Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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8

Maskenball an Bord der »Orinoco«.

Lange vorher schon herrschte unter den Passagieren die größte Aufregung über das bevorstehende bunte Ereignis. Man diskutierte in kleinen Gruppen, flüsterte und tuschelte geheimnisvoll, beriet, mit welchem Bluff man die Gesellschaft am wirksamsten überrumpeln könnte.

Dabei wurde im allgemeinen die Taktik befolgt, sich gegenseitig anzulügen, um beim Feste selbst um so stärker zu überraschen. Endlich kam der ersehnte Tag.

Das ganze Schiff war dem Zwecke entsprechend hergerichtet. Durch die Decks zogen sich Ketten bunter Lampions, Speisesäle und Tanzdiele waren, soweit es anging, ausgeräumt, die Beleuchtungskörper ausgeschaltet und die kleinen Tischlampen mit roten Schirmen versehen worden, so daß alle Räume ein phantastisches, abenteuerliches, spukhaftes Aussehen erhielten.

Die Welt war durch ein paar armselige Mittel zum 78 Mysterium geworden. Dem Drange der Menschen, für ein kleines die Wirklichkeit zu vergessen, in rätselhaftes Dunkel unterzutauchen, für ein paar Stunden wenigstens die Rolle zu spielen, die der Alltag ihnen versagt hatte – war Genüge getan.

Da erschien ein baumlanger Kerl, wie man ihn in dieser Größe niemals an Bord gesehen zu haben meinte, als englischer Clown, dick gepudert, rote Tupfen auf den Backen, mit den langen Armen und den in schneeweiße Handschuhe gehüllten Riesenhänden groteske Bewegungen ausführend – und zugleich in tollen Sätzen von einer Gruppe zur anderen springend. Zwischen Himmel und Erde schien der unheimliche Geselle beständig zu schweben.

Da tauchten, die Gesichter unter Masken verborgen, schottische Dudelsackpfeifer auf und ließen ihre eintönigen, seltsamen Klänge hören.

Und dann kam der aufgeschwemmte Versicherungsdirektor in Kapitänsuniform, sofort durch seinen wallenden schwarzen Vollbart verraten – aber neben ihm stand, zum Schrecken und Gelächter aller, eine Erscheinung, die ihm derartig glich, daß man glaubte, sein zweites Ich sei ihm plötzlich zur Seite getreten.

Da wurde von einem hochragenden Araber ein zwerghafter Japaner an der Leine herumgeführt, da erschien ein blutjunger Matrose mit mädchenhaften Gliedmaßen, und zwischendurch schwirrten Derwische, Lastenträger, Zigeunerinnen, spanische Granden, Apachenpaare, verdächtiges Hafengesindel und Damen aus der großen Welt in kostbaren Gewändern durch den Saal.

79 Die Musikanten spielten in gedämpften Tönen, so daß man den Eindruck hatte, die Musik dränge aus weiter Ferne zu den wirbelnden Paaren.

Camilla Wünsch war in kurzem, gelbem Mullrock als eine jener Tänzerinnen erschienen, die man aus den berühmten Bildern von Degas kennt. Zuweilen lüftete sie ein wenig die Maske, so daß man strahlende, dunkel umränderte Augen sah, um dann irgendein männliches Individuum vorsichtig zu berühren und ihm einladende, betörende Worte zuzuflüstern.

Toni, in der mittelalterlichen Tracht eines Scholaren, die ihren schlanken Wuchs wundervoll hervortreten ließ, verfolgte die Schwester mit erstaunten Blicken. Sie kam ihr fremdartig und verwandelt vor, schien ganz mit dem Getümmel eins geworden und spielte die dreiste Rolle mit nachtwandlerischer Sicherheit. Wie ist das nur möglich? fragte sie sich im stillen. Sie schlich ihr nach und glaubte Augen und Ohren nicht zu trauen, als sie plötzlich wahrnahm, wie Camilla den Clown leise am Ärmel zupfte und ihm zuraunte: »Du gefällst mir, mein Junge, wenn Du Lust hast, um 12½ Uhr oben auf der Kapitänsbrücke.«

Was ist das für ein Luderchen? dachte sie, während sie selbst in der aufgerührten Menge, in dem allgemeinen Geflüster und Gekose, in dem erregten Austausch heimlicher Zärtlichkeiten, in den aufgefangenen, mehr oder weniger derben Anzüglichkeiten sich verloren und an falscher Stelle fühlte. – Was habe ich im Grunde genommen hier zu suchen? 80 Bin ich nicht viel zu alt für diese Jugend? Passe ich überhaupt noch in den Kreis harmlos vergnügter Menschen?

Sie glaubte auf einmal zu erkennen, daß trotz ihren vierundzwanzig Jahren die erste Blüte von ihr abgefallen war, daß das Alter auf leisen, unhörbaren Sohlen sich an sie herangeschlichen hatte. War sie wirklich schon abseits von Wünschen und Begierden, war diese Stunde dazu bestimmt, ihr Fingerzeige und Warnsignale zu geben, ihr Klarheit zu schaffen, daß sie im Begriff stand, in ein reiferes, wunschloseres Wachstum hinüberzugleiten!?

Sie fühlte, wie sie ungeachtet der Wärme des Raumes zu frieren begann. Sie schrak sichtlich zusammen. Ein Arm legte sich um ihren Rücken – eine Hand berührte ihren Hals.

»Sie tanzen sonderbar, meine Dame, Sie berühren den Boden nicht und stehen dennoch auf der Erde. Sie sind in meinen Armen – und ich spüre Sie kaum. Sind Sie von dieser oder einer anderen Welt?«

»Wer und was ich bin, Doktor Wanner«, fragte sie ganz leise – denn sie wußte untrüglich, daß kein anderer als Wanner, der mit dem scharlachroten Talar und der weißen Allongeperücke eines britischen Richters angetan war, sie umschlungen hielt.

