Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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20

Miß Bottchen fühlte sich, als man wieder an Bord kam, nicht gerade zum besten. Der Schrecken lag ihr noch in den Gliedern. Und wenn sie sich im Spiegel betrachtete, entsetzte sie sich vor ihrem verfallenen Aussehen. Ihr Gesicht hatte eine krankhafte Blässe – ihre Augen waren eingesunken – ihr Hals starrte ihr mager – dünn und eingefallen entgegen.

Die meisten Passagiere schliefen noch, als sie sich 194 in den Damenfrisiersalon begab. Außer dem Gehilfen, einem nicht mehr jungen Menschen, befand sich keine Seele in dem engen Raum.

»Können Sie mir das Haar mit Eau de Quinine waschen und ondulieren?«

»Bitte, nur Platz zu nehmen, meine Gnädige! Wird alles aufs beste besorgt.«

Sie blickte flüchtig auf und sah in ein kleines, spitzes Vogelgesicht mit traurigen, erloschenen Pupillen.

»Sollte man die Haare nicht wieder einmal färben, Gnädigste? Es würde Ihnen besser stehen – sind etwas brüchig geworden – der Glanz ist dahin!«

»Finden Sie, daß ich sehr elend aussehe?«

»Ein bißchen angegriffen – ein bißchen blaß, Miß Bottchen! Wir haben ein flüssige, französische Schminke und einen Puder auf Lager, die fabelhaft wirken . . . Die Gräfin Plessen hat zwei Flaschen bereits verbraucht. Behagt Ihnen das Eau de Quinine, meine Gnädige? Falls meine Hände Ihre Kopfhaut zu schwer berühren – bitte es nur zu sagen! Kopfmassage darf nur individuell ausgeführt werden – in den Fingerspitzen muß man es haben, wie jede Frau behandelt sein will. Es gibt Damen an Bord«, fügte er hinzu, »die sich nur von mir und nicht von dem Chef behandeln lassen – ich übertreibe nicht, Miß Bottchen!«

»Ihre Hände tun mir tatsächlich gut! Kommen Sie eigentlich auf Ihre Kosten – lohnt sich wenigstens Ihre Tätigkeit an Bord?«

195 Über das traurige Gesicht des Gehilfen glitt ein Schatten.

»Sie ahnen nicht, wie kleinlich die meisten Gäste sind. Sous discrétion! Neulich hat mir die Gräfin Plessen nach einstündiger Behandlung ein Trinkgeld von 30 Pfennigen, sage und schreibe dreißig Pfennigen, angeboten. Sie sind sehr gütig, Frau Gräfin, habe ich geantwortet – aber auf Trinkgelder sind wir hier nicht angewiesen. Finden Sie das nicht sehr fein ausgedrückt, Miß Bottchen?«

»Mehr als fein! Sind Sie eigentlich verheiratet?«

»Leider, meine Gnädige! Sogar glücklich verheiratet – aber sieht man denn seine Familie – hat man etwas von ihr? Man ist ja ewig auf dem Wasser! Dabei besitze ich einen Jungen, Miß Bottchen, das reine, kleine Genie! Elf Jahre ist er alt – und wie er zeichnet – der wiederauferstandene Raphael! Das Bild müßten Sie sehen – das er vor der Abfahrt aus Hamburg von der »Orinoco« gemacht hat – da fehlt nicht ein I-Tipfelchen!«

»Lassen Sie ihn doch Maler werden!«

»Ach, Miß Bottchen, wie soll unsereiner dazu kommen! Es reicht kaum zum Notwendigsten! Ich spare mir schon die Groschen vom Munde ab, um ihn auf die hohe Schule zu bringen. Man möchte doch, daß sein Kind es einmal besser hat als man selbst!«

Miß Bottchen sah den Mann eine Zeitlang prüfend an.

»Ich wüßte schon, wie Ihnen zu helfen wäre!«

»Sie wüßten es?«

196 Der Gehilfe hörte mitten in seiner Arbeit auf – ein stumpfe Röte bedeckte seine Backenknochen.

»Sind Sie ein Mensch, der zu schweigen und zu handeln vermag?«

»Würden Sie mein Leben kennen, Miß Bottchen – wäre diese Frage überflüssig! Ich befände mich nicht an Bord – hätte meine Familie nicht verlassen, lägen nicht gewisse Handlungen hinter mir, die mich zu absolutem Schweigen verpflichteten.«

»Sie sind mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?«

»Wenn man es so ausdrücken will, ja.«

»Hört uns hier niemand?«

Der Gehilfe schob die Gardine auseinander.

