Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In ihrem Zimmer befand sich Theonie und ordnete an ihren Koffern. Eben hatte sich die Zofe entfernt, und Frege trat ins Gemach.

»Wann ist er nach Hause gekommen?« fragte sie ohne Einleitung.

»Es war zwischen zwölf und ein Uhr. Er hat selbst den Fuchs abgesattelt. Dann hatte er noch Licht im Vorderzimmer und las wohl den Brief der gnädigen Frau. Als ich nach ein Uhr noch einmal über den Flur schlich und durch das Schlüsselloch sah, verlöschte gerade das Licht.«

Theonie nickte. »Also Du weißt: wenn wir beim Frühstück sitzen, bleib in der Nähe. Ich bin nicht sicher, daß er nicht abermals unverschämt gegen mich wird. Da will ich Dich erreichen können. – Und berichte mir also jeden Tag, Frege. Sobald er fort ist, telegraphierst Du mir, ich komme dann zurück – Ah,« unterbrach sie sich, »er wird nicht freiwillig gehen! – Und es durch Zwang erreichen? Dann wird er sich auf jede Weise zu rächen suchen, und ich werde keinen ruhigen Augenblick mehr haben. Vor solchen Menschen schützt keinerlei Schloß und Gesetz, sie sind zu allem fähig.«

Frege widersprach seiner Herrin nicht. Er bewegte den alten, großen Kopf mit den scharfen Linien und starrte mit dem eigentümlichen Ausdruck vor sich hin, der den Schwerhörigen eigen ist.

»Ich wüßte eins, gnädige Frau,« schob er dann, das Wort nehmend, ein. »Wenn er das Fräulein auf Holzwerder heiratet, dann werden Sie von ihm befreit für alle Zeiten. Das sollten Sie zu fördern suchen.«

»Wie kann ich das fördern, Frege? Und ob Du recht hast, ist noch sehr zweifelhaft. Dann bleibt er doch in unserer Nachbarschaft. Schon seine Nähe beunruhigt mich, flößt mir Furcht ein.«

Frege bewegte die Achseln. ›Es mag zutreffen, aber in der Not nimmt man das, was man finden kann‹ stand in seinem Gesicht geschrieben.

Nun schlug die Uhr vom Gutsthor herüber, und Theonie entließ Frege und stieg die Treppe hinab. Ihr graute vor diesem Gang so sehr, daß ihr die Kniee zitterten.

Während dessen befand sich Tankred noch im Freien. Ein unruhiger Drang hatte ihn, gleich nachdem er sich aus dem Bett erhoben, hinausgetrieben. Die Natur lag da im strahlenden Glanz der Herbstsonne. Als sich Tankred dem großen Tannenhügel näherte, der zur Linken einen Teil des Parkes begrenzte, eröffnete sich ihm ein zauberhaft schönes Bild! Unzählige Lichter irrten zwischen den Stämmen, versteckte kleine Sonnen blitzten und durchleuchteten die dunkelgrünen Zweige der Fichten; breite Ströme ergossen sich den Hügel hinab, wo eine Lichtung geblieben war, und an anderer Stelle stieg ein einsamer Weg im schattigen Dunkel die Höhe hinan und weckte das Verlangen, sich dort niederzulassen und den würzigen Duft der Kiefernadeln einzuatmen.

Die Schönheit der Natur wirkte auf die Seele des Mannes ein, aber mehr noch ward das Verlangen nach Besitz in ihm geweckt.

Als er aus dem Park heraustrat, und sein Blick weithin die Koppeln, Wiesen, Felder und Waldungen umfaßte, die alle zu Falsterhof gehörten, die dalagen von der Sonne umflossen wie ein herrliches Eden, als sein Blick nach dem Pachthof hinüberschweifte, und die Kuh- und Schafherden vor ihm auftauchten, das Geräusch thätiger Menschenarbeit zu ihm herüberdrang, die Wirtschaftsgebäude unter dem farbigen Laub emporstiegen, und er im Geiste an sich vorüberziehen ließ, was alles sie bargen an Getier, Getreide und sonstigem Vorrat, welch ein Leben in der Meierei war, wie weit sich die Gemüsegärten ausstreckten, und wie endlos auch noch östlich von Falsterhof das Gutsland sich dehnte, da krallte sich der Teufel der Habsucht so tief in seine Seele ein, daß sein Herz klopfte, und seine Handflächen sich feuchteten.

Es war auch alles klar in ihm. Einen Vorschlag wollte er Theonie machen, ohne Umschweife. Da er doch einmal die Maske abgeworfen hatte, war's schon weise, nun ohne Schwanken und Zaudern zu sagen, was er wünschte. Sie konnte es sich ja überlegen, seinen Vorschlag auf der Reise wägen und ihm schreiben. – Ja, so sollte es sein.