»Sie sind Toni Wünsch, die es nur einmal gibt«, antwortete er in dem gleichen Tonfall.

»Das kann viel und wenig bedeuten.«

»Es bedeutet, daß Sie zu den Einsamen gehören, mit denen das Leben nicht sanft umzugehen pflegt.«

81 »Und woraus schließen Sie das?«

Ihrer beider Blicke trafen sich.

»Ich schaue in Sie wie in ein durchsichtiges Kristall – vielleicht könnte ich auch sagen, wie in einen trüben Spiegel.«

»Und was sehen Sie?«

»Einen suchenden und einen fliehenden Menschen!«

Sie lachte etwas verängstigt und gezwungen auf.

»Sind Sie Wahrsager, Doktor Wanner – oder spielen Sie diese Rolle nur heute Nacht?«

»Heute nacht bin ich Richter über Leben und Sterben – über Freiheit und Zwang – über Gegenwart und Zukunft. Meine Tracht sagt es Ihnen!«

»Und morgen?«

»Auf der Flucht wie Sie, meine Dame! Nur mit dem Unterschied, daß Sie vor sich selbst auf der Hut sein müssen, während ich – –«

»Sprechen Sie weiter, Doktor Wanner!«

»Es ist nichts mehr hinzuzufügen, mein gnädiges Fräulein! Die Formel lautet: Ich bin am Ende – und Sie am Anfang der Dinge!«

Er zog sie bei diesen Worten mitten in das dichteste Gedränge. Seine Hände ruhten auf ihr, ohne sie zu belasten – und trotzdem fühlte sie etwas Gewaltsames, das ihr Furcht einflößte, sie betäubte – und zugleich wie ein süßer Strom in ihr Blut ging. Sie schloß unwillkürlich die Lider, ließ sich von ihm führen, tragen – und glaubte über den Wassern, nicht über den Schiffsboden zu gleiten.

»Sie durchschauen mich also – obwohl Sie kaum 82 drei Worte mit mir gewechselt haben – wie wollen Sie diese unheimliche kleine Lüge begründen?«

»Gar nicht! Es gibt Beweise! Ich spüre Sie einfach – spüre Ihr gefährliches Blut!«

Sie sah ihn groß an – eine stumme Frage in den Augen. Er, mit leiserer Stimme: »Sehen Sie, solch ein Ball offenbart den Sinn unserer Existenz. Wir enthüllen uns – während wir im Alltag uns verkriechen und verstecken, fremde Gesichter aufsetzen – eine fremde Sprache reden, nur, um unseres Lebens sicher zu sein! Wollen wir nicht ein wenig ausruhen?« fügte er hinzu, als die Musik gerade abriß. »Und nun zeigen Sie mir eine Sekunde Ihr Gesicht!«

Toni Wünsch tat es widerspruchslos; sein durchdringender Blick tat ihr weh, und wieder überkam sie ein Zustand der Angst.

»Mitten ins Unglück werden Sie hineintapsen, denn so beherrscht Sie äußerlich erscheinen, so unruhig hämmert und rumort es in Ihrem Blute, und eines Tages . . .«

»Wissen Sie, daß es sehr häßlich von Ihnen ist, die unwahrscheinlichsten Behauptungen aufzustellen und dann im entscheidenden Moment abzubrechen.«

»Eines Tages«, ergänzte er langsam, »wird, was Sie mühsam zurückgedrängt haben, aus Ihnen herausbrechen und Sie verschütten.«

»Wäre es dann nicht gescheiter, sich leise davonzustehlen? Man geht an Deck, beugt sich ein wenig vornüber, und alles ist vorbei!«

Er machte eine kleine Pause, ehe er entgegnete:

83 »Gewiß wäre das in vielen Fällen der Ausweg – der einzige vielleicht! Aber sehen Sie – und das ist das Seltsame –, man hat einen ruchlosen Glauben an sich, man bildet sich ein, Schicksal zu spielen, sich und seinen Verfolgern entrinnen zu können!«

»Werden Sie denn verfolgt, Doktor Wanner?«

Sein Gesicht verzog sich auf eine merkwürdige Art.

»Ich folge, von den anderen gar nicht zu reden, mir selbst auf den Fersen. Ich kranke an einer überwertigen Idee.«

Sie sah ihn voller Sorge an.

»Nämlich, ich bilde mir ein, daß jede wirkliche Existenz unersetzlich ist und den Sprung ins Dunkle nicht früher tun darf, als bis sie sich erfüllt hat.«

»Wenn das Ihr Glaube ist, Herr Doktor«, erwiderte sie, und aus ihren Augen leuchtete es auf, »so sind Sie beneidenswert.«

»Sie irren – ich sagte bereits, es ist eine krankhafte Vorstellung! Aber wie sind wir denn eigentlich auf meine unbeträchtliche Person gekommen – von Ihnen war doch die Rede.«

»Ja, von mir – von meinem künftigen Elend – von meinem Verschüttetwerden!«

Er nahm ihre Hand, die er eine Weile in der seinen hielt.

»Nehmen Sie das Leben nicht so furchtbar schwer . . . Man kommt – man geht und soll in der kurzen Zwischenzeit sich nicht mit Gefühlen belasten. Werden Sie leichter, meine Dame! Darauf läuft es hinaus! Und noch eines, hüten Sie sich vor mir!«

84 Toni war blasser geworden. Das Herz schlug ihr bis zum Halse hinauf, und im Rücken fühlte sie bleierne Schwere. Sie schüttelte den Kopf.

»Kann man denn durch Vorsätze sich ändern, sich wandeln?«

Musik setzte wieder ein.

Wanner erhob sich. »Darf ich noch um diesen Tanz bitten?«

»Gern«, antwortete sie und überließ sich wiederum seiner Führung.

Mitten in der langsamen Bewegung, während sie unter einem dunklen Zwange ihren Körper ihm auslieferte, schien sie auf einmal zu erwachen.

