Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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4

Praller Sonnenschein! Alles räkelt sich, in leichte Decken gehüllt, bequeme Polster im Rücken auf den Liegestühlen.

Miß Bottchen befand sich allein im Schreibzimmer und erledigte eine umfangreiche Korrespondenz. Ganz in ihre Schreiberei vertieft, hatte sie Doktor Wanners Eintritt nicht bemerkt und stieß bei seinem Anblick einen leisen Schrei des Schreckens aus.

»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Miß Bottchen, wenn ich Sie in Ihrer Nachtruhe gestört habe . . .«

»Oh, bitte, bitte sehr, davon ist gar nicht die Rede gewesen«, antwortete Miß Bottchen, die sehr rasch ihre Fassung wiedergefunden hatte.

40 »Ich wollte«, fuhr Doktor Wanner fort, »Sie lediglich darüber aufklären, daß die von Ihnen gemachten Feststellungen nicht ganz den Tatsachen entsprechen. Ich entsinne mich nämlich nicht, jemals einen Tropfen mehr getrunken zu haben, als meiner Konstitution bekömmlich ist.«

»Herr Doktor . . .«

»Bitte, lassen Sie mich ausreden – auch wegen dieser irrtümlichen Behauptung wage ich es nicht Ihnen einen Vorwurf zu machen. Gerüchte werden so leicht in Umlauf gesetzt und finden rasch Nahrung und Verbreitung. Aber darf ich Sie fragen, mit welchem Recht – aus welchem Anlaß Sie mich mit Ihrem unablässigen Interesse verfolgen?«

Miß Bottchen, auffallend blaß geworden, rückte auf ihrem Stuhle unruhig hin und her.

»Mister Wanner, ich bin ganz außer mir über diese Enthüllungen – wie dürfte ich es wagen – –«

»Das gleiche habe ich mich gefragt«, unterbrach er sie. »Indessen, einmal gewarnt, habe ich ebenfalls meine Informationen eingezogen und dabei erfahren . . .«

Ihre Zähne schlugen bei diesen Worten zusammen.

»Sehen Sie sich vor«, sagte er ironisch lächelnd, »Sie könnten sonst leicht Ihr Gebiß verlieren – also«, fuhr er fort, »Sie haben den Zimmersteward, die Stewardeß und die Angestellten des Büros über mich ausgeforscht und von dem Bibliotheksteward an mich adressierte Briefe erbeten – mit der Erklärung, Sie seien von mir dazu ermächtigt. Wenn der 41 Betreffende Ihnen meine Post nicht auslieferte, so war das nicht Ihr Verdienst. Stimmt das – oder stimmt das nicht? Ich darf Sie wohl ersuchen, mir meine Frage klipp und klar zu beantworten!«

Miß Bottchen schnappte nach Luft – für Sekunden glich sie einer Ertrinkenden. Ihr Gesicht war fahl geworden – um ihre aufgeworfenen Lippen zuckte es.

Doktor Wanner ließ keinen Blick von ihr – es war, als ob seine Augen sie wie Zangen hielten.

»Es ist ganz zwecklos«, meinte er nach einer unverhältnismäßig langen Pause, »wenn Sie sich aufs Leugnen werfen. In diesem Falle wäre ich genötigt, andere Saiten aufzuziehen. Noch haben Sie es in der Hand, daß unsere Unterredung einen rein privaten und persönlichen Charakter behält. In zehn Minuten sind Sie vielleicht nicht mehr Herrin der Situation. Das ist mein letztes Wort – und nun entscheiden Sie sich rasch – ehe es zu spät ist.«

Seine Züge waren aufs äußerste gestrafft – und hatten einen beängstigenden Ausdruck angenommen.

Die Stimme der Bottchen schlug über.

»Kein Grund, sich derartig zu erregen, Mister Wanner. Es stimmt – ich habe Ihnen nachgespürt – ist meine Pflicht und Schuldigkeit.«

Doktor Wanner schien eine Sekunde entsetzt.

