Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Es war Herbstzeit, doch bisher hatte kein Sturm die Bäume ihrer Blätter entkleidet. Wohin das Auge blickte, sah es noch Laub, aber die Wälder hatten doch ihr Aussehen bereits verändert: wundervolle kupferrote und in scharfem Eiergelb prangende Farben tauchten neben dem Grün, das der Sommer gezeigt, auf, und wie mit Silber bedeckt erschien ein einzelner Baum, der, hoch die andern überragend, emporstrebte aus einem parkartigen Gehölz, welches das versteckt und düster gelegene Erbgut Falsterhof rings umgab.

An einem solchen Herbsttage, um die Dämmerung, wandte sich ein Mann, der eben die Dreißig zurückgelegt hatte, in die zu dem Gute führende Kastanienallee.

Aber bald hemmte er seine Schritte und horchte gespannt nach dem Hofe hinüber. Als von dort das Gebell eines Hundes an sein Ohr schlug, änderte er, den unheimlich klugen Mund in dem scharfknochigen, bartlosen Gesicht bewegend, die Richtung, zwängte sich durch zwei eine stille, große Wiese flankierende Feldsteine hindurch und ging, wiederholt vorsichtig um sich schauend, auf einem Umwege dem Gehöft zu.

Nach zehn Minuten hatte er ein zur Linken des Herrenhauses sich hinstreckendes, dichtes Gehölz erreicht, durchschritt es, bis er an einen Gemüsegarten gelangte, und schlich dann an einem diesen begrenzenden Wirtschaftsgebäude entlang. Hier übersprang er, den gebahnten Weg verlassend, einen mit Brennesseln bestandenen Graben und befand sich zuletzt nur noch wenige Schritte entfernt von einem hier emporragenden Flügel des Gutshauses.

Es war ein wohl über zwei Jahrhunderte alter, aus breiten, starken Backsteinen abgeführter, verwitterter Bau, umrankt von Epheu und Schlinggewächsen, und dem Auge um so unfreundlicher und düsterer erscheinend, als die Fenster tief eingeladen waren, und große Bäume ihn beschatteten.

Vor zwei Monaten war, über siebzig Jahre alt, der Besitzer von Falsterhof, Klaus von Brecken, gestorben, und seit vierzehn Tagen kämpfte seine ebenso alte Frau Marianne, geborene Sand, mit dem Tode. Das wußte der Mann, der hier horchend still stand und sich so Gewißheit verschaffen wollte über Verlauf oder Ende der Krankheit.

Das Schlafzimmer der Greisin lag nach hinten hinaus; es schaute mit seinen Fenstern auf einen jetzt von dem Fremden betretenen, von Gebüsch eingefriedigten kleinen Rasenfleck. Monate konnten vergehen, bevor es jemandem einfiel, diesen abgeschiedenen Winkel zu beschreiten; so war denn der Späher sicher, daß niemand ihn beobachten werde.

Nun drückte er sich hart an die Mauer, bestieg einen an sie gelehnten Feldstein und schaute ins Innere des Hauses.

Eben fuhr der Abendwind durch Gebüsch und Bäume und fing sich stürmisch in dieser Ecke. Aber Tankred von Brecken, der Besitzerin Neffe, kümmerte sich nicht darum.

Mit Luchsaugen beobachtete er, was drinnen im Krankenzimmer vorging. In einem hohen Bett mit verblichenen, grünseidenen Gardinen lag die alte Frau mit gefalteten Händen; eine Lampe brannte auf dem Tisch mitten im Zimmer; daneben Medizinflaschen, Gläser, Leinewand, Schwämme und Schachteln.

Alte, schwere Möbel standen ringsum; ihr Äußeres bekundete Gediegenheit und Wohlhabenheit; so ernsthaft schauten sie drein, als empfänden sie, was sich hier abspielte, als hörten sie das Röcheln der Kranken, als sähen sie das blasse, schmerzverzehrte Angesicht einer jungen Frau, die sich in einen großen, seidenbezogenen Lehnsessel niedergelassen hatte und nun schon seit zwei Tagen und Nächten von der Sterbenden, ihrer Mutter, nicht gewichen war.