»Darf ich eine Frage an Sie richten? Stehen Ihre Anschauungen nicht vielleicht unter dem Druck allzu persönlicher Erfahrung?«

»Selbstverständlich, Fräulein Wünsch! Oder meinen Sie, daß man aus seiner Haut heraus kann?« entgegnete er in einem Ton, der heiser klang.

»Verzeihen Sie, wenn ich indiskret geworden bin.«

Er fixierte sie einen Moment und zog dabei seine quadratische Stirn in unzählige Falten.

»Sind Sie mit Miß Bottchen bekannt?« fragte er plötzlich, »und war zwischen Ihnen beiden von mir die Rede?«

»Meine Schwester und ich kennen außer den Brüdern Sterzel niemanden an Bord. Ich weiß nicht einmal, wer Miß Bottchen ist – jedenfalls habe ich mit keinem Menschen über Sie gesprochen!«

»Gut – tut übrigens nichts zur Sache! Was ich Ihnen noch sagen möchte, um jeder falschen 85 Beurteilung vorzubeugen: ich bin ein absoluter Durchschnittsmensch. Und wenn ich vorhin erklärte, beständig auf der Flucht vor mir selbst zu sein, so wollte ich damit nur andeuten, daß jede neue Situation mir einen anderen Stempel, ein anderes Gesicht aufdrückt – verstehen Sie das, meine Dame?«

Toni Wünsch sah sich der Antwort überhoben. Denn im Saal war es mit einem Male todesstill geworden; die Musik hatte aufgehört, und aller Blicke waren auf eine verkrümmte, alte Person gerichtet, die Kleid, Mantille und Hut aus einem anderen Jahrhundert trug. Eine mit Perlen bestickte altmodische Reisetasche hatte sie über den linken Arm gehängt, während sie mit der rechten Hand sich schwer auf einen Krückstock stützte. Sie mußte ein Hüftleiden haben, denn ihr Hintergestell trat auffallend hervor.

Gerade jetzt war sie in die Mitte des Saales gehumpelt und schrie mit einer dünnen, spitzen Stimme: »Hier im Saal tagt ein Gericht – nur ein Blinder sieht es nicht. Hier im Saal spricht ein Gericht – nur ein Tauber hört es nicht.«

Dann brach sie in ein böses Lachen aus, ließ ihre spähenden Augen über Tänzer und Tänzerinnen gleiten, um direkt auf Doktor Wanner loszusteuern.

Als sie dicht vor Toni stand, senkte sie die Stimme: »Schöne Maske, das ist ein schlimmer Cousin, von dem Sie nichts Gutes zu erwarten haben!«

»Kennen Sie ihn?« fragte Toni.

»Ob ich ihn kenne? Nicht wahr, mein Täubchen, wir beide kennen uns!«

86 »Diese Frau ist Miß Bottchen, von der ich soeben mit Ihnen sprach.«

»Taten Sie das, Onkelchen – allerliebst! Ganz allerliebst von Ihnen! Und will man mich nicht mit der schönen Dame bekannt machen, deren Augen noch durch die schwarze Hülle leuchten?«

Mit einer unverschämten Geste riß sie Toni bei diesen Worten die Maske vom Gesicht.

»Fräulein Wünsch – Miß Bottchen«, stellte Doktor Wanner vor; kein Zug seiner Miene ließ darauf schließen, daß er den Spaß auch nur eine Sekunde ernst genommen hatte.

»Toni oder Camilla Wünsch?« fragte die Bottchen dreist.

»Ich bin Toni Wünsch – und dabei fällt mir ein, daß ich mich nach meiner Schwester umsehen muß, die mir ganz aus den Augen gekommen ist.«

Sie grüßte Miß Bottchen förmlich, nahm Wanners Hand, sah ihm kurz und mit großem Ernst ins Gesicht, ehe sie sich zum Gehen wandte.

In dem Gedränge kam sie nicht vorwärts, und so vernahm sie wider ihren Willen Miß Bottchens Worte: »Verplempern Sie sich nicht, Mister Wanner. Seien Sie vorsichtig mit dieser kleinen Person! Das ist eine, die nicht mehr locker läßt, wenn sie einmal angebissen hat. Ich kenne den Typ.«

Wanners Züge wurden eisig.

»Ich erinnere mich nicht, Ihren Rat eingeholt zu haben; deshalb darf ich wohl auf eine Fortsetzung des Gespräches . . .«

Fräulein Testini stand plötzlich vor ihnen.

87 »Es ist Damenwahl«, sagte sie mit leichtem Erröten, »darf ich bitten! Hoffentlich habe ich nicht eine anregende Unterhaltung gestört.«

»Sie kamen im richtigen Augenblick.«

»Herr Doktor Wanner«, begann Fräulein Testini kaum hörbar, »weshalb meiden Sie mich – ist Ihnen meine Gesellschaft lästig?«

»Mein gnädiges Fräulein . . .«

Teresina Testini löste sich langsam von ihm los.

»Mißverstehen Sie mich nicht! Wie käme ich dazu, Sie zur Verantwortung zu ziehen – oder Ihnen gar den leisesten Vorwurf zu machen?«

»Fräulein Testini, ich bin ein für Geselligkeit total unbrauchbarer Mensch – ich bin das Gegenteil von dem, was die Griechen mit den Worten ζῶον πολιτικόν bezeichnen – mit anderen Worten, mir fehlen alle Anlagen und Instinkte, die Merkmale des guten Bürgers sind.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Tanzen wir weiter; ich glaube, Miß Bottchen verfolgt uns mit ihren grünen Augen.«

»Wenn es ihr Vergnügen macht«, entgegnete Wanner kühl, »wollen wir sie darin nicht stören.«

»Auch ich habe Sie vorhin unausgesetzt beobachtet, Doktor Wanner. Sie sprachen äußerst animiert mit Fräulein Wünsch.«

Ohne auf ihre Selbstbezichtigung einzugehen, erwiderte er: »Wir waren allerdings in eine lebhafte Diskussion geraten.«

»Finden Sie nicht«, fuhr er fort, »daß die beiden Schwestern die reizvollsten Erscheinungen an Bord 88 sind? Sie haben etwas so Distinguiertes und sind von einer Zurückhaltung, daß man nicht leicht wagt, mit Ihnen anzuknüpfen, obwohl sie ihrem Beruf nach, wie ich höre, im Verkehr durchaus weltgewandt sind.«

»Ich habe mit Fräulein Toni Wünsch vor einigen Minuten zum ersten Male gesprochen – ihre Schwester kenne ich überhaupt nicht!«

»Sie sind Inhaberinnen eines großen Berliner Modesalons – daher wohl auch die besondere Kunst, sich so raffiniert anzuziehen.«

Wanner lächelte unwillkürlich, und Fräulein Testini, die dies Lächeln sofort auffing, wurde unruhig.

