Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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18

»Nichts in der Welt gibt es«, sagte Toni, »das nicht seine Sühne finden könnte.«

»Auf Schuld oder Sühne kommt es gar nicht an«, entgegnete Doktor Wanner. »Das sind verbrauchte Worte! Gewissensbisse sind immer etwas 176 Unanständiges – diese Weisheit ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen.«

»Und worauf kommt es an?«

»Ob man weiterleben kann, wenn alles, was man aufgebaut hat – zusammengebrochen ist – und keine Möglichkeit besteht, aus den Trümmern etwas zu retten.«

»In diesem Falle sind Sie ja nicht«, jammerte Toni. »Mögen Sie das Schwerste durchgemacht, entbehrt und gedarbt haben – gestoßen und getreten worden sein – das setze ich voraus, denn sonst wäre Ihre Verbitterung nicht zu fassen – aber den Segen ausgleichender Gerechtigkeit haben Sie bei alledem erfahren. Ich meine, daß das Schicksal zuletzt von tiefster Güte ist – es sündigt und macht wieder gut – mißhandelt den Menschen, schlägt ihm Wunden und richtet ihn wieder auf. Weshalb das so ist – weiß ich nicht. Dennoch glaube ich, daß nichts ohne Sinn geschieht, daß hinter jedem scheinbaren Zufall noch ein Gesetz steht.«

Doktor Wanner sah sie groß an.

»Ich für meinen Teil glaube weder an ein vorausbestimmtes Schicksal – noch an den Zufall, hinter dem ein Gesetz steht. Für mich ist das Ganze von erbärmlicher Sinnlosigkeit. Erfahrung ist überflüssig – und Geschichte ohne innere Notwendigkeit. Ich erblicke hinter allem nur den Treppenwitz der Natur, die keine Fragen stellt – und keine Fragen beantwortet – die sinnlos wachsen läßt – und ebenso sinnlos wieder ihr Wachstum zerstört.«

Sie hing sich schwerer in seinen Arm.

177 »Wenn ich Ihnen helfen könnte, Doktor Wanner, ich gäbe hin, was ich besäße – ich gäbe – – –«

»Mir ist nicht zu helfen – ich bin im Keim verpfuscht und verdorben – sehen Sie mich nicht so entsetzt an, Toni Wünsch, kommen Sie mir nicht zu nahe – finden Sie sich mit dieser bitteren Wahrheit ab.«

»Niemals«, antwortete sie.

»Dann erinnern Sie sich später daran, daß ich Sie gewarnt habe. Ich bin in meinen Beziehungen zu Frauen«, fügte er hinzu, »nicht immer von dieser Aufrichtigkeit gewesen – ich habe mich öfters als einmal in einen Rausch gestürzt – mehr in dem Bedürfnis, mich zu entspannen, als unter dem Drucke einer tieferen Leidenschaft. Denn Ablenkungen irgendwelcher Art habe ich kaum im Leben gekannt – nie Sinn für Musik und Theater besessen. Zu den Frauen dagegen hat es mich – rein körperlich genommen – stets gedrängt – sie waren zu meiner Lust – zu meiner Erholung in die Welt gestellt – und als ich mir gar bewußt wurde, daß ich ohne jedes Zutun – ich weiß nicht«, unterbrach er sich, »ob Sie das alles überhaupt interessiert.«

»Reden Sie, bitte, Doktor Wanner!«

»Ich wollte sagen, als ich erkannte, daß ich eine gewisse Gewalt über die Frauen ausübte – entwickelte sich, nein, das ist nicht der richtige Ausdruck – mechanisierte sich in mir der Trieb, jede Gelegenheit wahllos auszunutzen. So sieht die eine Seite meines Bildes aus, Fräulein Wünsch, wenn man alle Retuschen wegläßt. Und nun treten Sie in meinen 178 Weg – und bürden mir mit der Kraft und Wahrhaftigkeit Ihres Wesens zum erstenmal vielleicht ein Gefühl der Verantwortung auf!«

»Oh, Doktor Wanner, ahnten Sie nur, wie schrecklich Ihre Worte sind – und welch Glück sie zugleich für mich bedeuten.«

Seine Züge wurden von einem Lächeln erhellt, das seltsam und abenteuerlich war.