»Nein, Miß Bottchen, wir sind ganz ungestört.«

»Hören Sie, mein Lieber!«

Miß Bottchen zog aus ihrer Handtasche eine Karte, die sie ihm dicht unter die Nase hielt.

»Sie sind Mitglied der Polizei?« stammelte er. »Sie werden doch von meinen Andeutungen um Gottes willen keinen Gebrauch machen?«

»Darauf geben ich Ihnen mein Ehrenwort! Kennen Sie Mister Wanner?«

Der Gehilfe nickte, seine Hände glitten zitternd und mechanisch durch das glanzlose Haar Miß Bottchens.

»Nun, dieser Mister Wanner wird von mir verfolgt. Die Beweise seiner Schuld habe ich in Händen. Ich hätte meine Nachforschungen längst abschließen können, wenn nicht der Zimmersteward Mister Wanners ein ausgemachter Trottel und die Stewardeß eine komplette Gans wären. Ich hatte beide mit 197 gewissen Recherchen beauftragt – und diese Menschen waren so blöde, nicht reinen Mund zu halten. Trauen Sie sich zu, unbemerkt, beispielsweise während der Mahlzeiten, in die Kabine Mister Wanners zu gelangen und sie nach Schriftstücken jeglicher Art gründlich zu untersuchen? Wären Sie imstande, sich einen Nachschlüssel zu verschaffen, da Doktor Wanner den seinen stets bei sich trägt? Beantworten Sie meine Frage nicht eher – als bis ich ausgesprochen habe. Ich würde Ihnen für jedes Papier, das Sie entdecken, zwanzig Dollar zahlen – und ich kalkuliere, daß Sie mindestens fünfundzwanzig finden werden. Immerhin könnte dabei ein Sümmchen herauskommen, mit dem sich etwas anfangen ließe. Die Papiere«, schloß sie, »würde ich eventuell photographieren lassen, so daß Sie in der Lage wären, die Originale wieder an Ort und Stelle zu schaffen.«

»Ich sehe keine Schwierigkeiten«, entgegnete in gedämpftem Tone der Gehilfe. »Von Hause aus«, fügte er leiser hinzu, »bin ich übrigens gelernter Mechaniker.«

»Um so besser – das erleichtert vieles. Hier haben Sie als Anzahlung zwanzig Dollar – ich nehme an, daß ich mich auf Sie unbedingt verlassen kann – sollten Sie mir wider Erwarten eine Enttäuschung bereiten, so würden Sie die Folgen zu tragen haben!«

»Miß Bottchen werden die Prämie erhöhen – ich garantiere den Erfolg.«

»Sind Sie bald fertig?«

»Noch fünf Minuten, meine Dame!«

Während dieser kurzen Spanne wurde zwischen 198 ihnen kein Wort mehr gewechselt. Dann erhob sich Miß Bottchen, blickte in den großen Spiegel und schien von ihrer Verwandlung einigermaßen befriedigt. »Au«, schrie sie plötzlich auf, »diese verdammten Stiche!«

Oben auf dem Deck waren nur wenige Menschen. In der Nähe der Kommandobrücke traf sie Kapitän Groen.

»Wissen Sie, Miß Bottchen, diese kleine Wünsch, heißt sie nicht Camilla, wäre so mein Fall«, sagte er lachend.

»Heiraten Sie sie doch!«

Groens Gesicht wurde säuerlich.

»Ist mit mir nicht zu machen, meine Liebe, längst alter Ehekrüppel!«

»Kein Hindernis, Kapitän!«

Er begriff sie im ersten Moment nicht.

»Lassen Sie sich scheiden! Glauben Sie ernstlich, daß das heut Schwierigkeiten macht?«

»Guten Morgen, Miß Bottchen!«

Sie ging in den Speisesaal und bestellte ihr Frühstück. Nach dem ersten Schluck Schokolade wurde ihr übel – sie spürte wieder diese furchtbaren Schmerzen, die sich bis in den Rücken zogen – und zugleich wurde ihr Körper von einem derartigen Krampf ergriffen, daß es vor ihren Augen zu flimmern begann.

Sie stöhnte in sich hinein. »Lieber Gott, tu mir das jetzt nicht an«, betete sie – dann nahm sie ihren photographischen Apparat und eilte wieder auf Deck.