»Was sagen Sie da?« stieß er hervor, und die Stirnadern begannen ihm anzuschwellen.

Miß Bottchen war mit einem Male wie verwandelt.

42 »Ja, meine Pflicht und Schuldigkeit«, wiederholte sie. »A propos, Sie sind Arzt, Herr Doktor – darf ich fragen, aus welchen Gründen Sie in der Schiffsliste Ihren Beruf nicht angegeben haben.«

»Und woher wissen Sie, daß ich Arzt bin?«

»Ich habe Ihre kleine, lederne Handtasche geöffnet«, erwiderte sie mit kaltblütiger Unverschämtheit, »und aus ihrem Inhalt – aus den komplizierten Instrumenten geschlossen, daß Sie Mediziner sein müssen. Außerdem hat man in Ihrer Kabine größere Quantitäten von Morphium, Atropin und anderen Giften gefunden. Sie sind doch Mediziner?«

Er war jetzt ganz dicht an sie herangetreten.

»Ich bin Mediziner«, sagte er mit gedämpfter Stimme – und zugleich war seine Haltung und Miene so drohend geworden, daß sie unwillkürlich die Arme schützend vor sich hielt.

»Wenn Sie mich anrühren – so schreie ich laut – verlassen Sie sich darauf!«

»Ich denke nicht daran – ich habe ganz andere Mittel, gegen Sie vorzugehen. Und jetzt zu etwas anderem! Nachdem Sie für meinen Stand ein so ungewöhnliches Interesse an den Tag gelegt haben, darf ich Sie wohl nach Ihrem Beruf fragen!«

Sie sah ihn durchdringend an, und ihr Gesicht bekam mit einem Schlage etwas lächerlich Gespreiztes und Hochmütiges.

»Ich glaube Ihnen eine Antwort schuldig zu sein, um mich in Ihren Augen zu rehabilitieren. Also, ich stehe im Dienste der Polizei.«

»Auf eine derartige Erklärung«, erwiderte er, 43 »bin ich gefaßt gewesen. Sie sind mit einem Worte Detektivin, polizeiliche Spionin, oder wie man es sonst nennen will.«

»So ist es, ich diene dem Staate.«

»Dem Staate –« er wollte sich schief lachen.

»Dem Staate«, wiederholte sie nochmals, »der vor gewissen Elementen geschützt werden muß, die seine Sicherheit und Ordnung gefährden. Ist übrigens Ihr wirklicher Name nicht Göhring?« warf sie scheinbar harmlos dazwischen.

Sein Gesicht nahm jetzt einen Ausdruck an, der sie sichtlich verwirrte.

»Ich brauche nicht mehr zu wissen«, antwortete er. »Sie indessen werden alles Weitere in Athen erfahren, wo Sie in meiner und des Kapitäns Begleitung Gelegenheit haben dürften, die Einzelheiten Ihrer Mission zu Protokoll zu geben. Zuvor werde ich an Bord unverzüglich Mitteilung machen, unter wessen Schutz die Passagiere sich befinden – wem sie im Interesse der allgemeinen Ordnung – Sie stehen doch, wie Sie sagten, im Dienste der Polizei – anvertraut sind – das einfachste wäre, wenn Sie mich auf der Stelle zu Kapitän Groen begleiten würden.«

Miß Bottchen wechselte die Farbe.

»Ich muß Sie bitten, Mister Wanner, mich noch eine Minute anzuhören. Daß hier ein fatales Mißverständnis meinerseits vorliegt, gebe ich unumwunden zu. Um ganz aufrichtig zu sein, um einen Weg der Verständigung mit Ihnen zu finden – ich habe durch die Affäre eines gewissen Doktor Göhring, die durch 44 die gesamte deutsche Presse gegangen ist – Sie haben sicherlich davon gehört . . .«

»Bedaure«, schnitt Wanner ihr das Wort ab, »ich lese keine Zeitungen – habe Wichtigeres zu tun.«

