Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als Tankred sich nach Tisch in des Onkels niederließ und bei der angesteckten Pfeife die gegenwärtigen und kommenden Dinge nochmals überlegte, drängte sich ihm auch die Sorge für das Nächstliegende auf. Seine Tante hatte seit Beginn ihrer Krankheit nicht wieder gefragt, ob er Geld bedürfe, und sein Barvorrat war ihm schon seit acht Tagen fast ganz ausgegangen. Die Kosten für seine letzte Reise hatte Frege bestritten, den er mit Hinweis auf die alte Dame um Geld angegangen war. Abgesehen von dieser Schuld, die ihn an sich zwar durchaus nicht drückte, denn er hatte die Mittel zur Befriedigung seiner Gelüste bisher in der Welt stets genommen, wo er sie gefunden, die ihm aber wegen seiner Stellung im Hause peinlich war, fehlten ihm die Mittel für das Notwendigste. Er konnte nicht einmal ins Dorf in den Krug gehen, und der Vorrat an Tabak und Zigarren aus dem Nachlaß des alten Onkels ging auch zu Ende.

Die letzten Monate auf Falsterhof hatten ihn anspruchsvoller gemacht, er fand manches an seiner Toilette auszusetzen, und allerlei Bedürfnisse regten sich in ihm, die er früher aus Mangel an Geld notgedrungen hatte unterdrücken müssen.

Natürlich! Je früher er Theonie seinen Entschluß kund gab, Falsterhof zu verlassen, desto eher gelangte er in Besitz von Geld. Seine Genußsucht und seine Ungeduld überwogen häufig seine Klugheit und Selbstbeherrschung; auch in diesem Falle ging's ihm durch den Sinn, lieber rasch zu nehmen, was er bekommen konnte, als den langen und ungewissen Weg der Intrigue einzuschlagen. Aber dann überlegte er wieder, wie groß der Unterschied sei zwischen dem, was er erreichen werde, wenn er möglichst lange mit seiner Abreise zögerte, und dem, was Theonie ihm jetzt wahrscheinlich bieten werde.

Er glaubte, seine Kousine ganz zu durchschauen. Wenn die Ungeduld sie erfaßte, würde sie vielleicht die Abfindungssumme höher normieren. Also warten, trotz allem warten!

Als er sich später in den Park hinaus begab und dort gegen seinen Willen sein Gehirn wieder zu arbeiten begann, packte ihn plötzlich das Mißtrauen, und ihn ergriff ein ungeduldiges Verlangen, einen Einblick in das Testament zu gewinnen.

Dieser Gedanke beschäftigte ihn auch noch, als er sich im Stall von dem Kutscher Klaus des alten Onkels Pferd satteln ließ und einen Spazierritt unternahm.

In jedem Fall beschloß er, nachdem an diesem Abend sich alles in Falsterhof zur Ruhe begeben, in der Tante Wohnzimmer zu schleichen und nachzuforschen, ob er nicht etwa mit einem seiner Schlüssel zum Inhalt der Schublade gelangen könne, an der er Theonie heute hatte hantieren sehen.

Als er diesen Entschluß gefaßt hatte, hielt er unwillkürlich sein Pferd an und warf einen Blick in die Gegend. Vor ihm – er befand sich auf einer Anhöhe – lag im Thal das Gut Holzwerder, das einem Herrn von Treffen gehörte. Die weißen Wände des Herrenhauses schauten malerisch aus dem Grün hervor, und namentlich hoben sich links und rechts emporsteigende Tannenwälder reizvoll von der übrigen Umgebung ab.

Tankred erinnerte sich der Mitteilungen seiner Tante über die Verhältnisse der Familie Tressen. Diese waren eigentümlicher Art. Herr von Tressen und seine Frau besaßen eigentlich nichts, alles gehörte der Tochter. Von deren Gelde lebten sie, und schon oft war in der Nachbarschaft die Frage ausgeworfen worden, wovon Tressens wohl existieren sollten, wenn Grete von der Linden, die Tochter des ursprünglichen Besitzers von Holzwerder und ersten Gatten der jetzigen Frau von Tressen, einmal heiraten würde.

Während Tankred von Brecken noch auf der Höhe verharrte und nun eben seinen nach den überhängenden Zweigen eines Knickes schnappenden Fuchs wehrte, erklang hinter ihm das Geräusch von Schritten, und als er sich zur Seite wandte, hörte er die Worte sagen: »Nicht wahr, es ist schön hier? – Guten Abend.«

Der Mann, der sie sprach, hatte ein breites, ausdrucksvolles Gesicht, ja, zwei Linien um den Mund waren so scharf, daß sie sich beim Sprechen eingruben, als seien sie künstlich in die Haut gemeißelt. Der untere Teil des Gesichts erhielt dadurch fast das Aussehen einer Maske, aber die buschigen Augen blickten ruhig, und die energische Stirn, an die das Haar schon etwas grau sich anschmiegte, zeigte keine Spur des Alters. Der Fremde trug sich wie ein Verwalter oder Pächter, und er war auch der Verwalter von Holzwerder.

»Ist wohl ein großer Besitz?« hub Tankred, den Worten des Mannes durch Kopfnicken beistimmend, an. »Ist dort unten am Fluß nicht die Scheide zwischen Falsterhof und Holzwerder?«

»Ja, mein Herr – Ah –« unterbrach er sich, als Tankred unter Nennung seines Namens den Hut lüftete und sein Pferd in Bewegung setzte, »sehr angenehm – Haben schwere Trauer drüben gehabt? Ja, ja, alles fegt die Zeit zuletzt weg. Drum und dran – .« Dieselben Worte wiederholte der Mann noch mehrmals, ohne Beziehung zu seiner Rede und fuhr fort: »Aber um auf Ihre Frage zu kommen, Herr von Brecken. Ja, da ist die Grenzscheide. Vor langer Zeit gehörten die Güter zusammen, alles gehörte der Familie von der Linden.