»Ich glaube, Toni«, sagte er, und es schien ihr, als ob seine Stimme fröhlicher klang, »Dir ist nicht zu raten und zu helfen – auf Gedeih und Verderben bist Du mir ausgeliefert!«

Es war das erstemal, daß er sie duzte.

»So ist es«, erwiderte sie, und ihre Augen strömten wieder einen hellen, verzehrenden Glanz aus, der ihn in dieser Sekunde unsicher und betreten machte.

Als sie zum Dinner in das Shepheardhotel zurückgingen, war der Speisesaal bereits dicht besetzt. Er glich dem Schauplatz irgendeines internationalen Hotels. Araber in ihrer dunklen Hautfarbe, in ihren leuchtenden Gewändern, roten Westen und bauschigen, weißen Röcken, bedienten leise und geräuschlos die Gäste.

Camilla, die am Tisch des Großindustriellen saß, hatte sie sofort entdeckt und winkte ihnen eifrig zu. In ihrer unmittelbaren Nähe hatte sich Miß Bottchen mit der Gräfin Plessen und den Holzmanns placiert.

»Es ist mir eigentlich widerwärtig, mit diesem Herrn, der sich an die Fersen meiner Schwester 179 geheftet hat, zu tafeln« – seufzte Toni – »aber was soll man tun – ich sehe im ganzen Saal kein freies Plätzchen.«

Der Großindustrielle erhob sich.

»Ein Glück, daß Sie endlich kommen, mein gnädiges Fräulein«, wandte er sich an Toni, nachdem er Doktor Wanner leicht begrüßt hatte. »Mit Not und Mühe haben wir die beiden Stühle reserviert.«

»Ach, Toni«, sprudelte Camilla hervor, »wir waren erst im Museum und dann bei der Sphinx und den Pyramiden. Auf Kamelen sind wir geritten, bis wir an das Wunder herankamen. So etwas Interessantes kannst Du Dir nicht vorstellen – unheimlich, sage ich Dir. Zuerst hatte ich einen Todesschreck, als mir das übermenschliche Antlitz entgegengrinste. Es hat ein furchterregendes Lächeln, das alle Rätsel der Welt enthält. Tritt man dann näher, entdeckt man, daß die Nase plattgedrückt – die Züge verstümmelt sind. Und trotzdem spricht aus dem ganzen Antlitz eine grauenhafte – stimmt es nicht«, fragte sie den Großindustriellen, »eine grauenhafte Überlegenheit!«

»Es stimmt«, antwortete dieser. »Niederschmetternd, einfach niederschmetternd, meine Gnädige – und dazu noch die Beleuchtung – dieser Himmel – diese unbeschreibliche Magie der Pyramiden. Jetzt erst begreife ich überhaupt, was pyramidal bedeutet. Habe gewiß schon viel in meinem Leben gesehen – aber da verstummt man – da bleibt einem die Sprache weg! Darf ich den Herrschaften ein Glas Sekt anbieten?«

180 Die Gläser wurden gefüllt, und alle stießen miteinander an.

Wanner sah plötzlich den breiten, weichen, wollüstigen Hals Camillas – und es schien ihm – als ob sie leise, verstohlen, unbewußt beinahe ihm zublinzelte, um dann sofort den Blick zu senken.

»Schauen Sie sich nur das Getue an«, sagte die Gräfin Plessen zu Miß Bottchen. »Finden Sie nicht, daß diese Damen sich reichlich ungeniert benehmen?«

Miß Bottchen nagte unruhig an ihrer Lippe. Jetzt brauchen nur noch die Testinis zu erscheinen, dachte sie, und der Kladderadatsch ist da.