»Darf ich Ihnen einige Daten mitteilen?«

»Das interessiert mich gar nicht. Kommen Sie endlich zur Sache.«

»Gut, ich meinte die Fährte dieses aus dem Zuchthaus entsprungenen Doktor Göhring gefunden zu haben – sobald ich indessen am Ziel zu sein glaubte, verwischte sich im letzten Augenblick die Spur. Schließlich wähnte ich, sichere Anhaltspunkte zu besitzen, daß Sie, Mister Wanner, mit dem genannten Herrn identisch seien. Eine Viertelstunde, bevor Sie das Schiff bestiegen, war ich an Bord, um Ihre Personalien festzustellen und bei einem positiven Ergebnis meiner Nachforschungen – –«

»Mich verhaften zu lassen!« fiel ihr Doktor Wanner in die Rede.

»So ist es«, nickte sie, »Beruf ist Beruf – von irgendetwas muß der Mensch existieren. Ich bin genug Psychologin«, schloß sie und lächelte dabei auf eine demütige, niederträchtige Art, »um nicht einzusehen, daß ich durch allerhand seltsam zusammentreffende Zufälle mich in fixe Vorstellungen und Kombinationen verrannt und infolgedessen falsche Schlüsse gezogen habe. Mister Wanner, das ist gescheiteren Leuten als mir passiert – und eine Konfrontation auf der griechischen Botschaft schreckt mich weniger, als Sie anzunehmen scheinen. Gewiß, ein derartiger Zwischenfall ist auch für mich 45 peinlich – aber schließlich weiß meine vorgesetzte Behörde, daß Fehler nicht zu vermeiden sind.«

»Dann ist ja alles für Sie in schönster Ordnung – und ich darf Sie bitten, mir zum Kapitän zu folgen.«

Er machte eine einladende Handbewegung.

»Mister Wanner, Sie sind ein Gentleman, und ich meinerseits bin gegen Sie so aufrichtig gewesen, wie meine Lage es gestattete. Ich gehe noch weiter: Ich habe mit voller Überlegung mich der üblen Nachrede gegen Sie schuldig gemacht, weil ich annahm, daß dadurch einer von den zweihundert Passagieren stutzig werden und meine Verdachtsannahmen durch irgendwelche Tatsachen stützen könnte. Außerdem müssen Sie zugeben, daß Sie ein äußerst auffälliges Benehmen zur Schau trugen. Hinterher sagte ich mir freilich, daß erfahrungsgemäß ein kriminell Verdächtiger sich anders bewegt und sich hüten wird, durch eine derartige Isolierung die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber wie gesagt – ich war von einer fixen Vorstellung besessen und bereits zu befangen, um die Dinge klar zu übersehen. Und nun appelliere ich an Ihre Noblesse. Sie werden mich nicht dieser Blamage auf dem Schiffe aussetzen – Sie werden die ganze Geschichte ad acta legen.«

»Ich denke gar nicht daran. Am liebsten würde ich Sie kurzerhand über Bord werfen und für immer unschädlich machen.«

Sie blickte ihn starr an: »Sie wären dazu imstande«, erwiderte sie, gegen einen Guß von Tränen mühsam ankämpfend. Dann umklammerte sie seine Hände.

»Mister Wanner, haben Sie Mitleid, schonen Sie 46 mich – ersparen Sie mir eine solche Katastrophe – bei Gott, Sie würden es nicht zu bereuen haben.«

»Sind Sie von Sinnen?« unterbrach er sie. »Nach Erledigung des Falles möchte ich weder jetzt noch in Zukunft irgendetwas mit Ihnen zu schaffen haben.«

»Lassen Sie mich ausreden, Mister Wanner – hören Sie mich ruhig bis zu Ende an. Selbst wenn meine Ahnungen sich bestätigt hätten – wenn Sie tatsächlich –« fuhr sie langsamer fort, »jener Doktor Göhring gewesen wären, nach dem ich seit langem fahnde – ich würde es mir dreimal überlegt haben – –«

»Was, wenn ich fragen darf?«

»Ob ich Sie der Polizei ausgeliefert hätte.«

Dies Spiel hielt Doktor Wanner in Atem. Er kniff die Augen ein wenig zusammen und spürte, daß seine Pulse schneller arbeiteten, daß sein Gesicht sich umschattete.