199 Da stand geistesabwesend Doktor Wanner und blickte starr, bewegungslos auf das Meer. Bei seinem Anblick erwachten ihre Lebensgeister –, ihre Schmerzen schienen einen Moment wie weggeblasen. Ohne daß er ihre Gegenwart bemerkte, machte sie ihren Apparat zurecht und knipste. Noch eine zweite Aufnahme riskierte sie.

Dann aber glaubte sie zusammenzubrechen.

»Geben Sie mir Ihren Arm, Steward, führen Sie mich schleunigst in meine Kabine«, brüllte sie wie ein Tier auf.

Unausgekleidet warf sie sich in ihr Bett.

»Rufen Sie den Schiffsarzt – er möchte sofort kommen – rasch – hören Sie denn nicht?!«

Sie fing zu schreien an, ihr Körper tobte.

»Wo stecken Sie denn, Herr Doktor«, rief sie dem jungen Menschen entgegen – »inzwischen verrecke ich ja!«

»Machen Sie, bitte, Ihren Körper frei. Wo sind die Beschwerden? Hier? . . . Da . . .?«

»Sie tun mir ja weh, Doktor, das halte ich nicht aus – das ertrage ich einfach nicht!«

»Eine Sekunde Geduld!« Er holte aus dem kleinen Kasten, den er mitgebracht hatte, eine Spritze und mehrere Flüssigkeiten. »Machen Sie das rechte Bein frei!«

Er reinigte oberhalb des Knies eine kleine Fläche mit Alkohol und injizierte ihr dann mit großer Geschicklichkeit das Morphium.

»Jetzt werden Sie gleich Ruhe haben! Besitzen Sie eine Wärmflasche?«

200 Sie nickte wortlos.

Er klingelte – und zu der eintretenden Stewardeß: »Füllen Sie Miß Bottchens Wärmflasche mit heißem Wasser, hüllen Sie sie in einige Handtücher und tun Sie sie ihr auf den Leib! Ich möchte Sie noch messen, Miß Bottchen!«

Die Kranke richtete sich mühsam auf. Der junge Arzt hielt ihren Puls. Gesprochen wurde nichts. Nach zehn Minuten etwa entfernte er das Thermometer und schüttelte es wieder.

»Habe ich Temperatur?«

»Etwas über 37«, log der Arzt. »Und jetzt werden Sie einschlafen – es dauert nicht mehr lange!«

Miß Bottchen fielen die Lider schwer zu – sie ächzte und wimmerte noch eine kleine Weile – dann gab sie keinen Laut mehr von sich, nur eine Art von Röcheln entrang sich ihr.

Zwei Stunden mochte sie so dagelegen haben, als sie sich von neuem unruhig zu wälzen begann, mit lautem Wehgeschrei erwachte und wieder nach dem Doktor verlangte.

»Wissen Sie«, meinte der Schiffsarzt, »ich möchte doch, wenn es Ihnen recht ist, noch Doktor Sterzel hinzuziehen. Vier Augen sehen mehr als zwei!«

»Nur schnell«, erwiderte sie, vor Schmerzen sich windend.

Doktor Sterzel untersuchte sie eingehend.

»Haben Sie ein besonderes Leiden, Miß Bottchen?«

»Gallensteine, Herr Doktor!«

»Na«, erwiderte er, »dann ist alles sonnenklar! 201 Ein heftiger Anfall, der bald vorübergehen wird. Sie werden ein paar Tropfen einnehmen – noch eine Injektion kriegen – und in wenigen Stunden wird alles vergessen sein!«

Diese Aussage sollte indessen nicht zutreffen. Im Gegenteil, die zweite Morphiumspritze, die Miß Bottchen verabreicht worden war, hatte sich als wirkungslos erwiesen. Und als Doktor Sterzel und der Schiffsarzt nach einer Stunde wieder an ihr Bett gerufen wurden, nahmen ihre Mienen einen recht bedenklichen Ausdruck an. Miß Bottchens Temperatur war auf 40 Grad gestiegen.

»Ich rate Ihnen dringend«, sagte Sterzel, während er die Hand der Kranken hielt, »Doktor Wanner zu bitten, an dem Konsilium teilzunehmen. Der Fall sieht komplizierter aus, als wir annahmen.«

Miß Bottchen sprang aus ihren Kissen auf.

