. Und das alles unter einem so flimmernden, durchsichtigen, süßen, milden, reinen Licht, daß man nicht wußte, ob Traum oder Tag an einem vorüberzog.

»Hier wird biblische Geschichte in ihrem tiefsten Sinne geahnt«, unterbrach der Schuster das lange Schweigen, »hier wird der mühselige Gang von Josef und Maria begriffen – hier erkennt man die Einheit zwischen Mensch und Tier – hier empfindet man den Zusammenhang, der beider Existenzen verknüpft.«

Und der Lehrer, der beifällig nickte, fügte hinzu: »Und das alles ist dabei erst Vorspiel, flüchtiges, vorüberjagendes, ehe der wirkliche Vorhang des bunten ägyptischen Theaters sich aufrollt, ehe wir den Boden Kairos betreten.«

In Toni war alles gelockert und gelöst – sie, die im Alltagsleben immer zurückhaltend und verschlossen gewesen war, fühlte, wie das Herbe von ihr abfiel – wie ihr Inneres sich weit öffnete, wie ihr 160 Bedürfnis nach Güte, Zärtlichkeit und Liebe über Nacht aufgeblüht war.

Bis zum Rande mit Freude gefüllt, spürte sie zugleich ein dunkles Verhängnis. Wo lag das Geheimnis Doktor Wanners? Wo die Ursachen seines Hasses – seines Niedergedrücktseins, da er doch auf der Höhe des Ruhmes angelangt war.

Ein Mann, der es zu europäischer Berühmtheit gebracht hatte, dessen Leistungen in der wissenschaftlichen Welt längst anerkannt sein mußten – befand sich in einer erbärmlichen Verfassung. Auch zwischen ihr und Doktor Wanner gab es eine unsichtbare Mauer, die sie voneinander trennte.

Vielleicht ist er längst gebunden – verheiratet, schoß es durch ihr Hirn. Sie lächelte bei diesem Gedanken. Was tat es ihr Abbruch, wenn eine andere Frau ehelich verbürgte Rechte auf ihn besaß? Würde ihre Liebe dadurch geringer – lag es in ihrem Wesen, den Anspruch auf Erfüllung und Glück, den jeder Mensch fordern darf, an Standesamt und Ehe zu binden?

Hatte nicht Jakob Leichtentritt spielend alle weltlichen Schwierigkeiten überwunden – hatte nicht ihre Mutter den Trennungsstrich zwischen sich und den Menschen mit großartiger Selbstverständlichkeit vollzogen – und war nicht inzwischen die Welt freier und vorurteilsloser geworden?

Auch Camillas heimliche Blicke, in denen Vorwurf und stumme Frage und am Ende noch etwas anderes lagen – steigerten ihr Unbehagen. Erwartete die Schwester von ihr Aussprache und Bekenntnis?

161 Sie kannte jeden Zug in Camillas Gesicht – vermochte sich jedes Augenblinzeln von ihr zu deuten, ahnte, daß sie mit eingeborenem Spürsinn in das Geheimnis ihres Herzens zu dringen suchte.

Aber was hätte sie ihr sagen – ihr bekennen dürfen! Was war im Grunde passiert? Woraus ergab sich die unbedingte Forderung eines Geständnisses?

Gut – Doktor Wanner hatte sie umschlungen – hatte sie geküßt – hatte verstohlen ihre Hand gedrückt. Waren das nicht Zärtlichkeiten, die jeder Mann sich herausnahm?

Nein, und abermals nein, entgegnete sie sich – eine Frau, die man so küßt, wie Wanner sie geküßt hatte – ist einem nicht nur Spielzeug, Ablenkung und Zeitvertreib innerhalb einer ungenützten Minute!

 


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