Und dann standen sie sich gegenüber. Theonie goß eben Wasser auf den Thee, als Tankred ins Gemach trat. Sie wandte das Haupt, bewegte es unbefangen, obschon es in ihrem Innern pulsierte, und sagte:

»Bitte, nimm Platz. – Willst Du vielleicht etwas von dem Graubrot abschneiden? Ich sehe, Kathrine hat es vergessen. Und Eier, die Du so liebst, fehlen ja auch. Soll ich rasch welche bestellen?«

Tankred ward aufs angenehmste berührt. Theonie ließ ihn die Vorfälle des verflossenen Tages nicht entgelten, sie legte freundlich versöhnliche Gesinnungen an den Tag.

Auch er begegnete ihr mit ausgesuchter Aufmerksamkeit.

Als sie sich gegenüber saßen, sagte er:

»Ich danke Dir für Deine Zeilen, Theonie. Darf ich fragen, wo Du Dich hinbegiebst, und wie lange Du fortzubleiben gedenkst?«

»Ich reise zunächst nach Hamburg, wo ich einige Zeit verweilen will. Über die Länge meiner Abwesenheit habe ich noch nichts festgesetzt.«

»Jedenfalls sehen wir uns aber dann wohl nicht wieder?«

»Nein, schwerlich.«

Es trat eine Pause ein. Neben dem Tische dampfte der Theekessel und sang heimliche Lieder. Die Sonne warf durch die großen, tiefen Fenster ihre Strahlen, blieb zwar hockend auf den Fensterbrettern, aber erhellte doch das Gemach, als seien die Wände plötzlich in lichtdurchflutetes Glas verwandelt. Die alten, kostbaren Möbel glänzten, das weiße Leinen der Servietten und eine von Frege in die Mitte des Tisches gestellte rote Herbstrose hoben ihre Farben reizvoll von einander ab, und das Krystall und das Silber auf dem Frühstückstisch flimmerte und blitzte. Eine Platte mit süß duftenden, dampfenden Rindfleischschnitten und eine einen zarten Champignongeruch verbreitende Schale mit Sauce standen neben mehlig-hellen Kartoffeln.

Vor allem bediente Tankred sich, und nun schenkte Theonie ihm auch ein Glas goldfunkelnden Rheinweins ein.

Sie verstand es, die Dinge gemütlich zu machen; wenn sie etwas bereitete oder die Hand darüber hielt, war's stets tadellos, und auch heute schmeckte es dem Manne vortrefflich, und die Vorzüge sorglosen Wohllebens drangen wiederholt auf ihn ein. Es gab eigentlich nichts Herrlicheres, als auf Falsterhof zu leben. Alles stand wie durch Zauber auf dem Tisch, die Gemächer waren mit allen nur denkbaren Bequemlichkeiten versehen, die Dienerschaft war noch vom alten Schlage, voll Ehrerbietung und Aufmerksamkeit, und wenn sich Tankred in der Umgegend oder in Elsterhausen zeigte, begegnete man ihm mit jener Unterordnung, die Stand und Reichtum stets in der Welt hervorrufen.

»Höre mich, bitte, an, Theonie, bevor wir auseinandergehen,« begann Tankred unter solchen Eindrücken in gehobener Stimmung. »Wirf Deinen hohen Gerechtigkeits- und Deinen Verwandtschaftssinn mit in die Wagschale, wenn Du mir antwortest. Ich sagte Dir gestern, ich wisse, daß ich in meinen Entschlüssen, ein arbeitsames, geregeltes Leben zu beginnen, gefördert werden würde, wenn ich heiraten könnte – Nein, nein, fürchte nicht, daß ich Dir wieder zu nahe trete. Du hast mir gestern an den Tag gelegt, daß Du meine Empfindungen nicht teilst, und nie werde ich Dich wieder belästigen. Ich wollte etwas anderes sagen: Wenn ich in guten, geordneten Verhältnissen wäre, könnte ich sicher auch eine brave Frau finden. Nun bin ich, und besitze ich aber nichts, und das, was Du mir gütigst zuwenden willst, giebt unter heutigen Verhältnissen einem Landmann keine Möglichkeit, sich eine Selbständigkeit zu verschaffen. Wir sind die letzten beiden Breckens auf der Welt, Theonie. War es nicht ein bischen ungerecht von Deinen Eltern, mich ganz leer ausgehen zu lassen? Wäre es den natürlichen Verhältnissen nicht entsprechender gewesen, wenn Dir ein Teil, und mir der andere geworden wäre, zumal Du Deinen Gatten verloren hast und nicht wieder heiraten willst? Ich weiß, daß Du mich nicht liebst. Ich fühle sogar, daß Du mich nicht achtest, obgleich ich Dir nie etwas zu leide that und mich nur des Vergehens schuldig machte, Dir meine Liebe in einer Form zu gestehen, die Du leicht nachgesehen haben würdest, wenn Du meine Neigung erwidertest. Aber wenn Du mich auch nicht liebst und meinem Charakter mißtraust, so hast Du doch als eine Brecken und vermöge Deiner ganzen Veranlagung gewiß den Wunsch, daß ich fortan einen soliden und rechtschaffenen Lebenswandel führe, daß ich dem Namen der Familie Ehre mache. Wenn dem aber so ist, so hilf mir, gieb mir eine Stellung in der Welt durch freiwillige Teilung des Besitzes und lasse mich in Zukunft Falsterhof verwalten. Hast Du kein Vertrauen zu meinen wirtschaftlichen Fähigkeiten, so kann ja auch alles bleiben, wie es jetzt ist, aber dann mache die Mittel zu einer Teilung zwischen uns flüssig, indem Du eine größere Summe auf Falsterhof aufnimmst oder mir die Hälfte der Rente überweisest. Ich sehe, Du zuckst zusammen, Du findest es über die maßen unbescheiden von mir, eine solche Forderung zu stellen, und ich gebe auch zu, daß mein Verlangen sehr ungewöhnlicher Art ist. Aber ich bin nüchtern veranlagt und setze anderseits ein großes Vertrauen in Deinen Gerechtigkeitssinn, auch weiß ich, daß Du geringen Wert auf Hab und Gut legst, und so fand ich denn den Mut, Dich mit meinem Wunsche bekannt zu machen. – Nun, Theonie?« schloß er und griff wieder nach Messer und Gabel, die während seiner Rede geruht hatten. »Was meinst Du? Willst Du so freundlich sein, zu überlegen, was ich Dir vorzutragen mir erlaubte?«