»Habe ich etwas Häßliches gesagt?«

»Nein, mein Fräulein!«

»Etwas Komisches?«

»Ja, mein Fräulein!«

»Ich habe es sofort gefühlt; aber glauben Sie mir, Herr Doktor, dies hat nicht in meiner Absicht gelegen. Und dennoch«, fügte sie nachdenklich hinzu, »enthüllt man sich plötzlich mit einem Worte.«

»Mit Worten soll man noch vorsichtiger umgehen als mit einem geladenen Revolver. Worte sind dazu da, um sich hinter ihnen zu verbergen.«

»Und nun bin ich in Ihrer Achtung schrecklich gesunken, wenn Sie mich überhaupt je beachtet haben.«

»Verletzen wollte ich Sie nicht.«

»Ich glaube Ihnen. Aber darauf, Herr Doktor, kommt es für mich nicht an.«

89 Sie lehnte sich enger an ihn, und eine tiefe Blässe überzog ihr Gesicht. Ihre Augen schienen nach innen zu fallen.

»Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein Testini?«

»Durchaus wohl.«

»Und worauf kommt es Ihnen an?«

»Meine Wünsche gehen in eine andere Richtung – können Sie es erraten?«

»Nein, mein gnädiges Fräulein.«

Sie lachte gequält auf.

»Jetzt bin ich für Sie schon ein gnädiges Fräulein. Wollen Sie mich, bitte, ins Freie führen – Sie scheinen recht zu haben – ich fühle mich in der Tat nicht ganz wohl.«

Schweigend gingen sie auf das Deck.

»Geben Sie mir Ihren Puls!«

»Nicht mehr nötig, Doktor Wanner! In der Luft ist mir bereits besser geworden – und nun lassen Sie mich allein – wir könnten sonst noch ohne jeden Grund Anstoß erregen.«

Er verbeugte sich gehorsam – und Fräulein Testini stand allein – starrte, die Hände zusammengekrampft, in das undurchdringliche Dunkel.

Sie stöhnte in sich hinein. »Wie lächerlich habe ich mich benommen – nun ist alles endgültig zerstört.«

Sie stieß einen kurzen Schrei aus. Jemand hatte sie plötzlich berührt. Es war Miß Bottchen, die ihr gefolgt war, ohne daß sie es bemerkt hatte.

»Was wollen Sie von mir – weshalb belästigen Sie mich?«

90 »Nichts will ich von Ihnen. Aber vielleicht, mein Fräulein, könnte ich Ihnen einen größeren Dienst erweisen, als Sie im Augenblick zu ermessen vermögen. Es gibt hier an Bord keinen Menschen, der Doktor Wanner so genau kennt wie ich«, setzte sie abrupt hinzu.

»Sind Sie besessen, Miß Bottchen – und mit welchem Recht überfallen Sie mich?«

»Mit dem Recht, daß Sie und ich, mein Fräulein, für Doktor Wanner ein leidenschaftliches Interesse hegen, nur mit dem Unterschiede . . .«

»Sie drängen sich an meine Person auf eine Art, die alle Grenzen des Erlaubten überschreitet.«

Miß Bottchen ließ sich durch diesen Angriff nicht einen Augenblick irritieren.

»Fräulein Testini«, flüsterte sie, »wenn Sie nicht sehr auf der Hut sind – nicht mit allen Ihnen zu Gebote stehenden Mitteln arbeiten, wird Ihnen dieser Doktor Wanner von einer der Schwestern Wünsch, ehe Sie es sich versehen, weggeschnappt. – Das sind zwei ausgekochte Luder, sage ich Ihnen, eine immer gerissener als die andere. Auch die anderen Weiber sind hinter ihm her – es ist, als ob er sie alle mit seinen Blicken verhexte.«

Fräulein Testini fühlte sich plötzlich der Situation nicht mehr gewachsen. Ihr Sauberkeitsempfinden riet ihr, diese häßliche Unterredung abzubrechen – aber eine brennende innere Not legte ihren Willen lahm.

Miß Bottchen hatte mit einem Blick die Lage übersehen.

91 »Wenn Sie ernstlich entschlossen sind, diesen Doktor Wanner zu heiraten«, fuhr sie mit suggestiver Beredsamkeit fort, »so bin ich die einzige Person, die Ihnen dazu verhelfen kann – das sage ich nicht im Scherz – nicht aus einem leichtsinnigen Sentiment heraus, sondern mit dem ganzen Ernst, dessen ich überhaupt fähig bin. Ich gehe so weit«, schloß sie hemmungslos, »sofort fünftausend Dollar an Sie zu zahlen – einen für meine Verhältnisse gewiß nicht geringen Betrag, der als Pönale verfällt, wenn ich mein Wort nicht einzulösen vermag. Sie werden mir zugeben, daß eine Frau in meinen Jahren nicht mit solchen Summen um sich wirft, wenn sie ihrer Sache nicht todsicher ist.«

Fräulein Testini hatte ihr sprachlos zugehört. Diese Frau, fratzenhaft kostümiert, wirkte in dem Dunkel der Nacht unheimlich und gespensterhaft.