»Offner kann man seine Karten nicht aufdecken«, setzte sie leiser hinzu, »nein, ich hätte Sie bestimmt nicht preisgegeben aus Mitleid, Gott bewahre, dazu bin ich nicht sentimental genug, nein, ich hätte mit Ihnen ein lohnenderes Geschäft gemacht.«

Er begriff sie offenbar nicht.

»Sie sind ein großes Geschäft, Mister Wanner – ich würde Sie hier an Bord mit fünfmalhunderttausend Mark, was sage ich, mit einer Million – mit zwei Millionen verheiratet haben – es wäre ganz auf Sie angekommen, in Ihrem Willen – in Ihrer Macht hätte es gelegen, die Höhe des Betrages zu bestimmen.«

47 Ihre Miene zeigte jetzt jene geile Erregung, die eine gewisse Sorte von Weibern zur Schau trägt, wenn sie die Herrschaft über sich verloren hat.

Doktor Wanner lachte so derb auf, daß sie mit einem erschrockenen »Pscht . . . Pscht« ihn zur Vorsicht mahnte.

»Lachen Sie nicht, Mister Wanner, Sie haben den sogenannten sexappeal, sind der richtige Mann für die Weiber – jede von ihnen würde sich, Gott weiß wie, erniedrigen, wenn es ihr gelänge, Sie einzufangen – hier an Bord ist schlecht gerechnet – ein Dutzend.«

»Ich glaube, Sie sind übergeschnappt – und welches persönliches Interesse hätten Sie?«

»Ein außerordentliches, Doktor Wanner! Ich bin im Hauptberuf Heiratsvermittlerin und übe meine Tätigkeit auf den großen Amerikaschiffen aus; nur zuweilen mache ich kleinere Spritztouren auf den internationalen Vergnügungsdampfern. Es kommt ganz darauf an, ob mich die Schiffsliste reizt. Was meinen Sie, wieviel exquisite Partien ich schon arrangiert habe! Aufrichtig gestanden, die große Provision für eine Heiratsvermittlung – mit kleinen Objekten gebe ich mich nicht ab – reizt mich denn doch etwas mehr als die von der Polizei ausgesetzten Prämien. Glauben Sie mir, es ist ein unangenehmes, mit den heftigsten Erschütterungen verknüpftes Gewerbe, einen Menschen wie ein gehetztes Wild zu verfolgen. Ich trage mich schon lange damit, diesen häßlichen Nebenberuf schießen zu lassen – was meinen Sie, Mister Wanner?«

48 »Sie spitzeln demnach nur en passant, während Ihre eigentliche Liebe den Menschen, den ledigen Menschen gilt?«

»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen«, ergänzte sie mit einem schmalzigen Lächeln.

»Und an der Erhaltung des Staates ist Ihnen im Grunde genommen wenig gelegen?«

»Ach, mein Herr, das sind doch nur Vokabeln, die man sich und anderen gegenüber zu seinem Selbstschutz gebraucht. Ein großer Mann hat einmal gesagt: ›Der Staat bin ich‹, das gilt auch für mich! Ich lasse den Staat gelten, solange er meine Existenz anständig verbürgt.«

»Und Ihre beiden Tätigkeiten«, antwortete Doktor Wanner, »halten Sie vereinbar mit Anstand und Sitte – mit Gesetz und Ordnung?«

»Selbstverständlich, mein Herr, denn vom Schutz der Bürger – von der Verbindung der Geschlechter lebt der Staat.«