Theonie hatte bei den letzten Sätzen sinnend vor sich hingeschaut. Ihre Gedanken beherrschten sie so, daß sie nur halb vernommen, was er am Schluß gesagt hatte. Aus diesem Gesichtspunkte hatte sie ihres Vetters Stellung zur Familie Brecken allerdings noch niemals ins Auge gefaßt. Die Berechtigung eines Anspruchs von seiten Tankreds war ihr auch nicht einmal in den Sinn gekommen; bei dem Gedanken, ihm eine Summe zuzuwenden, hatte lediglich ihr Gefühl, nicht aber ein Pflichtzwang sie geleitet.

Dennoch war jetzt alles klar in ihr, und ihm fest und ehrlich ins Auge schauend, erwiderte sie:

»Ich weise Deine Vorschläge durchaus nicht zurück. Aber vor der Hand kannst du in keiner anderen als der Dir bereits mitgeteilten Weise auf mich rechnen. Ich will einen Entschluß von solcher Tragweite – ich spreche, wie ich gleich betonen will, nur von einer Erbteilüberweisung; die Verwaltung des Gutes möchte ich dem Manne nicht entziehen, der meines Vaters ganzes Vertrauen besaß und es stets rechtfertigte – also, ich will einen Entschluß von solcher Tragweite nicht fassen, ohne Justizrat Brix zu rate zu ziehen, und ihn auch abhängig machen von gewissen Umständen, die erst nach einer Reihe von Jahren meiner Beurteilung unterliegen können.«

Theonie machte eine Pause, und Tankred setzte voraus, daß seine Kousine noch etwas für ihn Günstiges hinzufügen werde. Aber sie neigte nur in Bestätigung ihrer Worte den Kopf und machte dann eine Bewegung zum Aufstehen.

»Es ist wohl so weit, der Wagen wird vorgefahren sein,« sagte sie, nach einer im Zimmer stehenden Uhr schauend. »Entschuldige mich, ich habe oben noch etwas zu thun.«

Aber Tankred hielt Theonie durch seine blicke zurück.

»Schon einmal machte ich Dir Andeutungen, daß ich ohne Mittel sei, Theonie. Wir wurden damals unterbrochen. Würdest Du wohl die Güte haben, mir einiges Geld zurückzulassen?«

Sie nickte bereitwillig und sagte, die Börse ziehend, mit einem Anflug von Verlegenheit: »Wie viel, bitte?«

»Ein paar hundert Thaler würden mir zunächst sehr gelegen kommen, da ich einige Verpflichtungen habe.«

»Ein paar hundert Thaler? Die habe ich nicht hier. Da müßte ich erst an Brix schreiben.«

»Gieb mir ein paar Zeilen an den Verwalter,« wandte Tankred ein. »Er ist stets bei Kasse und wird mir auf Deine Anweisung gleich zahlen.«

»An den Verwalter?« wiederholte Theonie zögernd und pedantisch überlegend. »Das würde ihm sehr auffallend erscheinen. Das ist nie geschehen, alles geht durch Brix.«

»Mache diesmal eine Ausnahme, Theonie. Ich werde es ihm schon erklären –«

Aber sie gab noch immer nicht nach. Ein starker Ordnungssinn, den sie von ihrem Vater geerbt, war ihr eigen.