»Welches Interesse haben Sie, wenn ich fragen darf?«

»Sie dürfen fragen – ich bin von Beruf Heiratsvermittlerin und denke lediglich an mein Geschäft. Ich vermittle nur große Partien, mein Fräulein, und würde ein derartiges Risiko nicht eingehen, wäre das Projekt nicht zu realisieren. Doktor Wanner ist ein Genie, das steht außer jedem Zweifel. Allerdings, und das sage ich Ihnen mit rückhaltloser Ehrlichkeit, ein leicht zu behandelnder Mensch ist er nicht. Und wenn Sie mit der Allerweltselle zu messen pflegen, so lassen Sie Ihre zehn Finger von ihm. Im übrigen ist jeder Mann Wachs in den Händen der Frau, die ihn begreift.«

92 Sie hatte sich in eine derartige Erregung hineingeredet, daß sie nicht weiter konnte. Ihr Busen hob und senkte sich – sie rang nach Luft. Auch Fräulein Testini schien eine Weile wie benommen.

»Ich begreife Sie noch immer nicht«, sagte sie mit bereits unsicherer Stimme. »Die Partie wird doch nicht von mir allein gespielt – ich bin ja gar nicht in der Lage, vorausgesetzt selbst, daß ich mehr als eine flüchtige Neigung empfände, diesen Herrn zu bewegen – mein Gott, sprechen wir nicht mehr davon«, fügte sie in grenzenloser Scham hinzu. »Oder glauben Sie, daß ich mich einem Menschen aufdrängen würde, von dem ich deutlich spüre, daß er nicht das geringste Interesse an mir nimmt?«

Miß Bottchen lachte.

»Sie sind ein Kindskopf! Lassen Sie das meine Sorge sein. Nur über Ihr Einverständnis, Ihren festen unverrückbaren Entschluß müßte ich unbedingt Klarheit haben.«

»Und wie soll ich Sie davon überzeugen?«

»Indem Sie Ihrem Herrn Vater unzweideutig erklären, daß Sie keinen anderen Mann als Doktor Wanner heiraten würden, daß Ihr Leben für Sie ohne Sinn wäre, falls . . .«

Fräulein Testini wurde rot bis zum Haaransatz.

»Eine derartige Erklärung habe ich ohne Ihr Zutun bereits abgegeben.«

»Um so besser«, triumphierte Miß Bottchen, »dann gebe ich Ihnen nochmals mein Ehrenwort, daß Sie vor Beendigung dieser Mittelmeerfahrt mit Doktor Wanner verheiratet sein werden. Sorgen Sie 93 Ihrerseits nur dafür, daß Ihre Papiere in Ordnung sind.«

Der Tanz ging weiter. Die »Orinoco« begann leise zu schaukeln, niemand ließ sich stören. Die Jugend war in einem Taumel der Freude. Aber auch die ältesten Semester, Herren mit ergrauten Haaren und weißen Bärten, taten mit.

An einem gemeinsamen Tisch saßen die Gräfin Plessen, das Ehepaar Holzmann, Teresinas Vater, Herr Testini – ein Mann von höchstens dreiundfünfzig, mit glattrasiertem, infolge seines starken Bartwuchses bläulich schimmerndem Gesicht – und der Großindustrielle aus Düsseldorf.

Miß Bottchen und Kapitän Groen näherten sich.

»Ist es gestattet?« fragte Groen.

Statt jeder Antwort rückten die Herrschaften enger zusammen, während ein Steward eilfertig zwei Stühle herbeischleppte.

»Wunderbarer Abend – einfach wunderbar«, sagte Kapitän Groen. »Schauen Sie nur einmal auf dies Paar hin, mit welch naturalistischem Ausdruck die beiden den Apachentanz vorführen. Man könnte meinen, man säße an den schmalen, weißgedeckten Tafeln des Café de Paris – ach, Paris«, seufzte er, »es geht doch nichts über Paris!«

Er riß dabei die gutmütigen, ehrlichen Augen weit auf, und seine im gewöhnlichen Leben ruhigen und regelmäßigen Züge bekamen einen gierigen Ausdruck.

Mit angespannter Aufmerksamkeit folgte er jeder Bewegung des tanzenden Paares, das in seiner 94 zerlumpten Aufmachung, in seinen, den Pariser Originalen abgelauschten Gesten, in der Zügellosigkeit der Körper die Passagiere zu tosendem Beifall hinriß. Man klatschte wie besessen.

»Tanzt nicht da Doktor Wanner?« fragte die Gräfin Plessen, »der Mensch ist ja wie ausgewechselt – und die Weiber sind hinter ihm her wie die Schießhunde – eine Tracht Prügel . . .«

»Er hat sein Herz entdeckt«, bemerkte Frau Doktor Holzmann. »Wen hat er denn augenblicklich in den Armen?«

»Die Komtesse Seckendorf!«

»Die Seckendorf«, warf Herr Testini dazwischen, »nicht möglich!«

»Ja, die Seckendorf!«

Miß Bottchen sah flüchtig zu Herrn Testini herüber.

»Das ist ein scharmantes Persönchen«, bemerkte sie nebenbei. »Eigentlich kann man nicht behaupten, daß Doktor Wanner sich auffallend beträgt – im Gegenteil, man muß anerkennen, daß er sich gegen alle Damen gleich höflich und korrekt benimmt.«

»Nanu, Sie flöten ja mit einem Male aus einem ganz anderen Loche«, rief überrascht Frau Doktor Holzmann und fixierte durch ihre Lorgnette die Sprecherin.

»Ich bin jederzeit bereit, Anschauungen und Überzeugungen zu revidieren, sobald ich . . .«

»Das ist das Prinzip aller Leute, die keine Überzeugungen haben.«

»Ja, muß man denn Überzeugungen haben – ich 95 für meinen Teil lege gar keinen Wert darauf – und Sie, Herr Testini?«

Herr Testini lächelte vieldeutig.