»Das ist allerdings eine unwiderlegbare Definition!«

»Bitte, mein Herr, bitte, die Medaille hat noch eine Kehrseite. Wenn der Staat keine Verbrecher mehr hat, wie soll er da seine Daseinsberechtigung nachweisen – wie die hungrigen Mäuler seiner Beamten stopfen – den ganzen Apparat überhaupt rechtfertigen. Der Staat braucht seine Verbrecher wie sein tägliches Brot – er braucht sie genau so wie seine Schuster – Professoren – Beutelschneider. Der Verbrecher ist für ihn mindestens so wichtig wie der gute Bürger, der niemandem ein Haar krümmt. Oh, mein Herr, ich habe darüber in schlaflosen 49 Nächten nachgedacht und mit dem Problem mich auseinandergesetzt . . . Nicht wahr, mein Herr, Sie werden eine anständige Frau nicht ins Unglück stürzen?«

»Nein«, entgegnete Doktor Wanner. »Sie haben mich bis zu einem Grade entwaffnet, daß ich nicht die mindeste Angriffslust mehr verspüre.«

»Sehen Sie, ich habe es gewußt. Zwei gescheite Menschen verständigen sich immer noch, nur Dummköpfe reden aneinander vorbei. Darf ich mir noch eine Frage erlauben: Autorisieren Sie mich, mit den Testinis anzuknüpfen, die Testinis gehören zu den reichsten Familien Hamburgs – Herr Testini . . .«

»Unterstehen Sie sich! Ich war dreimal verheiratet – bin zweimal geschieden und lebe getrennt von meiner letzten Frau.«

»Da haben wir's! – Sie sind ein Mann, auf den die Weiber anbeißen – auf den sie fliegen wie die Motten zum Licht.«

»Lassen wir das«, sagte Wanner kurz. »Ich habe genug an diesem Gespräch. Trotz Ihres beispiellosen Benehmens haben Sie mich dazu gebracht, vorläufig mit Ihnen Frieden zu schließen. Damit, denke ich, ist die Angelegenheit fürs erste abgetan.«

Miß Bottchen erhob sich. »Fürs erste, sagen Sie. Ich bitte Sie inständig, begraben wir die Streitaxt – die Deutschen nennen es doch so?«

»Woher stammen Sie eigentlich, Miß Bottchen?«

»Oh, Mister Wanner, Sie sind ein Schlauer – ein Überschlauer. Natürlich bin ich in Tarnowitz 50 geboren – und Sie, mein Herr«, fügte sie ohne jeden Übergang hinzu, »sind niemals verheiratet gewesen, sehen dermaßen unverheiratet aus, daß, falls Sie es beschwören sollten, ich einen Gegeneid leisten würde.«

»In diesem Punkte traue ich Ihnen unbedingt. Leute Ihres Schlages nehmen alles auf ihren Diensteid – scheuen vor keiner noch so gemeinen Handlung zurück.«

»Mister Wanner, von einem Menschen, der so viel hinter sich hat wie ich – dem das bißchen Leben so verdammt schwer gemacht wurde, dürfen Sie nicht verlangen, daß er in der Wahl seiner Mittel besonders fein ist. Ich für mein Teil habe es noch nie einem Verbrecher verargt, wenn er sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen den Ordnungsstaat wehrte.«

»Demnach bejahen Sie den Staat nicht unter allen Umständen?«

»Mister Wanner, halten Sie mich für so beschränkt? Der Staat ist das große Gefängnis, in dem wir alle schmachten. Er beraubt uns unserer Freiheit, zieht uns den letzten Groschen aus den Taschen, um seine Schmarotzer, die er Beamte nennt, zu mästen. Und zuletzt, wenn wir uns für ihn die Knochen morsch gerieben haben, versetzt er uns den bekannten Tritt in den Hintern – läßt uns wie Hunde auf der Straße verrecken. Nein, das ist ein verkehrtes Bild – Hunde werden anständiger behandelt.«

Wanner blickte sie groß und ernst an.