Vor einigen Jahren hatte Theonie Cromwell ihren Mann, einen jungen Ingenieur, nach dreimonatlicher Ehe verloren und war dann zu ihren Eltern nach Falsterhof zurückgekehrt. Sie hatte kaum je einen Blick in die Welt gethan, denn seit ihrer Geburt war sie nur zweimal für kurze Zeit vom Gute fortgewesen. Gouvernanten hatten ihren Unterricht geleitet; als sehr spät geborenes, einziges Kind hatten ihre Eltern sie nicht missen wollen und jene Methode der Erziehung zur Anwendung gebracht, die, einem unbewußten Egoismus entspringend, mehr den Eltern selbst als den Kindern zu gute kommt.

Was sich jetzt diesem jungen Leben eröffnete, war schmerzlich genug.

Theonie war zwar Erbin des großen Besitzes, aber stand völlig allein in der Welt da. Der einzige Verwandte, den sie besaß, war Tankred von Brecken, derselbe, der eben versteckt ins Krankenzimmer spähte. Aber schon bei der ersten, vor vier Monaten erfolgten Begegnung mit ihm hatte sich ihrer eine unauslöschliche Abneigung gegen ihn bemächtigt. Tankred war glatt, höflich und zuvorkommend, aber sein Antlitz, das Theonie an die Züge eines Verbrechers erinnerte, von dem sie einmal ein Bild in einem Buche gesehen hatte, schuf in ihr ein Urteil über seinen Charakter, von dem sich ihre Vorstellungen nicht zu lösen vermochten.

Tankred war der einzige Sohn eines jüngeren Bruders des verstorbenen Herrn von Brecken, der alles durchgebracht und zuletzt von den Wohlthaten des Besitzers von Falsterhof gelebt hatte. Auch Tankreds Mutter lag unter der Erde, man sagte, aus Gram über die Verkommenheit ihres Sohnes, der früher als Schreiber auf adligen Gütern thätig gewesen war, aber nirgend seine Stellung hatte behaupten können und sich zuletzt – gleich nach dem Ableben seiner Mutter – auf Falsterhof eingefunden hatte. Hier saß er nun schon seit Monaten umher, erklärte, sich trotz seiner Bemühungen keine neue Thätigkeit verschaffen zu können, und fand in Theonies Mutter, die ganz von seiner Art und seinem Wesen eingenommen war, genügenden Rückhalt, um sein Faulenzerleben fortzusetzen.

Ganz allmählich hatte er sich zum Herrn der Situation in Falsterhof zu machen gewußt; er bewohnte die Zimmer des verstorbenen Hausherrn, rauchte dessen zurückgelassene Zigarren, bediente sich seiner Pfeife und schritt mit seinem Feldstock über das Gut.

Taschengeld steckte ihm die Tante zu, und bevor ihre Krankheit sie ergriffen, hatte sie sogar darauf Bedacht genommen, daß ihm bei Tisch nichts vorgesetzt wurde, was er nicht mochte, und daß ihm Bequemlichkeiten zu teil wurden, wie man sie nur älteren und besonders geschätzten Personen verschafft.

Tankred sprach mit solcher Offenheit über sein Vorleben, drückte eine anscheinend so ehrliche Reue darüber aus, seinen Eltern Kummer bereitet zu haben, legte einen solchen Abscheu davor an den Tag, in alte, schlechte Gewohnheiten zurückzuversinken, und wußte seine Tante in so geschickter Weise zu umschmeicheln, daß die Frau sich völlig umgarnen ließ und alle ihre Vernunft, die ihr doch bisweilen etwas anderes zuflüsterte, gefangen gab.

»Du bist nun einmal durch Tankreds Vorleben gegen ihn eingenommen, Theonie!« hatte sie ihrer anfangs noch schüchterne Einwendungen machenden Tochter gesagt. »Menschen können sich doch ändern! Diesen jungen Mann haben die Lebenserfahrungen früh weise gemacht. Ich glaube an seinen ehrlichen Willen und an sein Herz und bin überzeugt, daß er fortan nur grade und gute Wege gehen wird.«

Am Tage vor dem Eintritt ihrer Krankheit hatte Frau von Brecken sogar fallen lassen, daß es vielleicht ein guter Plan sei, Tankred zum Oberverwalter des Gutes und des Vermögens einzusetzen, ihm auf diese Weise Thätigkeit und Erwerb zu geben und die Pflichten natürlicher Rücksicht gegen den einzigen Verwandten zu üben, den sie noch auf der Welt besäßen.