»Ich bin Geschäftsmann – nur Geschäftsmann und habe die Erfahrung gemacht, daß die Leute mit Grundsätzen fast immer schlecht abgeschnitten haben. Wissen Sie, man muß jederzeit flüssig sein, im wirtschaftlichen, politischen und geschäftlichen Leben – nur nicht sich festlegen mit seinen geistigen und materiellen Kapitalien. Das ist die größte Dummheit, die man begehen kann!«

»Bravo«, rief Miß Bottchen. »Das sind wirklich goldene Worte, die als Leitmotiv über der Tür eines jeden Hauses stehen sollten.«

»Sie sind wohl Anhänger der Heraklitischen Philosophie?« warf Doktor Holzmann ironisch dazwischen.

»Das ist mir zu hoch«, erwiderte Testini, »offen gestanden, ich habe Ihre Frage nicht kapiert.«

»Heraklit, von Geburt Grieche, einer der stärksten Denker aller Zeiten, über den Lassalle ein dickes Buch geschrieben hat – faßt Ihren interessanten Vortrag, Herr Testini, in zwei Worte zusammen.«

»Und diese Worte lauten?«

»πάντα ῥεῖ.«

»Ist das Hebräisch?«

Alle lachten.

»Nein, es ist Griechisch, wie ich bereits andeutete, und heißt zu deutsch: Alles fließt – alles ist in ewiger Bewegung.«

»Ausgezeichnet«, applaudierte Herr Testini.

96 »Ganz so wie Sie hat er es freilich nicht gemeint«, fuhr Herr Doktor Holzmann ironisch fort, »immerhin . . .«

»Er ist mein Mann«, ergänzte Testini, »denn er vertritt den wirklichen Fortschritt. Entschuldigen Sie mich eine Minute, ich möchte Fräulein von Seckendorf auffordern.«

»Sagen Sie, Frau Gräfin, um auf etwas anderes zu kommen, ist die Komtesse Seckendorf eigentlich reinrassiger Adel?«

Die Plessen rümpfte die Nase.

»Schlagen Sie einmal den Gotha auf, meine liebe Frau Doktor, und Sie werden entsetzt sein, was es mit dem reinrassigen Adel auf sich hat. Es ist zum Heulen! Und was die Seckendorfs anbelangt, so gehören sie gewiß zu den alten Geschlechtern –von absoluter Reinheit aber kann nicht die Rede sein! Eine Großmutter unserer Komtesse zum Beispiel war eine geborene Lamm, von der jüdischen Kupferfirma Lamm, wenn diese Ihnen dem Namen nach bekannt ist.«

»Die Kupferlamms sind Größen auf dem internationalen Geldmarkt«, bemerkte Miß Bottchen in tiefer Ehrfurcht. »Die Seckendorf ist demnach vermögend?«

»Es läßt sich halten! Wenn eine Viertelmillion auf die Komtesse kommt, ist es hoch gerechnet.«

Miß Bottchen wieherte leise vor sich hin.

»Weshalb lachen Sie denn?« fragte die Gräfin gereizt.

»Verzeihen Sie«, entgegnete die Bottchen, »Sie 97 tun geradeso, als wenn eine Viertelmillion ein Pappenstiel wäre!«

»Sie irren, meine Dame! Nach den Begriffen unserer Kreise, die man während der Inflation ausgeplündert und ausgepowert hat, sind 250 000 Mark ein Vermögen. Nach jüdischer Auffassung dagegen – sind Sie vielleicht Jüdin, Miß Bottchen? – in diesem Falle zöge ich es vor – ich besitze nämlich so viel Takt und Anstand, um niemanden persönlich – ganz abgesehen davon, daß Juden zu meinen besten Freunden zählen. Mein eigener Bankier . . .«

»Bitte, sich nicht den geringsten Zwang aufzuerlegen! Gott sei Dank, ich bin von arischer Abstammung und habe immer streng darauf gehalten, meinen Verkehr«, sie brach mitten im Satze ab. »Wie alt ist eigentlich Komtesse Seckendorf?«

»Die Seckendorf dürfte so alt sein wie Fräulein Testini – ich gebe beiden gut und gerne ihre siebenundzwanzig Jährchen. Sie kennen sich schon von der Schule her – die Seckendorf ist Waise, und die Testinis haben sie zu dieser Reise eingeladen.«

Miß Bottchen hatte aufmerksam zugehört, und in einem unbeherrschten Moment flüsterte sie vor sich hin: »Das ist wirklich interessant.« In diesem Augenblick trat Herr Testini in Begleitung seiner Tochter und der Komtesse Seckendorf wieder an den Tisch.

»Wirklich nett von Ihnen, wenigstens beim Kehraus auch von mir Notiz zu nehmen«, sagte Camilla und erhob sich, um der Aufforderung Doktor Wanners Folge zu leisten.

98 »Eine Auszeichnung für mich, daß Sie meine Abwesenheit empfunden haben.«

»Empfunden ist zuviel gesagt – ich habe lediglich festgestellt, daß Sie sehr beschäftigt waren!«

»Ich tobe mich aus«, sagte Wanner, »ich liebe diese Maskenfeste – es sind die einzigen Bälle, die ich zuweilen besuche.«

Er beugte sich über sie und drückte seine schmalen, dünnen Lippen auf ihren breiten, schneeweißen Hals.

Camilla warf den Kopf zurück.

»Nennen Sie das sich austoben? In diesem Falle . . .«

Er sah sie eigentümlich an.

»Es war mein fester Vorsatz, Sie zu küssen, verzeihen Sie, mein sehr gnädiges Fräulein«, fügte er förmlich hinzu – und dann: »es wäre ein verlorener Abend, eine Nacht ohne Schlaf für mich gewesen!«

»Wie vielen Damen haben Sie das heute schon gesagt – und wie viele haben Sie zwischen neun und zwölf geküßt?«

»Sie sind die Erste!«

Sie wurde blutrot.