»Jetzt pfeifen Sie aus einem ganz anderen Loch.«

51 »Mein Herr, ich habe stets verschiedene Meinungen auf Lager – je nach Bedarf, mein Herr! Das ist eine Eigenschaft, die ich mit bedeutenden Persönlichkeiten teile.«

»Und was waren Sie, bevor Ihre Tätigkeit als Polizeiorgan und Heiratsvermittlerin einsetzte?«

»Es gibt nichts, was ich nicht schon einmal im Leben gewesen wäre. Als Studentin habe ich begonnen – und zur Polizei kam ich durch meinen letzten Gatten, der in ihrem Dienste stand. Nun, Mister Wanner, wissen Sie von mir eigentlich alles – bis auf ein paar gleichgültige Bagatellen – und was für Sie wichtiger und wertvoller ist – Sie besitzen an mir eine Freundin für Leben und Sterben.«

Beide Menschen fixierten sich mit einem eigentümlichen Blick. Und hinter beider Stirn arbeiteten die sonderbarsten Vorstellungen.

»Sie mißtrauen mir noch, mein Herr, ich spüre es deutlich. Bitte einen Augenblick. Urteilen Sie selbst.«

Sie kramte ungeduldig mehrere Sekunden in ihrer Handtasche, bis sie eine Photographie in Oktavformat hervorzog.

»Bitte, sagen Sie selbst, ob nicht zwischen diesem Bild und Ihnen eine frappante Ähnlichkeit besteht: Gewiß – Sie haben augenblicklich mehrere Schmisse – Ihr Gesicht ist bartlos und Ihr Haar glatt gescheitelt – aber wir von der Polizei wissen doch, daß derartige Veränderungen ein Kinderspiel sind! – Ist es da so unbegreiflich, wenn ich eine Zeitlang felsenfest glaubte, Sie und kein anderer wären . . .«

52 Wanner hatte ihr die Photographie aus den Händen genommen. Während er sie betrachtete, ließ Miß Bottchen kein Auge von ihm. Auf seinen Zügen war nicht die leiseste Bewegung erkennbar.

»Bitte«, sagte er und gab ihr das Bild zurück. »Es ist wohl der strafbarste Leichtsinn, auf eine so flüchtige Ähnlichkeit hin einen Menschen zu verfolgen und unter Umständen auf unabsehbare Zeit hinter Schloß und Riegel zu bringen.«

»Jeder Mensch ist dieser Gefahr ausgesetzt«, meinte sie begütigend, »wir sind oft in der Zwangslage, hundert Verhaftungen vorzunehmen, ehe es glückt, den Schuldigen zu klappen. Sehen Sie, der Fall dieses Doktor Göhring ist besonders interessant . . .«

»Und Sie persönlich haben an solcher Hetzjagd Ihr Vergnügen?«

»Ach, Mister Wanner, das ist eine Frage, die man nicht ohne weiteres mit einem Ja oder einem Nein beantworten könnte. Es hat schon seinen Reiz, hinter einem herzujagen – das flüchtige Wild zur Strecke zu bringen. Oh, das hat schon seinen Reiz, mein Herr! Da gibt es tausend Kombinationen – da hat man hundertmal die Fäden verloren, und schließlich hat man mit einem Male wieder die richtige Witterung – und gewöhnlich«, schloß sie langsam, die Stimme ein wenig senkend, »war der erste Instinkt der richtige. Nicht wahr, das ist merkwürdig, Mister Wanner?« Bei diesen Worten legte sie die Photographie wieder in ihr Ridiküle.

Eine kurze Weile schwiegen beide.

53 »Es muß nicht unbedingt die Testini sein«, nahm Miß Bottchen das Gespräch wieder auf – »es gibt noch andere Damen an Bord, ich versteife mich keineswegs auf dieses kleine Fräulein, obwohl . . .«

Wanner schlug auf den Schreibtisch.

»Ich ziehe alle meine Zusagen zurück, wenn Sie noch eine Silbe über diesen lächerlichen Gegenstand verlieren.«

»Bitte, mein Herr, ganz nach Ihren Wünschen.«

Mit einer etwas zu stark betonten Würde verließ sie das Schreibzimmer.

 


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