»Das gnädige Fräulein Schwester besitzen übrigens ein ausgesprochenes Kunstgefühl – und eine Fähigkeit, sich zu enthusiasmieren, die ansteckend wirkt.«

»Bitte, hören Sie auf! Wollen Sie sich über mich lustig machen? Ich finde das einfach geschmacklos«, rief Camilla überlaut. »Ich habe gar kein Kunstgefühl, bin total unwissend und ungebildet und stehe etwa mit dem gleichen Verständnis vor den Pyramiden wie das Kamel.«

Sie lachte verärgert auf. Ihr Ton hatte etwas Grelles und Beleidigendes. Es war ihr offenbar peinlich, in Gegenwart Tonis und Doktor Wanners von diesem Herrn komplimentiert zu werden.

Toni blickte sie erstaunt und befremdet an. Camillas Benehmen war herausfordernd und auf irgendeine Wirkung berechnet. Auch Doktor Wanner hatte aufgehorcht.

Der Großindustrielle murmelte ein paar 181 entschuldigende Worte. Er hätte sie gewiß nicht verletzen wollen – das hätte ihm selbstverständlich ganz fern gelegen.

»Was ist in Dich gefahren, Camilla – Du bist ja rein aus dem Häuschen?«

»Ach, bitte, laß mich! Ich bin müde – enerviert – möchte ins Bett!«

»Niemand hindert Dich«, entgegnete Toni kühl, und zum erstenmal stieg in ihr ein bestimmter Verdacht – ein ausgesprochen feindseliges Gefühl gegen die Schwester auf. Unmittelbar darauf schämte sie sich dieser Empfindung.

»Nimm Dich doch zusammen, Schwesterchen«, sagte sie begütigend und sah sie zugleich mit einem langen, prüfenden Blick an.

In dieser Sekunde lief ein Hotelboy aufgeregt von Tisch zu Tisch und schrie mit durchdringender Stimme:

»Telegramm for Miß Bottchen! . . . Miß Bottchen! . . .«

»Gestatten Sie!« Doktor Holzmann erhob sich, um dem Pagen die Depesche abzunehmen, drängte sich zwischen Tische, Stühle und Menschen, bis er ihn erwischt hatte.

»Ja, Miß Bottchen sitzt an meinem Tisch – Sie können außer Sorge sein.

Aber der Hotelboy ließ sich nicht beruhigen, folgte Doktor Holzmann und überreichte persönlich das Telegramm.

Sie öffnete es – las es, wechselte die Farbe, um es dann mit äußerster Selbstbeherrschung, ohne 182 aufzublicken, in ihrer Handtasche verschwinden zu lassen.

Dieser Vorgang war Doktor Wanner nicht entgangen. Er spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg – und das Hirn leer wurde.

»Bitte, mich zu entschuldigen, meine Damen, mir ist nicht ganz wohl, ich möchte einen Moment an die Luft – die Hitze – der Lärm –«

Toni sah ihm unruhig nach. Wanner mußte an Miß Bottchens Tisch vorbei. Sie unterhielt sich offenbar sehr angeregt und ignorierte ihn völlig.

»Hoffentlich nichts Unangenehmes, wie?« hörte er die Stimme Doktor Holzmanns.

»Im Gegenteil«, erwiderte die Bottchen akzentuiert.

Er schritt eiligst dem Ausgang entgegen.

»Der Mensch hat doch einen ausgezeichneten Kopf – das muß ihm der Neid lassen«, bemerkte Frau Doktor Holzmann. Ihr Gatte lachte grell auf.

»Mir scheint«, sagte er, »Du hast nun auch Feuer gefangen!«

»Er ist der Einzige an Bord, mein Lieber, der einen Kopf hat«, entgegnete sie, ohne von seinem Spott Notiz zu nehmen.