»Dann hat also diese an die Breckens verkauft?«

»So ist es! Die Lindens besaßen noch mehr Güter. Es war die reichste Familie – drum und dran – in der Umgegend: aber der Großvater des Letztverstorbenen wußte schon nicht zu wirtschaften, und» – nun erschienen die tiefen Falten –«so hat sich's nach und nach abgebröckelt.«

»Aber immerhin ist wohl Holzwerder noch ein großes Gut?« forschte Tankred neugierig.

Der Mann zog die Nase und den Mund, er antwortete auch nicht gleich und sagte erst nach einer Pause ausweichend:

»Ja, groß ist der Besitz – doch haben wir auch Lasten, – drum und dran – ja, ja, gewiß, mancher würde die Finger lang ausstrecken, wenn er Fräulein Grete von der Linden wäre.«

»Grete von der Linden?« setzte Tankred an, als ob ihm die Verhältnisse völlig fremd wären.

»Ja, sie ist die Besitzerin. Die alten Herrschaften leben aber auch auf dem Gut. Übrigens, da kommt grade das gnädige Fräulein mit ihrer Gesellschafterin her.«

In der That bogen zwei Frauengestalten um die Ecke, und Tankred sah eine schlank gewachsene, in gesunder, zarter Fülle prangende Blondine. Grete von der Linden, und eine etwas ältere Dame mit einem feinen, geistvollen, aber blassen Gesicht vor sich.

Es erfolgte eine Begrüßung, doch Tankred, dem plötzlich ein berechnender Gedanke durch den Kopf schoß, beschränkte sich nicht allein auf diese Artigkeit, sondern ließ sich von dem Verwalter Hederich vorstellen.

Bald nahmen alle den Weg tiefer in das Thal hinab, und ein lebhaftes Gespräch entspann sich zwischen Tankred, der die ganze Kunst seiner Verstellung aufbot, um der Fremden zu gefallen, und der letzteren, welches damit endete, daß sie ihn einlud, baldigst auf Holzwerder einen Besuch abzustatten.

»Meine Eltern,« erklärte sie, »sind seit einigen Wochen verreist. Dies ist auch der Grund, weshalb sie sich nicht zum Begräbnis Ihrer Frau Tante eingefunden haben. Sie kehren aber heute abend zurück und werden sich sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Als dann an einer Wegbiegung Tankred den Fuchs, den er bisher hatte im Schritt gehen lassen, anhielt und Miene machte, sich zu verabschieden, ward er durch den etwas steifen und, wie ihm scheinen wollte, mißtrauischen Blick der Gesellschafterin betroffen, während ihm Hederich, der Verwalter, mit derber Zutraulichkeit die Hand schüttelte und bat, daß Tankred auch ihm bei seinem demnächstigen Besuch nicht vorbeigehen möge. –«Drum und dran – es wird mir eine große Ehre sein, wenn Sie bei nur eingucken möchten, Herr von Brecken.«

Und dann setzte Tankred, noch einen verlangenden Blick auf die leicht errötende Grete von der Linden werfend, sein Pferd in Trab.

»Ein eigenes Geschöpf,« murmelte er im Weiterreiten. »Schön, sehr selbständig und – klug. Aber auch kalt! Sie hat etwas im Auge, das unnatürlich ist für ihr Alter. Nun, ich werde ja sehen – heute abend will ich Theonie einmal über sie ausfragen.«

Als Tankred mit schon sinkendem Abend nach Falsterhof zurückkehrte, fiel ihm auf, wie einsam, düster und abgeschlossen doch eigentlich der Besitz belegen war: Der Pächterhof weit ab, in dem großen Hause die wenigen Menschen, und außer ihnen nur in einem Katen neben dem Park der zwiefache Funktionen besorgende Kutscher und Gärtner Klaus.

Und den Mann überfiel's, daß einmal in der Nacht Unwillkommene ins Haus eindringen und stehlen und – morden könnten – ihn und Theonie – ! Und bei dem Gedanken an Mord dachte er, wie es wohl werden würde, wenn man Theonie von fremder Hand erschlagen im Bette fände, wenn kein Glied der Breckenschen Familie mehr auf der Welt sei – außer ihm – – – !?

Unter solchen Vorstellungen warf er dem herbeieilenden Klaus die Zügel des Fuchses zu, öffnete die Hausthür und trat, begleitet von dem impertinenten Klingelton und dem Bellen des »verfluchten Köters« Max, dem er einen Fußtritt versetzte, in den Flur.

Die gnädige Frau hätten sich schon in ihr Zimmer zurückgezogen, sie lassen sich entschuldigen, erklärte Frege, und leuchtete Tankred zunächst in seine Gemächer und dann ins Speisezimmer, wo letzterer den Tisch für sich gedeckt fand.

Als er sich niederließ, fand er neben dem Kuwert einen Brief, dessen Inhalt ihn nicht wenig in Erstaunen setzte und beschäftigte.

Aber während er ihn las, waren zwei Augen von denselben Platze aus auf ihn gerichtet, von dem er damals am Sterbeabend seiner Tante diese und Theonie beobachtet hatte, und diese Augen, die sonst so ruhig blickten, als ob sie durch nichts erregt werden könnten, als ob sie nur Sehvermögen besäßen für den einschränkten Wirkungskreis, der ihrem Besitzer angewiesen, funkelten drohend und schienen zu sagen: »Einer wacht über allem, was Du thust und thun wirst. Hüte Dich!« Die Augen gehörten dem alten Frege.



 << zurück weiter >>