»Nein, ich möchte es doch nicht. Aber hier, bitte – vorläufig,« – entschied sie und reichte ihm ein paar Geldscheine, die sich in ihrer Börse befanden, »für weiteres werde ich sorgen.«

Tankred nahm mit gezwungener Miene das Geld; er mußte an sich halten, um ihr nicht schroff zu begegnen. Dieses in seinen Augen kleinliche Markten und Überlegen um ein paar hundert Thaler von einer Person, die, wenn sie ihr Eigentum flüssig machte, Millionärin war, brachte ihn schon an sich auf, verletzte aber auch seine Eitelkeit im höchsten Grade. Es mußte alles nach seinem Kopfe gehen. Wenn die Dinge sich nicht gestalteten, wie er sie sich in seinem Sinn zurechtgelegt hatte, wußte er, wenigstens für den ersten Augenblick, seinen Unmut niemals zu unterdrücken.

»Nun – lebe wohl,« – sagte Theonie, vom Reisefieber erfaßt, mit deutlicher Unruhe. –«Möge es Dir gut gehen! Und bitte, besuche Justizrat Brix, er wird Dir das Nötige mitteilen.«

Plötzlich kam Tankred der Gedanke, daß dieser fortwährende Hinweis auf den Rechtsbeistand und Vermögensverwalter der Familie noch einen besonderen Grund habe. Theonie würde ihm am Ende noch Bedingungen durch Brix stellen. Das reizte und beunruhigte ihn so sehr, daß er sie abermals zurückhielt und die Worte hervorstieß:

»Du kannst es nicht erwarten, eine doch an sich gar nicht eilige Reise anzutreten, und wendest dabei große Umständlichkeiten an, während Du meine Angelegenheit behandelst wie eine lästige Nebensache. Weshalb soll ich denn durchaus den Umweg zu Brix machen? Gieb mir doch einfach eine Anweisung auf ihn, die ich verwerten kann. Ich habe nicht gern mit ihm zu thun. Er ist mir sehr unsympathisch.«

Diese Worte reizten nun auch Theonie, und sehr rauh und mit einem starken Anhauch von Bevormundung gab sie, zugleich durch ihre Mienen zeigend, daß sie sich durch seinen Einwand durchaus nicht beirren lasse, zurück:

»Es muß aber doch so bleiben! Einige kleine Unbequemlichkeiten mußt Du schon mit in den Kauf nehmen, wenn Du Geld empfangen willst.«

Aber sie bereute sogleich, was sie gesprochen. In dem Antlitz des Menschen, der ihr gegenüber stand, erschien ein furchtbarer Ausdruck. Wut, Rachsucht, Totschlag standen in seinem Gesicht geschrieben, und ein zähneknirschendes, von funkelnden Blicken begleitetes:

»Nein, ich muß nicht und will nicht!« drang wie ein Gewitter aus seinem Munde. »Ich habe Dir alles freundlich und sachlich vorgestellt, ich habe an Deinen Gerechtigkeitssinn und Dein Verwandtschaftsgefühl, aber auch an Deine Klugheit appelliert, mich nicht wie einen lästigen Habenichts zu behandeln, sondern wie einen halbwegs Gleichberechtigten. Als Du dann die ablehnende Antwort auf meine Rede mit allerlei mystisch klingenden, aber sich wohl auf meinen zukünftigen Lebenswandel beziehenden Worten begleitetest, schwieg ich und fügte mich. Dann bat ich um etwas Geld, das Du mir nicht aus eigener Initiative gabst, obschon Du wußtest, daß ich schon seit der Krankheit Deiner Mutter nichts besaß, und machte, weil ich es gleich gebrauchte und –« hier schob Tankred einen berechnenden Satz ein –«auch für meine Abreise desselben bedürftig war, den Vorschlag, es sofort herbeizuschaffen. Auch den wiesest Du zurück und stelltest Dich auf den pedantisch engherzigen und kleinlichen Standpunkt Deines filzigen Vaters, dem Gold und Silber alles war.«

Aber nun unterbrach Theonie, die anfänglich mit Angst und Herzklopfen zugehört hatte, und weil etwas Wahres in Tankreds Worten lag, sich getroffen fühlte, ihren Vetter mit einigen, alle Klugheit und Besonnenheit beiseite werfenden Worten. Dieser verkommene Mensch wagte es, das Andenken ihres Vaters zu beschimpfen in dem Augenblick, wo er bettelte, bettelte um Geld, das jener durch Ordnung und Sparsamkeit sich erworben?! Dasselbe ungestüm tobende Blut, das in Tankreds Adern rollte, pulsierte in den ihren, und besinnungslos vor Erregung rief sie ihm entgegen:

»Halt! Mit dieser Verunglimpfung meines verstorbenen teuren Vaters hast Du jeglichen Anspruch auf das kleinste Entgegenkommen von meiner Seite verwirkt. Das merke Dir! Und nun verlasse Falsterhof sogleich! Nicht ich gehe, Du gehst – ! Das ist mein letztes Wort.«

In diesem Augenblick erschien die dürre Gestalt Freges in der Thür, und hinter ihm Klaus, der Kutscher, mit neugierig fragender, halb ängstlicher, halb entschlossener Miene.