Mit allen Zeichen höchsten Schreckens hatte Theonie dem zugehört.

»Mutter, ich bitte Dich, welch ein Gedanke! Schrieb uns nicht Tante noch sechs Wochen vor ihrem Tode, daß Tankred wegen Veruntreuung vom Grafen Thorley auf Rinteln entlassen sei? Soll ich den Brief hervorholen, in welchem sie, daran verzweifelnd, jemals einen braven Menschen aus ihm zu machen, seinen Charakter schildert? Steht es dort nicht geschrieben, daß man sich um so mehr vor ihm hüten müsse, als er ein großer Künstler in der Verstellung sei, daß er die Herzen der Menschen umstricke, sich ihnen füge und anbequeme, aber stets ein verstecktes Ziel dabei im Auge habe? So lautet das Urteil der eigenen Mutter, und Du, die Du doch erschrocken warst über sein plötzliches, unaufgefordertes Erscheinen hier, schwörst nun auf seine Tugend und denkst sogar daran, unser Eigentum seiner Hand anzuvertrauen? Ich wollte, der schreckliche Mensch wäre erst aus dem Hause, ja, mir scheint, wir müßten eher große Opfer bringen, um ihn für immer von uns zu entfernen, als daß wir darüber sinnen, ihn an uns zu fesseln. Weißt Du, was ich glaube? Nicht nur zu Unehrlichkeiten, zu leichtfertigen Streichen ist er fähig, sondern unter Umständen zu einem Verbrechen!«

»Theonie! Theonie!« rief die alte Dame entsetzt und für ihren Neffen Partei nehmend. »Welche Gedanken! Meine Schwägerin, Deine Tante, war eine kalte, mißtrauische Natur. Sie erzog ihren Sohn lediglich aus Pflichtgefühl. Liebe empfand sie weder für ihn, noch für ihren verstorbenen Mann. Obgleich sie seine Mutter war, war ihr Urteil im schlechten Sinn getrübt. Sie ließ überhaupt keinem etwas Gutes, sie sah stets nur die Schattenseiten der Menschen. Tankred wurde leichtsinnig und genußsüchtig, weil sein Vater ihm ein trauriges Beispiel gab, und die Mutter ihm nie einen Funken Liebe zeigte, aber er ist nicht verdorben, nicht schlecht, berechnend oder gar verbrecherisch. Grade Menschen wie Tankred bringt man oft am sichersten zur Umkehr, wenn man ihnen Vertrauen schenkt. Ihr ersticktes Ehrgefühl erwacht dann, und sie bestreben sich, zu zeigen, daß sie doch im Grunde etwas anderes sind, als wofür man sie hält.« – –

Nachdem Tankred fast eine Viertelstunde seine Tante und Kousine belauscht hatte, wich er zurück und schien auf Grund der von ihm gemachten Beobachtungen zu einem Entschluß gelangt zu sein. Aber rasch, wie von einem plötzlichen Anruf umgestimmt, wandte er sich wieder um, als nun eben ein Schrei aus dem Innern durch Fenster und Mauern drang und ihn belehrte, daß in diesem Augenblick sich etwas Entscheidendes zugetragen habe. Er sah, als er wieder ins Gemach spähte, daß seine Kousine sich mit allen Anzeichen des Schreckens und Schmerzes über ihre Mutter herabbeugte und der offenbar ihre letzten Seufzer aushauchenden Greisin behülflich war, die Todesqual leichter zu überwinden. Das Stöhnen und Ächzen, das Tankred aufgescheucht hatte, wiederholte sich; schrecklich verzerrten sich die Züge der Sterbenden, und kaum fünf Minuten später hatte Frau von Brecken ihren Geist aufgegeben.

Rasch wie der Blitz verschwand nun der Kopf Tankreds vom Fenster. Mit wenigen Sätzen hatte er den kleinen Wiesenplan und den Graben übersprungen, und bald befand er sich, wieder den Weg durch das Gehölz einschlagend, abermals in der Allee.



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