»Sprechen Sie nicht weiter, Herr Doktor«, stieß sie in maßloser Aufregung hervor. »Rufen Sie, wen Sie wollen – nur diesen Menschen nicht. Dieser Mensch«, fügte sie mit verzerrten Mienen hinzu, »würde mich ohne Erbarmen töten.«

Sie fiel wieder zurück und begann zu lärmen, zu kreischen und zu toben.

»Miß Bottchen«, nahm Doktor Sterzel das Wort, »nehmen Sie sich jetzt ein wenig zusammen und reden Sie nicht solchen Unsinn! Ich kann Ihnen nur versichern, Doktor Wanner ist eine Autorität ersten Ranges – und es ist ein Glück für Sie, daß wir ihn an Bord haben. Es ist die höchste Zeit, Miß Bottchen, und ich für meinen Teil lehne 202 jede Verantwortung ab, wenn Sie bei Ihrem Nein bleiben!«

Sie sah in Sterzels Züge und erkannte, daß es ihm mit seinen Worten furchtbar ernst war.

»Rufen Sie ihn,« sagte sie verängstigt.

Doktor Wanners Untersuchung dauerte eine geschlagene, halbe Stunde. In dieser Zeit glaubte sie öfters als einmal ihr Herz zerspringen zu hören.

Als er fertig war, sprach er zunächst kein Wort, sondern trat lautlos an den Waschtisch, um seine Hände zu reinigen. Dann wandte er sich wieder an Miß Bottchen.

»Seit wie lange«, fragte er, »hat Ihre Verdauung ausgesetzt?«

»Seit drei Tagen.«

Er winkte den beiden Ärzten und flüsterte eine Weile mit ihnen.

So angestrengt Miß Bottchen lauschte – sie vermochte kein Wort zu verstehen. Sie sah nur zu ihrem Entsetzen, daß der Schiffsarzt und Doktor Sterzel im Begriff waren, ihre Kabine zu verlassen. Beim Herausgehen sagte Doktor Sterzel:

»Wir teilen vollkommen die Ansicht des Kollegen Wanner. Wenn Sie seinen Rat befolgen, kann noch alles gut werden!«

»Herr Doktor«, schrie sie dem Schiffsarzt nach »ich bitte Sie inständigst, mich nach zehn Minuten noch einmal aufzusuchen.«

Die Tür schloß sich hinter den beiden.

»Miß Bottchen, Sie sind sehr, sehr krank«, sagte Wanner nach einer kurzen Pause. »Von rechtswegen 203 müßten Sie sofort operiert werden, was hier auf dem Schiffe natürlich ein Ding der Unmöglichkeit ist.«

»Soll ich Ihnen sagen, was Sie in diesem Augenblick denken?« fragte sie und stützte dabei mühsam ihre Ellbogen auf die Kissen. »Sie denken«, fuhr sie dann mit einem gequälten, unheimlichen Lächeln fort, »es wäre das Beste, wenn dieses Luder jetzt verrecken würde. Ist es so oder nicht?«

»Sie haben mitten ins Schwarze getroffen, Miß Bottchen,« entgegnete er, erschreckt über die Schärfe und Klarheit, mit der sie in sein Inneres zu blicken vermochte. »Ein so abscheuliches Reptil wie Sie,« fuhr er nach kurzem Besinnen fort, »täte am besten daran, lautlos zu verschwinden. Die Welt hätte keinen Schaden davon!«

»Sie wollen mich also ermorden?« schrie sie, an allen Gliedern bebend.

»Ich werde im Gegenteil alles daran setzen, Ihr Leben und Wirken der Menschheit zu erhalten. Mit Ihrem Blute möchte ich mich nicht beflecken.«

Er setzte sich an den Tisch und schrieb ein Rezept.

»Lassen Sie es unverzüglich in der Schiffsapotheke machen! Nehmen Sie einen vollen Eßlöffel – eine halbe Stunde später wird Ihnen einer der Herren Kollegen eine Atropinlösung injizieren. Wenn Sie Glück haben – tritt gegen Abend eine Entleerung ein – und Sie sind über den Berg! Gute Besserung, Miß Bottchen!«

In der Tür stieß er auf den Schiffsarzt, dem er leise noch eine Weisung gab.

204 »Sehen Sie sich diese Rezepte genau an«, stöhnte Miß Bottchen.

»Ich bin ganz im Bilde«, erwiderte der junge Arzt. »Doctor Wanner hat die Diagnose auf Darmverschluß gestellt. Seine Anordnungen allein können Ihnen noch helfen. Hoffen wir das Beste!«

 


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