»Ah!« drang's aus dem Munde Tankreds, und er richtete seine Gestalt zur Abwehr auf. »So stehen die Dinge? Sind nicht auch noch Gensdarmen zur Hand? Ich aber sage euch, ich bleibe auf Falsterhof und weiche keiner Gewalt! Muß ich ihr aber dennoch weichen, so hütet Euch!«

Nach diesen mit furchtbarer Stimme und unter drohenden Gebärden ausgestoßenen Worten trat er durch das anstoßende Gemach auf den Flur, und die Zurückbleibenden hörten, wie er die Zimmer des Onkels aufschloß.

»O mein Gott! Weshalb willst Du mich denn so grausam strafen, indem Du mir diesen Menschen ins Haus sandtest! Was that ich, um so Schreckliches zu verdienen?!« hauchte Theonie und sank wie vernichtet in ihren Stuhl. –

Tankred wanderte in seinem Zimmer mit Mienen auf und ab, als wäre er eingesperrt und sänne darüber nach, wie er sich befreien könne. Aber sein Ingrimm richtete sich diesmal nicht auf eine andere Person, sondern auf sich selbst. Er hatte sich wieder nicht in seiner Macht gehabt, abermals war er seinem Jähzorn unterlegen, und statt seine Sache zu verbessern, hatte er sie gänzlich verfahren.

Da seine Handlungsweise mit der eben erst wieder gegebenen schriftlichen Zusicherung im krassesten Widerspruch stand, hatte er Theonie schlagend bewiesen, daß sie recht hatte, wenn sie ihm aufs äußerste mißtraute. Nicht nur hatte er jede Ehrerbietung außer acht gelassen, sondern sich auch zum Richter ihrer Handlungsweise aufgeworfen und am Ende sogar Drohungen ausgestoßen, die nur zu gut verrieten, was sich in den tieferen Winkeln seiner Seele versteckte. Sie konnte sich nach diesem Vorgang ihm nicht wieder nähern, das Tuch zwischen ihnen war zerschnitten.

Unglaublich hatte er gehandelt!

War sie nicht auf seinen Antrag eingegangen, und war das nicht ein über alle Erwartungen günstiges Ergebnis gewesen?

Nach einer einzigen Unterredung, und trotz ihrer ausgesprochenen Abneigung gegen ihn, hatte er erreicht, was einem andern kaum zu denken in den Sinn gekommen wäre. Es würde ihn nicht überrascht haben, wenn Theonie ihm erwidert hätte: Ich weiß nicht, ob ich mehr über Deine unverschämte Forderung mein Erstaunen ausdrücken soll, oder über deinen Mut, sie mir vorzutragen.

Statt dessen hatte sie seine Gründe angehört und unbefangen gewürdigt und dem Sinne nach nur erwidert: Ich will das Erbteil meiner Vorfahren nicht gefährden, bewährst Du Dich aber, dann soll die Hälfte Dein Eigentum sein. Sie hatte gehandelt wie ein selbstloser, gerechter, aber auch wie ein weiser und besonnener Mensch, er aber wie ein zügelloser, von gemeinen Trieben geleiteter Rabulist.

Nun hatte er am Ende auch das Geld verscherzt, das sie ihm willig hatte auszahlen wollen. Sicher würde Theonie jetzt wieder zu ihrem Rechtsanwalt gehen, alles annullieren, was sie früher festgesetzt hatte, und zugleich die Mittel mit Brix beraten, ihn, Tankred, mit Gewalt von Falsterhof zu entfernen. Und die Geschehnisse würden an die Öffentlichkeit dringen, und er würde der Familie Treffen als das erscheinen, was er wirklich war.

Wie gut hatte er alles eingefädelt, und mit welcher Pfuscherarbeit geendigt! Wäre er fügsam gewesen, so hätte er Tressens erklären können, er habe, wenn auch erst nach einigen Jahren, Anspruch auf die Hälfte von Falsterhof. Theonie würde, unter geschickter Behandlung der Angelegenheit von seiner Seite, diese Begünstigung bestätigt, es würde sich alles ohne Schwierigkeiten und Künste geregelt haben, während nun schon eine Unsumme von Verstellung, Intrigue und Lüge aufgewendet werden mußte, um nur die üblen Eindrücke wieder zu verwischen.

Und dann war das Resultat auch noch zweifelhaft, die Wahrscheinlichkeit lag vor, daß alle Mühe umsonst gewesen.