»Also mir gegenüber erlauben Sie sich, was Sie bei anderen als Dreistigkeit empfinden würden?«

»Ich erlaubte es mir, weil zwischen uns beiden – oder sage ich wahrheitsgemäßer, zwischen uns dreien – zwischen Ihnen, Ihrer Schwester und mir ein gewisser Zusammenhang besteht.«

Camilla sah ihn verblüfft an und lachte laut auf – es klang ein wenig überreizt.

99 »Also, wenn Sie einen Zusammenhang spüren, küssen Sie jedesmal frisch drauf los! Darf ich Ihnen einen Rat erteilen – wenden Sie diese Methode nicht bei meiner Schwester an, die keinen Spaß in derartigen Dingen versteht!«

»Und Sie, verstehen Sie einen Spaß?«

»Falls Sie ihn ein zweites Mal nicht wiederholen!«

»Sie vergessen, daß Maskenball ist!«

»Um zwölf fallen alle Masken!«

»Die meine wird nicht gelüftet – für mich ist Maskenball, so viel Tage und Nächte es im Jahre gibt.«

»Dann möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken.«

»Finden Sie es nicht amüsant?«

»Nein, dauerndes Versteckspiel wäre mir peinlich.«

»Es hat seine Reize.«

»Für Verbrechernaturen vielleicht!«

»Das sind wir alle von Hause aus!«

»Oho, Herr Doktor!«

»Es fehlt zuweilen nur die Gelegenheit! Viele werden eingescharrt, ohne auf ihre Kosten gekommen zu sein – ohne ihre Triebe erfüllt zu haben.«

»Ich glaube, Ihr Erfolg bei Frauen beruht auf Ihren gewagten Aussprüchen – die Frauen beißen auf diesen Köder so leicht an!«

»Wer sagt Ihnen, daß ich Erfolge bei Frauen habe, wer sagt Ihnen, daß ich den Frauen nachstelle?«

»Alle Welt an Bord sagt es – und die heutige Nacht beweist es.«

»Wenn Sie das Geschwätz der Menschen glauben, so kann ich Ihnen nicht helfen. Ich hielt mich bisher 100 so isoliert wie Sie – hatte nur das Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit – eine sehr auf reibende Tätigkeit liegt hinter mir.«

»Und heute nacht?«

»Bin ich in den Strom gesprungen! Der Blutzirkulation wegen! Meine Muskeln waren eingeschlafen!«

»Ihre Dialektik ist großartig.«

»Was die verbrecherischen Triebe betrifft, fühlen Sie sich frei von ihnen?«

»Werde ich einem Examen unterworfen?«

»Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu antworten.«

»Nein, das können Sie auf keinen Fall!«

»Immerhin ist es ein Kennzeichen der Feigheit, daß Sie einer so allgemein gestellten Frage ausweichen.«

»Spielen Sie mir gegenüber nicht den Agent provocateur!« erwiderte sie und war blaß geworden.

Doktor Wanner ließ mitten im Tanze die Arme schlaff sinken. Seine Miene hatte einen so beleidigten, so bestürzten Ausdruck, daß Camilla im gleichen Augenblick zum Bewußtsein kam, zu weit gegangen zu sein.

»Nichts hat mir ferner gelegen, als Sie zu kränken. Ist es trotzdem geschehen, so bitte ich um Vergebung.«

»Ich mache Ihnen nicht den geringsten Vorwurf. Es gehört zu meinen persönlichen Schwächen, daß mir das Blut zu Kopfe steigt, sobald von Polizei oder Gericht die Rede ist. Ich erblicke in beiden die Repräsentanten der Vergewaltigung, der Unterdrückung, der Freiheitsberaubung!«

101 »Und trotzdem haben Sie heute den Talar des Richters angezogen.«

»Um meinen Widerwillen, soweit er sich auf das äußere Gewand erstreckt, zu überwinden. Zuweilen fürchte ich, daß schon der Anblick der Uniformen mich zu Übergriffen verleiten könnte. Einmal hätte ich einen Polizisten beinahe halbtot geprügelt, nur weil mich die blanken Knöpfe maßlos reizten. Das hat mit meiner innerlichen Einstellung natürlich nichts zu tun. Verstehen Sie das?«

»Aufrichtig gesprochen – nein! Es müßte denn sein, daß Ihnen von seiten dieser Leute soviel Leid zugefügt worden wäre – –«

»Ich habe mit Polizei und Gericht nie in meinem Leben etwas zu schaffen gehabt.«

»Ich werde Ihnen Ihre Frage jetzt beantworten«, sagte sie plötzlich. »Selbstverständlich bin ich mir meiner Anlage zum Bösen bewußt, selbstverständlich fühle ich zuweilen, daß dunkle Kräfte über mich Gewalt haben, denen ich unterliegen könnte, wenn meine wachenden Augen mich nicht beschützen würden.«

»Was heißt das – Ihre wachenden Augen?«

»Das heißt«, entgegnete sie langsam, »der Unterschied zwischen einem Verbrecher und einem normalen Menschen beruht darauf, daß der eine keine Hemmungen besitzt – während der andere durch seinen Intellekt und seine Einsicht im entscheidenden Moment davon abgehalten wird, eine unmoralische Handlung zu begehen.«

»Was ist unmoralisch?«

102 »Das, was gegen Anstand und gute Sitte verstößt.«

»Sitten sind dem Gesetz der ewigen Wandlung unterworfen!«

»Zugegeben! Der innere Anstand jedoch ist unabhängig von dem Begriffe der Zeit – ist etwas, was ein Mensch besitzt oder nicht besitzt.«

