Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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28

Die »Orinoco« steuerte in mondbeglänzter, sternenklarer Nacht auf Haifa zu. Am frühen Morgen lag es, an Höhen sich lehnend, mit seinem wunderbaren Seestrand vor den Reisenden.

Lotse, Arzt und palästinensische Beamte waren zur Kontrolle an Bord gekommen. Die Passagiere, mit Ferngläsern bewaffnet, standen an der Reeling und betrachteten die Stadt, bis sie endlich das Schiff verlassen durften.

Der Zug nach Jerusalem wartete bereits auf sie.

An ödem, grauem, felsigem Land sauste er mit ihnen vorbei. Steinwüste, soweit das Auge reicht – nur hin und wieder unterbrochen von Orangenanpflanzungen.

Toni stand bei den Brüdern Sterzel.

»Sehen Sie, mein Fräulein«, sagte der Doktor, »hier erst begreift man das furchtbare Wort: ›steinigt ihn‹ – hier versteht man, daß von alters her gewaltsamer Tod auf dies Vollstreckungsmittel wartete.«

Toni hörte nur mit halbem Ohre zu. Blutleere Lippen murmelten: Steinigt mich – und ihre Züge waren hart, ohne Leben, steinern.

In der Abendstunde, bei strömendem Regen langte man an und verteilte sich in die verschiedenen Hotels der Stadt.

Toni war mit den Brüdern im Allenby-Hotel untergebracht – die Reisenden, die in die kalten, unwirtlichen Räume traten, empfanden die Bezeichnung »Hotel« geradezu als Hohn. Der Speisesaal 255 glich einem offenen Korridor, der von allen Seiten eisige Zugluft hineinließ.

Sie setzten sich fröstelnd an die Tische und blickten auf das Gewoge und Getriebe von Auswärtigen und Heimischen, von Juden und Arabern, von Händlern und Kaufleuten. Sobald ein englischer Offizier in Khakiuniform auftauchte, wurde es todstill, die Stimmen dämpften sich zum Geflüster.

»Sehen Sie nur, welche Angst die Einheimischen vor den Eroberern ihres Landes haben – ein einziges unvorsichtiges Wort kostet sie Kopf und Kragen«, meinte Benjamin Sterzel.

An einem entfernteren Tische saß die Gräfin Plessen mit dem Ehepaar Holzmann.

»Wissen Sie schon«, sagte sie äußerst befriedigt, »daß die Testinis, Fräulein von Seckendorf und Doktor Wanner in Haifa plötzlich verschwunden sind?«

Frau Doktor Holzmann riß die Augen weit auf.

»Nicht die Möglichkeit – sie sind überhaupt nicht nach Jerusalem gefahren?«

»Erraten – und außer ihnen hat sich noch die eine Schwester Wünsch mit dem Großindustriellen in die Büsche geschlagen.«

Sie sah sich erst nach allen Seiten vorsichtig um, ehe sie weitersprach: »Ich könnte Ihnen Dinge erzählen, meine Herrschaften, daß die Haare sich Ihnen sträuben würden. Aber tratschen ist nicht meine Sache – und den Mund möchte ich mir auch nicht verbrennen.«

»Wir sind doch hier unter uns«, entgegnete 256 Frau Holzmann erregt, »und auf meine und meines Mannes Diskretion können Sie Häuser bauen.«

»Wer hat vom ersten Augenblicke an gesagt, daß die beiden Schwestern Hautgout haben?«

»Unbedingt Sie, Frau Gräfin.«

»Und auf eine so anrüchige Person fällt ein Mann herein, der in der Großindustrie einen Namen hat. Und jetzt kommt das Allerschönste: Sie hat ihm Hörner aufgesetzt, bevor sie noch mit ihm losgezogen ist. Der Friseurgehilfe hat es mir berichtet. Er hat es mit eigenen Augen gesehen, wie dieses Dämchen mitten in der Nacht – es war elf Uhr – in die Kabine Doktor Wanners geschlichen ist. Anderthalb geschlagene Stunden hat er Posten gestanden, bis sie ihren Liebhaber verließ. Und nun stellen Sie sich vor, man glaubt, so etwas kommt nur in Romanen vor, unmittelbar darauf brennt sie mit dem Großindustriellen durch. Der eine fürs Herz – der andere fürs Portemonnaie. Das sind die sittlichen Zustände, in denen wir heute leben!«

»Der Atem bleibt einem stehen!«

»Nicht so pathetisch, Eugenie, derartige Dinge sollen auch früher passiert sein.«

»Nein, das bestreite ich«, entgegnete die Gräfin.

Doktor Holzmann hielt es für ratsamer, seinen Einwurf zu verschlucken.