Nein! er war doch noch ein großer Stümper! Er mußte sich's zugestehen. So sehr ergriff den Mann die Einsicht in seine Fehler, daß er sogar auf den Gedanken kam, ob es nicht doch am Ende vorteilhafter sei, tugendhaft zu werden, umzukehren und sich zu bemühen, ein ordentliches Leben zu führen. Ihm kamen plötzlich Zweifel, ob ihm nicht doch die Eigenschaften zur erfolgreichen Schurkerei fehlten, da er sie nicht durch Selbstbeherrschung zu unterstützen vermochte. Er hatte noch nicht warten gelernt. Warten können! Was lag nicht alles in den Worten! Und er besaß auch nicht hinreichenden Mut; seine Genußsucht und sein Bequemlichkeitsdrang schoben sich in seine Entschlüsse und machten ihn feige.

In seinem charakterlosen Hin und Her, aber auch zufolge seiner schrankenlosen Selbstsucht überlegte er, ob er nicht lieber Theonie nachreisen, abermals ihre Verzeihung erflehen und schwören solle, daß das Geschehene nichts mit seinem Herzen gemein habe. Nur der Zorn hätte aus ihm geredet. Er vertraute dabei seiner eminenten Verstellungskunst.

Der Gedanke, durch eine einzige Unterredung alles noch wieder ins richtige Geleis bringen zu können, beschäftigte ihn plötzlich solchergestalt, der Gegensatz zwischen dem, was augenblicklich war, und dem, was er vielleicht wieder erreichen konnte, drängte sich ihm so stürmisch auf, daß er das Haupt zurückwarf, die Klingel zog und dem stumm und finster hereintretenden Frege zurief, er möge sofort den Fuchs satteln.

»Wohin ist meine Kousine gereist?« fügte er erregt hinzu. »Es ist wichtig, daß Sie mir die Wahrheit sagen, da ich mich entschlossen habe, alles daran zu setzen, um unser Zerwürfnis zu beseitigen. Also, wohin hat Klaus die gnädige Frau kutschiert?«

Frege befand sich in größter Verlegenheit. Er wußte nicht, wie er am besten zu Gunsten seiner Herrin handeln würde.

»Ich weiß es nicht, Herr von Brecken. Zunächst wollte Frau Cromwell bei Pastors vorsprechen und später Nachricht geben.«

So wand sich Frege heraus.

Bei der Erwähnung der Pastorfamilie schoß Tankred ein Gedanke durch den Kopf. Wenn sie von den letzten Vorfällen durch Theonie unterrichtet wurden, würden Tressens auch bald wissen, was geschehen war. Jüngst hatte die Familie bereits geäußert, daß sie Pastors, die sie sehr schätzten, allernächstens mit Tankred zusammen einladen wollten.

Das verstärkte des Mannes Entschluß, unter allen Umständen Theonie nachzueilen. Er konnte sie noch erreichen, wenn er nicht säumte; sicher würde sie sich bei Höppners einige Stunden, vielleicht sogar den Tag über aufhalten. Sehr unbequem war ihm freilich die Pastorin, sie guckte durch die Wand, sie nahm kein Blatt vor den Mund. Wie der Teufel vor dem Zeichen des Kreuzes zurückwich, so fühlte er seine Gewalt und Kraft gehemmt durch die grade Ehrlichkeit ihres Wesens.

Kaum zehn Minuten später war Tankred unterwegs, er jagte dahin, daß der Staub der Landstraße hoch aufwirbelte, und der schnaubende und wild stürmende Fuchs die Aufmerksamkeit der die einsame Landstraße belebenden Fußgänger erregte. –

Inzwischen saß Theonie bei Höppners im Gartenzimmer und berichtete mit eben wieder zurückgewonnener Fassung von allem, was geschehen war.

Der Pastor richtete unter der silbernen Brille seine Augen mit dem Ausdruck größter Teilnahme auf Theonie, aber sein sich auf- und abschiebender Mund und seine leisen Kopfbewegungen verrieten, daß er zugleich nach einer Entlastung für Tankred suchte, daß er die Hoffnung nicht ausgab, die Herzen zu versöhnen.

Anders die Pastorin, die allem Gerechten eine warme Freundin, aber dem Schlechten eine eifrige und unerschrockene Gegnerin war.

»Ich sollte nur Ihrem Vetter gegenüberstehen, ich wollte ihm schon die Seele mürbe machen, liebste Theonie. Sie thun auch ganz unrecht, Furcht zu empfinden. Menschen, wie Ihr Vetter, sind nur mutig, wenn sie keinen Widerstand treffen; sehen sie, daß man ihnen die Zähne zeigt, ziehen sie wie die Hunde den Schwanz ein. Was soll Ihnen denn geschehen? – Er könnte Sie totschlagen, meinen Sie? Welcher Gedanke! Er will nur Vorteile aus Ihnen ziehen. Was gewinnt er, wenn er sich mit der Staatsgewalt in Konflikt bringt? Ihre Phantasie ist erregt; der alte Frege, dessen Mißtrauen sich erhöht, weil er schlecht hört, hat Sie ängstlich gemacht. Ich wette darauf, daß Ihr Vetter von selbst wieder ankommt und um gut Wetter bittet.«

So sprach die Frau, freilich mehr, um Theonie zu beruhigen, als ganz ihrer Überzeugung folgend. Auch sie stand unter dem Eindruck, daß Tankred zu dem Schlimmsten fähig sei.