»Zu besitzen glaubt«, entgegnete er scharf; dann fuhr er fort: »Wir träumen Tag und Nacht, sind entweder Nachtwandler, die über Abgründen tanzen, am Rande der Dächer spazieren gehen – oder von der Not des Lebens dermaßen aufgefressen, daß von Freiheit nicht mehr die Rede sein kann. Wir sind mechanisierte Wesen – wir handeln unter einem blinden Zwang, und deshalb«, schloß er, »lehne ich mich gegen jede moralische und juristische Beurteilung auf. Seit ich zu der Erkenntnis gekommen bin, daß unsere Entwicklung im Mutterleibe abgeschlossen ist – daß wir fertig – in jedem Sinne fertig und dem Tode geweiht sind, sobald wir zum erstenmal die Augen öffnen – den ersten Schrei ausstoßen, ist mir das Gefasel über Körper und Seele, über Geist und Materie zum Halse herausgewachsen.«

»Danach wäre unsere Existenz auf Erden rein vegetativ – unser ganzes Streben, unser Verantwortungsgefühl sinnlos?«

»So ist es! Wir wachsen und gedeihen, verkrüppeln und verdorren je nach den Bedingungen des Bodens, dem wir zufällig entsprossen sind. Die Entwicklung unserer selbst haben wir während der neun Monate unseres Werdens in allen Stadien durchgemacht. 103 Was nach unserer Geburt hinzukommt, ist im Vergleich zu dem Vorangegangenen lächerlich, obwohl die Wunder unserer ersten drei Jahre, in denen wir scheinbar schreien, weinen, lachen, gehen, sprechen lernen, so ungeheuerlich sind, daß unser Verstand sie nicht fassen, geschweige denn nachprüfen kann. Was später folgt, ist Siechtum – ist bei lebendigem Leibe erbärmliches Absterben, ist grauenhafte Vorbereitung für unsere Zersetzung und Auflösung.«

»Würde ich so denken, müßte ich auf der Stelle Schluß machen – danach wären alle Werke der Kunst, Wissenschaft und Technik überflüssig! Danach wäre es Irrsinn, Mozartschen Klängen zu lauschen! Nein – so kann es nicht sein – das Dasein, wie es in Ihrem Hirn sich malt, ist ein Zerrbild Gottes. Im Gegensatz zu Ihnen behaupte ich« –und bei diesen Worten brach aus ihren hellen Augen ein Leuchten und das Bewußtsein, auf wunderbare Art über sich selbst hinauszuwachsen – »daß die großen Männer, die immer wiederkehren, immer wieder dichten, malen, komponieren und forschen müssen – auf das Müssen kommt es nämlich an, Herr Doktor – Sendboten Gottes sind. Mögen Sie nun lächeln über mich oder nicht – ich glaube an den Zerfall des Leibes und an die Unsterblichkeit des Geistes.«

»Und ich glaube an Ihre Schönheit, an Ihren Körper – an Ihre Sinne!«

»Ach, Herr Doktor, eine niederträchtigere Antwort hätte mir überhaupt nicht zuteil werden können.«

104 »Dann haben Sie mich gründlich mißverstanden, Fräulein Camilla Wünsch.«

»Da bist Du ja«, sagte Toni und blickte erstaunt auf die Schwester und Doktor Wanner, deren erregte Gesichter sie beunruhigten. »Ich bin sehr müde«, fügte sie hinzu, »und kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«

»Und mir geht es gerade so.«

»Gute Nacht, Herr Doktor Wanner«, Tonis Stimme vibrierte leicht.

»Gute Nacht«, sagte auch Camilla.

Wanner stand ein Weilchen wie benommen da, ehe er langsam auf Deck ging. Wo er hintrat, hörte er verliebte Laute, Gelächter und Geküsse. Sah verschlungene junge Leute und vertauschte Ehepaare, die noch im Grauen des Morgens, nachdem das Fest längst vorbeigerauscht war, sich nicht zu trennen vermochten.

Die Schwestern lagen wachen Auges in ihren Betten – hörten aus der Ferne seltsame, gedämpfte Musik, obwohl der Tanz aufgehört hatte und die Musikanten schlaftrunken in ihre Kabinen geschlichen waren.

Sie sprachen nicht miteinander – wirre, krause Vorstellungen hatten von ihnen Besitz genommen – und beider Gedanken drehten sich im Wirbel um den gleichen Menschen, von dessen Blicken, Bewegungen und Worten sie erfüllt waren.

In Toni schwangen noch andere, zwiespältige Empfindungen mit. Camillas Lachen klang in ihrem Ohr – Camillas brennende Augen wurden in der Dunkelheit sichtbar. Sie hatte sie im Tanz mit 105 Wanner beobachtet und war erschreckt gewesen von der Wandlung, die sich ihr offenbarte.

Hüllenlos und nackt stand die Schwester vor ihr, eine Fremde, die sie vorher nicht gekannt hatte. Und dabei war sie immer des Glaubens gewesen, in Camillas Innerem wie in einem aufgeschlagenen Buche zu lesen. »Was verstimmt mich eigentlich gegen sie?!« . . .

Sie schämte sich plötzlich. »Bin ich auf sie eifersüchtig? Mit welchem Rechte klage ich sie an? Ist sie verpflichtet, mir über Beziehungen, die so lose geknüpft sind, daß das Gewebe jede Sekunde reißen kann, Rechnung abzulegen? Ist es nicht meine Schuld, wenn ich aus einem geistigen Bekenntnis Doktor Wanners einen persönlichen Unterton herauszuhören wähne?« . . .

So sehr sie sich um eine gerade, reinliche Antwort mühte, schon die Fragen allein rührten sie auf. Das Herz schlug ihr bis zum Halse.

»Schläfst Du, Camilla?«

»Nein, ich schlafe nicht.«

»Woran hast Du im Augenblick gedacht?«

»Denke Dir, ich ärgere mich noch nachträglich, daß Du nicht gehört hast, wie ich Doktor Wanners Angriffe parierte – ich war wirklich in guter Form – Du hättest Dein Vergnügen daran gehabt! . . .«

»Glaubst Du, Camilla?«

»Ganz gewiß, Schwesterchen.« 106

 


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