Wanner schritt unbedeckten Hauptes die Hotelfront ab. Die Luft war warm, der Himmel über ihm klar und wolkenlos. Er fühlte eine Schwäche in den Beinen – fühlte, daß seine Stirn feucht war. Ich darf mich nicht so lange entfernen, murmelte er vor sich hin – das muß ja auffallen, und jetzt heißt es, mit dieser Person abrechnen, endgültig abrechnen . . .

183 Er gab sich einen Ruck und trat wieder durch die Hoteltür.

»Ist Ihnen besser?« fragte Toni.

»Danke sehr, ich bin wieder ganz auf der Höhe – finden Sie nicht auch, daß es hier unerträglich heiß ist?«

»Gehen wir doch in die Hall!« schlug der Großindustrielle vor.

»Ich bin dabei« antwortete er, »warten wir jedoch noch ein paar Sekunden – ich möchte, daß wir unbemerkt verschwinden!«

Der Großindustrielle füllte ihm das Sektglas, und Wanner leerte es mit einem Zuge.

»Wenn es Ihnen jetzt recht ist, meine Herrschaften . . .«

Alle erhoben sich.

Ringsum knallten Pfropfen – klirrten Gläser – schwängerten Rüche und Speisedünste den Saal – schwirrten die bedienenden Araber durch das Gedränge – wurden die Laute aller Sprachen vernehmbar.

Miß Bottchen war im gleichen Moment aufgestanden und Wanner so unvermutet in den Weg getreten, daß ihm wider Willen ein leises »Ah« entschlüpfte.

»Haben Sie Zeit, Mister Wanner? Da ist soeben eine Nachricht eingetroffen, die für Sie von außerordentlichem Interesse sein dürfte – das beste ist, Sie begleiten mich in mein Zimmer – hier beobachtet man uns zu sehr!«

»Fräulein Wünsch!«

184 Toni und Camilla drehten sich im Nu gleichzeitig um.

»Miß Bottchen hat mir eine Neuigkeit zu übermitteln – erwarten Sie mich gütigst in der Hall!«

»Gehen wir in mein Zimmer!«

Die Bottchen nickte und folgte ihm auf dem Fuße. Sie traten stumm in den Fahrstuhl.

»Bitte, rechts«, sagte Wanner, als sie im dritten Stock angelangt waren. Er schritt voran – öffnete die Tür, riegelte sie nach Miß Bottchens Eintritt sofort zu und steckte den Schlüssel in seine Westentasche.

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß ich in der nächsten Viertelstunde ungestört mit Ihnen plaudern möchte.«

»Very well, Mister Wanner«, erwiderte sie mit unerschütterlicher Ruhe, obgleich ihre Pulse zu hämmern begannen.

»Darf ich bitten?« Er machte eine einladende Bewegung. Miß Bottchen gehorsamte – während er selbst ihr gegenüber Platz nahm.

Ohne weiteres zog sie das Telegramm aus der Tasche und überreichte es ihm wortlos.

Wanner entfaltete es. Er war vollkommen ruhig – nicht die mindeste Erregung lag auf seinen Zügen.

Er las: Nobelpreisträger auffallend klein – schneeweiß, 65 Jahre, Extraordinarius Gießen. Bild nicht erlangbar – da Doktor Wanner sich prinzipiell nicht photographieren läßt. Erwarten schleunigst Bericht.«

185 »Was soll ich damit? – was habe ich mit diesem Wisch zu schaffen?«

Miß Bottchen blieb für eine Sekunde das Wort in der Kehle stecken.