Nachdem es ihr zu ihrer Freude gelungen war, Theonie etwas zu beruhigen, und nachdem auch noch der Pastor, seiner Veranlagung entsprechend, milde zum guten geredet, ja, den Vorschlag gemacht hatte, als Vermittler aufzutreten und Tankred zu bewegen, Falsterhof zu verlassen, wandten sie sich anderen naheliegenden Dingen zu, und die Pastorin rief:

»So, liebste Frau Theonie! Nun müssen Sie doch auch unsere Lene sehen, unser Herzenskind. Ich sandte sie mit Christine fort, weil ich wollte, daß wir uns erst ungestört aussprächen. Gleich will ich mal umschauen, wo sie ist. Sie werden wohl von der Pastorenwiese zurück sein.«

Nach diesen Worten machte sie eine Bewegung, um fortzueilen, unterbrach sich aber, da eben die Thür sich öffnete, und ein freundlich aussehendes, sauber gekleidetes Dienstmädchen mit bloßen Armen, in einem sogenannten Brabanterrock, mit einem kleinen, blonden Mädchen von fünf Jahren an der Hand, in die Thür trat.

»Bist Du da, mein Lenchen, mein kleines, süßes Lenchen?« rief die Frau glückselig und hob das Kind mit den verlegenen, unschuldigen Augen empor, herzte es und zeigte es triumphierend dem Besuch.

Die folgende Stunde war dann allerlei Besichtigungen gewidmet. Frau Höppner besaß viele Vögel, die sie Theonie zeigte; sie führte sie auch in den trotz der Herbstzeit noch sorgfältig geharkten und sauber gehaltenen Garten.

Den Hühnerhof mit den gackernden Kratzhennen und dem gespreizt einherschreitenden Hahn mußte Theonie ebenfalls in Augenschein nehmen und eine neue Tapete im Kabinet neben dem Wohnzimmer bewundern. Als sie wieder über den Flur schritten, sah Theonie daß sich eben ein Bauer mit dem Pastor unterhielt. So menschenfreundlich schimmerte es in des Geistlichen Auge, so geduldig hörte er auch noch zu, als der Mann am Schluß wiederum anhub, und mit so sanft ermunternden Worten entließ er ihn!

Und überall, wohin das Auge schaute, war gleichsam Sonnenschein! Ordnung und Schönheitssinn in der kleinsten Kammer, und das Gesinde, durch Beispiel geleitet, bescheiden und rührig, selbst der Hund anschmiegend und gehorsam.

Im Gartenzimmer zeigte die Pastorin Theonie allerlei Handarbeiten, mit denen sie für Lenchen beschäftigt war. Auch des Kindes erstes Schreibbuch legte sie ihr vor und sagte glücklich, und ihr sonst jeder Überschätzung abgewandtes Wesen ein wenig verleugnend:

»Wirklich erstaunlich, was das kleine Geschöpf für eine sichere Hand hat, wie talentvoll sie überhaupt ist. Nicht wahr? Es ist doch sehr viel für ein Mädchen in den Jahren?« Und Theonie pflichtete lächelnd bei, obschon sie das unbehülfliche Gekritzel noch nicht sehr kunstgerecht fand.

Durch die Seele der jungen Frau zog ein unnennbar sehnsüchtiges Gefühl. Ein solches Heim zu besitzen, ein Kind zu haben – glücklich zu sein – ja – glücklich zu sein!

Sie verwünschte fast das große Erbe, das, ihr kaum zugefallen, schon die Leidenschaft der sie umgebenden Menschen geweckt, ihr Angst, Unruhe und Qual verursacht und sie selbst verführt hatte, gegen ihre bessere Überzeugung sich fortreißen zu lassen.

Denn Theonie bereute die Form der Lossagung von ihrem Verwandten. Der Pastor hatte gesagt: »Wenn Sie, statt Ihrem Vetter zornige Worte zuzuschleudern, liebe gnädige Frau, sanft erklärend auf ihn eingesprochen hätten, würde er zur Einsicht gelangt sein. Sie haben ihn auch ein wenig gereizt!«

Freilich hatte die Pastorin ihn unterbrochen und noch einmal ihre Ansicht dargelegt. »Nein, ich hätte ebenso gehandelt wie Frau Theonie. Der saubere Herr mußte fühlen, daß ihm ein Wille gegenüberstand, denn nur so findet ein Mensch wie er die Grenzen wieder. Giebt man ihm nach, so wachsen seine Unverschämtheit und sein Übermut, und man hat das Spiel verloren! Theonie muß auf ihrem Standpunkt beharren. Jetzt keine Weichheit mehr, kein Nachgeben!«

Aber trotz dieser ihre Handlungsweise verteidigenden Worte fühlte Theonie doch, daß der Pastor auch ein Recht für seine Ansicht habe.

