Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Man geht, um den Kirchhof in Elsterhausen zu erreichen, rechts von der Hauptstraße ab eine Anhöhe hinauf. Eine alte, schmucke Kirche erhebt sich fast in der Mitte des Hügels, und rings umher befinden sich die vielfach von Bäumen beschatteten und meist sorgsam gehaltenen Gräber, herabreichend bis an die Gärten der die Straße flankierenden Häuser. Ein stiller Ort, an dem die Vögel heimlich singen, an dem selbst der Wind sanfter zu rauschen scheint, wenn er seine Flügel erhebt.

Es ist morgens um die zehnte Stunde; die gesamte Natur liegt da in einem durch die Frühsonne verklärten Frieden. Überall junges Grün, wohin das Auge blickt, Grün und Gold, und die Erde haucht jenen gleichsam aus der Tiefe quellenden Atem aus, der, sich mit dem Duft der Blumen vermählend, unsere Sinne halb anregt, halb in eine sanfte Erschlaffung versetzt.

Den Sarg, welchen der Leichenwagen heranfährt, begleiten nur drei Personen. Sie gehen wortlos hinter dem Gefährt her, und jeden leitet auf diesem Gange ein nicht auf den Verstorbenen gerichteter Beweggrund und Gedanke.

Es ist die Verehrung für die Frau des Toten, das Interesse für sein noch lebendes Kind, was sie nach Elsterhausen geführt hat.

Tankred von Brecken – über drei Wochen sind vergangen – war in dem öffentlichen Krankenhause, in das er auf Anordnung der Sanitätspolizei und der Gerichte gebracht worden, verschieden. Geistige und körperliche Qualen, wie sie selten einen Menschen heimsuchen, hatte er erduldet, bis er seine Seele ausgehaucht. Aber noch Schlimmeres hätte ihn erwartet, wenn es der Pflege gelungen wäre, ihn am Leben zu erhalten. Und das hatte der Mann gewußt in den wenigen lichten Augenblicken seiner Krankheit, in denen endlich auch das Gewissen mit ganzer, furchtbarer Gewalt zum Durchbruch gekommen war.

Aber er wußte noch mehr. Er hatte vom Himmel nichts zu erflehen, da er alles Erbarmen verwirkt, und dennoch richteten sich seine Gedanken hinauf, und die gefalteten Hände zitterten, und der Mund flehte stöhnend: »Nimm mich fort, sende mir den Tod. Übe dein göttliches Mitleid an der von Dir erschaffenen Kreatur, indem Du ihr das nimmst, was die anderen als höchstes Gut erkennen: das Leben – – !«

Und das Schicksal hatte ihn nach entsetzlichen Kämpfen erlöst; an einem Hirnschlag, der sein krankhaft vibrierendes Nervengeflecht lähmte, war er gestorben, und Staatsanwalt, Richter und Henker wurden ihres Opfers beraubt. –

Der Leichenzug war oben angelangt; die Träger hoben den Sarg, auf den niemand eine Blume oder gar einen Kranz niedergelegt hatte, vom Wagen und schritten an die Gruft, an welcher der Küster mit seinen Gehülfen harrte. Es ward nicht gesprochen, alles vollzog sich stumm und tonlos.

Nur als der Sarg eingesenkt wurde, entstand durch das Hinabrollen einiger klebriger Erdstücke ein Geräusch. Sie fielen dumpftönend auf den Deckel, aber sie störten den Schläfer nicht mehr –

»Wir wollen ein Vaterunser beten,« hub Höppner an. Aber er sprach noch anderes. Seine verzeihende Seele drängte nach einem Wort: »Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet! Die Fehler und Vergehen des Unglücklichen, Verirrten, den wir eben in die Erde gebettet haben, waren das Ergebnis einer verkehrten Erziehung; er hatte durch Naturveranlagung einen schwereren Kampf mit sich zu bestehen als andere. Das mildert seine Schuld in den Augen der Barmherzigen. Gott möge ihm gnädig sein!« –

Als die drei Männer, Herr von Tressen, Pastor Höppner und Hederich, langsam den Weg zurücknahmen, zwitscherten über ihnen die Vögel mit süßem, fröhlichen Gesang; von unten drang das Geräusch emsigen Lebens an ihr Ohr. Leben und Daseinsdrang überall! Und das Gefühl einer schweren Last war auch von der Seele dieser Männer gewälzt und machte sie leicht und hoffnungsfroh.

Hier hinterließ der Tod keine Narben, hier war er eine Erlösung für die Zurückbleibenden, wie er eine Erlösung gewesen für den Vernichteten, der einst geglaubt hatte, der Mensch vermöge sein Schicksal zu lenken nach seinen Wünschen und Vorstellungen. –



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