Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Und durch die Nacht jagte mit einem wahnsinnigen Schmerz an der rechten Schulter, da, wo ihn die Kugel aus Freges Pistole getroffen hatte, Tankred von Brecken. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, die Glieder flogen, die Brust hämmerte. – Vorwärts! Vorwärts! Zunächst weit weg aus dem Gutsbereich, in eine andere Gegend, wo man ihn nicht kannte, zurück nach L. und von dort nach Hamburg. Und von Hamburg am folgenden Tage nach dem Süden!

Ja, wenn's ging! – Schon mußte er froh sein, wenn er sich mit der Wunde bis dahin schleppte. Im Körper brannten die Schmerzen, und brennend ging's auch durch sein Gehirn, denn während er dahin stürmte, erschien wieder vor seinem inneren Auge das unglückliche Geschöpf in dem hohen Himmelbett. Wie sie die Augen aufgeschlagen, als er sich ihr genähert hatte; wie ihre Mienen sich angstvoll verzerrt hatten; wie trotz der Schnelligkeit, mit der er sie gepackt, doch ein wimmernder Klageton, ein Ton, den er nicht vergessen würde, und sollte er tausend Jahre alt werden, aus ihrem Munde gedrungen war! Und wie er sie dann mit beiden Händen an die Gurgel gefaßt hatte, und wie im Sterben noch ihr halb flehender, halb entsetzter Blick auf ihn gerichtet gewesen war! – Es war grausig noch in der Erinnerung. In der Wirklichkeit aber war's so fürchterlich gewesen, daß sein Herz fast erweicht worden war. Er hatte Mitleid mit dem armen, hülflosen Geschöpf empfunden – er hätte ihr lieber vorher noch die Wahl gelassen zwischen freiwilliger Besitzabtretung oder Sterben. Aber schon war's zu spät gewesen. Die Augen waren verglast und aus den Höhlen getreten, die Brust hatte aufgehört zu atmen, der in Todeswahnsinn arbeitende, sich sträubende Körper hatte keine Kraft mehr gehabt. Und rasch hatte er ihr Gewand herabgerissen und an ihrem Herzen gehorcht. – Nein! Es schlug nicht mehr, und schlug sicher nicht mehr, als er noch einmal, zum letztenmal mit seinen Fäusten ihre Gurgel – – In diesem Augenblick stolperte Brecken; er stolperte unter der Wirkung gerade dieser legten Vorstellung, – denn dann hatten ihn Grausen, Entsetzen und Angst gepackt. Am liebsten hätte er gleich von oben aus das Freie gewonnen: eine unbeschreibliche, wahnsinnig beklemmende Furcht hatte sich seiner davor bemächtigt, den Weg unten durch das Haus nehmen zu müssen, über den Flur an der tickenden Uhr vorbei, in der sich bewußtes Leben zu verbergen, die ihm offene Augen zu haben schien, und die den Urheber all des Fürchterlichen verraten würde – – !

Und als er unten angelangt, war wirklich Frege vor ihm aufgetaucht, hatte ihn angestarrt mit entsetzten und doch entschlossenen Mienen – Und dann ein dumpfer Knall und ein Schmerz an der Schulter, der zunahm und immer unerträglicher wurde, jetzt so unerträglich, daß Tankred von Brecken den bisherigen, stürmenden Lauf hemmte, stille stand und in der gräßlichen Qual aufbrüllte.

Es drang unheimlich, ihn selbst erschreckend durch die Nacht! Und doch trat dieser Schmerz zurück vor einem sich jählings seiner bemächtigenden Gedanken, vor der sich zur Gewißheit steigernden Befürchtung, daß Frege ihn erkannt habe!

Ja, er mußte ihn erkannt, schon sein Instinkt mußte ihm die Wahrheit eingegeben haben! Und die alte Kanaille würde gegen ihn zeugen, würde es aller Welt verkünden, daß er, Tankred von Brecken, der Mörder sei – – !

Und man würde auf ihn fahnden, ihn suchen, bis man ihn fand. Freilich, wer, außer Frege, hatte ihn gesehen? Niemand! In dem Städtchen, wohin er eilte, war er unter einem anderen Namen bekannt, dort hatte er sich für einen in Dresden lebenden Hauptmann außer Dienst ausgegeben. Freilich, sicherer war's schon, nicht nach dort zurückzugehen und auch Hamburg zu vermeiden.

Aber was beginnen – ?

Er konnte, selbst wenn er wollte, nicht weiter kommen. Die Kräfte fingen an, ihn zu verlassen!

Und seit kurzem war auch ein Umschwung in der Witterung eingetreten. Immer schwereres Unwetter kam auf, der Mond verschwand vom Himmel, die Wolken jagten sich, ein heftiger Sturm brach los, fuhr über die Felder, Wiesen, Äcker und brachte Finsternis und zuletzt frostige Kälte mit sich.

Und durch die Nacht und den Sturm floh mit den letzten ersterbenden Kräften der Mörder, jetzt nur von dem einen Gedanken beherrscht, erlöst zu werden von den furchtbaren, qualvollen Schmerzen, die ihn bis zur Raserei peinigten.



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