»Was das soll«, schrie sie dann unbeherrscht, »es beweist, daß Sie der größte Hochstapler sind, der noch auf freien Füßen herumläuft. Oder möchten Sie nicht die große Freundlichkeit haben«, fuhr sie mit äußerster Anstrengung fort, »mir über Ihren Nobelpreis – über Ihre Identität mit Professor Ernst Wanner in Gießen eine plausible Erklärung abzugeben!«

»Mit dem größten Vergnügen, meine Dame!«

Dabei blickte er sie mit einem Hohn an, der ihr den letzten Rest ihrer Fassung nahm.

»Ich habe niemals behauptet, den Nobelpreis empfangen zu haben. Wenn Sie, Miß Bottchen, mir das nachweisen können, haben Sie Ihr schamloses Spiel gewonnen!«

»Haben Sie es etwa geleugnet – haben Sie nicht die Gratulationen der ganzen Schiffsgesellschaft in Empfang genommen? Antworten Sie auf der Stelle – reden Sie – bilden Sie sich nicht ein – vor Ihnen stünde eine schwachsinnige Frau, mit der Sie Ihre Narrenpossen . . .«

Die Stimme war ihr übergeschnappt – ihre Züge schienen in eine fahle, käsige Blässe getaucht.

Dieser Ausbruch maßloser Wut steigerte noch Doktor Wanners Überlegenheit.

»Erstens bitte ich Sie, sich zu beherrschen – ich 186 könnte andernfalls Saiten aufziehen, die Ihnen unangenehm sein würden. Zweitens«, setzte er in eisigem Tone hinzu, »habe ich mir nie etwas eingebildet, am allerwenigsten in bezug auf Ihre Person, Miß Bottchen!«

»Ist das eine Antwort auf meine Frage?!«

»Nein, Miß Bottchen, die erhalten Sie jetzt! Ich habe den Irrtum damals unverzüglich aufklären wollen – aber die Menschen, diese Bande von Menschen, ließ mich nicht zu Worte kommen. So oft ich zu sprechen versuchte, strömte mir ein Redeschwall entgegen, daß mir buchstäblich übel wurde. Und Sie, Miß Bottchen, erinnern Sie sich dessen gefälligst – kletterten auf Ihren Stuhl, um gewissermaßen von der Galerie aus dieses widerliche Schauspiel zu betrachten. Sie sahen, wie man sich an mich herandrängte – meinen Körper abtastete – und mir die Kleider fast vom Leibe riß. Und nun will ich Ihnen noch etwas verraten –«

Er brach unvermittelt in ein so verrücktes Lachen aus, daß die Bottchen sich zu fürchten begann.

»Ich will Ihnen verraten«, fuhr er fort, nachdem er sich einigermaßen erholt hatte – »Sie allein sind schuld daran, wenn ich auch späterhin mich nicht entschließen konnte, diese alberne Geschichte richtigzustellen. Sie waren es, die über mich an Bord die infamsten Gerüchte verbreitete, mich unablässig bespitzelte und andrerseits mich wie eine Irrsinnige mit Ihren tollen Heiratsprojekten verfolgte. Und als dieselben Menschen, die auf Grund Ihrer Verdächtigungen hinter meinem Rücken getuschelt und 187 geflüstert hatten, mir plötzlich Weihrauch streuten – da machte es mir einen diebischen Spaß – sie an der Nase zu führen und die mir aufgezwungene Rolle zu Ende zu spielen. Es war mehr als ein Bluff, Miß Bottchen. Denn die Auszeichnung, die meinem Onkel, der, nebenbei bemerkt, mein Pate gewesen ist – widerfuhr, hat auf mich nicht den geringsten Eindruck machen können. Das Votum dieser Idioten interessiert mich nicht. Ich weiß, daß die Arbeiten des Gießener Professors den Vergleich mit meinen eigenen Entdeckungen nicht auszuhalten vermögen. Das Urteil hierüber wird die Nachwelt fällen. So, Miß Bottchen, jetzt hätten Sie die gewünschte Klarheit! Aber der Schlußpunkt fehlt noch! Ich habe Sie in mein Zimmer geführt, weil ich eine flüchtige Sekunde glaubte, es sei Ihren niederträchtigen Intrigen gelungen, gegen mich einen Haftbefehl zu erwirken! In diesem Falle, Miß Bottchen, hätte ich Sie, ohne mich nur einen Moment zu besinnen, niedergeknallt!«

Miß Bottchen war weiß wie ein Linnen geworden.