»Und diesem Herrn Wanner, mit dem auch etwas nicht stimmt – sind die Testinis auf den Leim gegangen. Was sagen Sie dazu, Fräulein Testini wird Doktor Wanner heiraten – und unsere Freundin Miß Bottchen wird als Trauzeugin fungieren.«

257 »Das ist die Höhe«, platzte Doktor Holzmann heraus. »Herrn Testini hätte ich für klüger gehalten.«

Die Gräfin Plessen lachte grell auf.

»Ob Sie es glauben oder nicht: Herr Testini heiratet am gleichen Tage Fräulein von Seckendorf. Das ist ein verliebter alter Narr, der seine fünf Sinne nicht mehr beisammen hat!«

Frau Doktor Holzmann war sehr nachdenklich geworden. »Da reist man von Berlin bis Kairo und Jerusalem, um solche Dinge zu erleben – und wenn ich es zu Hause erzählen werde, wird man mich womöglich noch auslachen und für die größte Aufschneiderin halten.«

Frühzeitig begab man sich zur Ruhe. Die Schlafzimmer eisig, als steckte man mitten im deutschen Winter.

Am nächsten Morgen regnet es Bindfaden. Schneidender Wind fährt den armen Pilgern durch die Glieder. In den Kirchen friert man sich zu Tode, und Benjamin Sterzel sagt: »Ach, der Mensch ist nur bei Sonnenschein zu gebrauchen. Was nützen einem alle ehrwürdigen Erinnerungen, wenn der Körper vor Kälte abstirbt.«

Im Eilschritt führten die Brüder Sterzel Toni durch die schmutzigen Straßen Jerusalems. Alte Juden laufen in ihren langen Kaftanen, mit ihren Peies und den rotgeränderten Augen an ihnen vorbei – oder stehen trotz dem strömenden Regen schmusend und faulenzend an den Häuserecken. Dazwischen tauchen die Gestalten griechischer 258 Popen oder deutscher Mönche auf. Hochaufgerichtete Araber mit dunklem Haupthaar und blendend weißen Zähnen treten ihnen entgegen.

Und dann kommen sie zur Klagemauer, an deren engem Zugange triefäugige, verwahrloste und verlumpte alte Weiber hocken und die geöffneten Hände bettelnd ihnen entgegenstrecken.

Mit dem Gesicht an die Mauer gedrückt, die Fremden nicht beachtend – stehen mit ihren Kindern arme Juden da und stoßen weinend und heulend herzzerreißende Gebete und Klagen über den Fall Jerusalems aus.

»Auf Kinder und Kindeskinder«, sagte der Lehrer, »geht dieser Jammer wie ein rituelles Vermächtnis über.«

»Was hätten sie auch sonst zu vererben!« warf der Doktor dazwischen.

Aber Toni dachte nicht an den Fall Jerusalems. Das eigene Leid hatte sie stumpf und teilnahmslos gemacht. Sie ließ sich führen, schleppte sich mühsam durch den Schmutz der Straßen – sah nichts und hörte nichts.

Am liebsten hätte sie sich bis zur Rückfahrt in ihr dunkles Zimmer eingeschlossen, mit den Kleidern auf ihr Bett geworfen, um einzuschlafen und nicht mehr zu erwachen. Das Spiel des Lebens war für sie beendet.

Aber den Brüdern wollte sie den Spaß nicht verderben. Die wollten unter keinen Umständen auf die Fahrt nach dem Jordan und dem Toten Meer verzichten, obwohl der strömende Regen die Erde 259 aufgeweicht und tiefe Furchen und Löcher gerissen hatte.

So sauste das Auto auf glitschiger, gefährlicher Straße den Weg hinunter, der sich in kaum einer Stunde um mehr als tausend Meter senkt. Das Judäagebirge mit seinen phantastischen, grauvioletten Bergrücken, die wie ungeheuerliche Fabeltiere wirkten, ließen sie hinter sich. Die Berge begannen zu schwinden. Dunstige Wärme strömte ihnen entgegen, bis sie auf eine vollkommen tropische Vegetation mit Palmen, Kakteen, Bananen und Feigen stießen.

Am Flusse Jordan trafen sie nur vereinzelte Reisende, die ausgestiegen waren, um kleine Flaschen mit heiligem Wasser für die Täuflinge in der Heimat zu füllen.

Geboren und getauft werden – wofür – weshalb? . . . Um unter die Räder zu kommen und geschleift zu werden – das war der Sinn des Daseins, dachte Toni.

Man stieg wieder in den Wagen. Aber nach kurzer Strecke sank das Auto so tief in den aufgeweichten Boden, daß an eine Weiterfahrt nicht zu denken war.

Das Tote Meer jedoch lag vor ihren Blicken: bleiern, grün, bleich, regungslos. Es trug seinen Namen zu Recht – denn Todesluft und Todesschauer stiegen aus seinen Tiefen.

In dieser Atmosphäre wurde Toni wunschlos – fühlte sich der ewigen Heimat nahe. 260

 


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