»Das wäre Ihnen zuzutrauen, Mister Wanner«, preßte sie aus trockener Kehle hervor.

Sie war dem Zusammenbruch nahe.

Doktor Wanner riegelte die Tür auf und öffnete sie sperrangelweit.

»Bitte, meine Gnädige«, sagte er äußerst verbindlich.

Im Korridor blieb sie eine Weile stehen und schöpfte Atem.

»Diesem Verbrecher bin ich nicht gewachsen«, 188 murmelte sie und hielt die Hände an ihre Schläfen. Sie fühlte, wie sie die Zusammenhänge verlor, nicht mehr aus noch ein wußte und kaum noch auf den Füßen sich zu halten vermochte. Alle ihre Schiffe sah sie untergehen, ihre Rolle beim Polizeipräsidium ausgespielt und dazu noch die Gefahr, zum alten Eisen geworfen zu werden.

Das allein hätte sie gewiß nicht niedergedrückt. Es war schon gescheiteren Leuten passiert, eine Sache gründlich verkorkst zu haben. Aber vor sich selbst kam sie sich zertreten vor. Ihr Selbstbewußtsein hatte einen Stoß erlitten. Sie war zu einer lächerlichen Figur herabgesunken. Denn mit der Verheiratung Doktor Wanners hatte sie felsenfest gerechnet – an die Realisierung dieses Plans ihre Zukunftsträume geknüpft. Das sollte der große Coup werden, durch den sie endlich die lang ersehnte Bewegungsfreiheit zu gewinnen hoffte.

Und nun schien der von ihr errichtete Bau in allen seinen Grundlagen zu wanken und dem Einsturz nahe.

Doktor Wanners Ausführungen waren so logisch, so einwandfrei gewesen, hatten etwas so Bestechendes gehabt, daß ihre Gegenargumente zerronnen waren. Würde sie sich jemals von dem Schlage erholen! Nicht nur ihre Sicherheit und Unbefangenheit hatte sie eingebüßt – zu alledem mußte sie noch gewärtigen, daß dieser Bursche, ohne mit der Wimper zu zucken, sie eines Tages beseitigen würde.

Miß Bottchen wimmerte leise – und dann sah sie ihn, wie er jetzt in seinem Hotelzimmer 189 triumphierend auf und nieder ging, sich die Fäuste vor Vergnügen rieb, weil sie ihm so dumm und sinnlos ins Garn gegangen war.

Oh, sie kannte den unsagbaren Zustand animalischer Freude, der einen aufriß – und in alle Himmel hob – einen Aufruhr der Lebenskräfte erzeugte, im Vergleich zu dem alle anderen Lüste und Wonnen, alle Steigerungen, Genüsse und Erregungen des Daseins verblaßten.

Sie stampfte gegen ihre Absicht mit den Füßen auf.

Nein – nein – nein, wiederholte sie außer sich – und zugleich grub sich in ihr Antlitz eine fanatischer Zug, jener Ausdruck der Besessenheit, dem man so oft in den Gesichtern geisteskranker Menschen begegnet.

Sie raffte sich gewaltsam zusammen. Dieser Halunke entgeht mir nicht – ich halte ihn mit eisernen Klammern.

Hocherhobenen Kopfes ging sie die Treppe herunter, glättete ihre Stirn und strich über ihr wirres, in Unordnung geratenes Haar.

Mit einem harmlosen Lächeln, als hätte sich inzwischen nichts ereignet, trat sie in die Hall und begrüßte mit besonderer Herzlichkeit Herrn und Fräulein Testini.

 


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