Hatte nicht sie ebenfalls ein Ziel vor Augen gehabt, war's ihr nicht entrückt worden durch den Ausbruch ihres wenn auch an sich gerechten Zornes? Auch dieser praktische Gedanke mischte sich in die sittliche Überlegung. Sie stand wehrlos und ohne Schutz da! Was halfen alle Urteile und Meinungen anderer, wenn sie Tankred nicht von Falsterhof entfernen konnte, nicht die Sicherheit hatte, sich seiner für immer zu entledigen, wenigstens nicht mehr mit ihm in Berührung zu kommen?

Als Erzieher bei einem Menschen wie Tankred aufzutreten, war zwecklos; aber zwischen sich und ihm ein erträgliches Verhältnis herzustellen und indirekt auf ihn einzuwirken durch ihr Geld, durch Verweigern oder Gewähren, das war weise, und es entsprach zudem dem Drang ihres Innern, den letzten, der den Namen Brecken trug, vor Selbstbeschimpfung seines Namens zu behüten.

So kämpfte in ihr auf der einen Seite der ursprüngliche Entschluß, Tankred keinerlei Konzessionen mehr zu machen, ihre Hand ganz von ihm zurückzuziehen und alle Folgen ihrer Überzeugung zu tragen, mit der ihr innewohnenden Einsicht, Herzensmilde und Klugheit, die doch zu einer Verständigung rieten.

Als man sich zum Abendessen im Pastorhause rüstete, die Frau vom Hause eben noch in der Küche eine Anzahl Eier zerschnitt und die flaumenweich gekochten, einen starken Phosphorgeruch verbreitenden, weiß und goldgelb schimmernden Hälften auf einen Teller legte, trat das Kindermädchen ihr näher und meldete, daß ein Herr im Flur stehe und nach Frau Cromwell frage.

»Wer denn?« warf die Pastorin leicht hin, ging, das Messer noch in der Hand, an die Küchenthür und guckte um die Ecke. Aber sie prallte zurück, als sie Tankred von Brecken vor sich sah.

»Um es gleich zu sagen, sehr verehrte Frau Pastorin,« hub er, ehe sie Worte gewinnen konnte, an und trat ihr mit einschmeichelnder Artigkeit entgegen, »ich komme, um mit meiner Kousine ein versöhnendes Wort zu sprechen, und möchte Ihre freundliche Vermittelung anrufen. Nicht wahr, Sie schlagen mir mein Ersuchen nicht ab? Ich rechne auf Ihre mir bisher stets bewiesene Güte.«

Aber die Antwort fiel doch nicht ganz so aus, wie Tankred, den Wirkungen seiner Geschmeidigkeit vertrauend, vorausgesetzt hatte.

»Zunächst, bitte, treten Sie gefälligst in das Zimmer meines Mannes!« entgegnete sie höflich, aber durchaus kühl. »Ich werde Frau Cromwell fragen, ob sie Sie empfangen will. Offen gestanden, ich glaube es nicht, und jedenfalls werden Sie sich schon etwas gedulden müssen. – Hier –« schloß sie ebenso kurz und entschieden und öffnete das Gemach ihres Gatten, aus dem Tankred der dumpfsäuerliche Geruch der vielen Pfeifen, die der Pastor den Tag über rauchte, entgegenschlug. Noch eine Sekunde, dann hatte sich hinter ihm die Thür geschlossen. Die Pastorin aber begab sich, nachdem sie vorher noch in völliger Ruhe die Küchenangelegenheiten erledigt, ins Gartenzimmer und verkündete ihrem dort mit dem Pastor weilenden Besuch, was sich ereignet hatte.

Theonie erbleichte, ja, sie zitterte am ganzen Körper, der Pastor aber, bei dem die Ehrfurcht vor allem, was den Namen Brecken trug, ebenso sehr wirkte wie die ihm angeborene rücksichtsvolle Höflichkeit, rief fast ängstlich tadelnd:

»Aber wo, wo ist er denn? Du hast ihn doch nicht draußen stehen lasten?«

Die resolute Pastorin schüttelte bloß den Kopf und sagte kurzhin: »I, wie sollt ich wohl; er ist natürlich in Deinem Zimmer.«

»Nun, da will ich –«

»Nein, bitte, bleibe,« entschied die Frau in einem Ton, der keinen Widerspruch aufkommen ließ. »Erst müssen wir überlegen, gründlich überlegen. Wenn Sie meinem Rat folgen wollen, liebe Theonie, so erklären Sie, daß Sie Ihren Vetter erst morgen vormittag empfangen könnten. Einmal haben wir Zeit, zu beraten, und dann kühlt sich der Übermut des sauberen Herrn noch weiter ab.«

Der Pastor schüttelte bei diesem Vorschlag sogleich den Kopf. Theonie aber schwankte.

Was im allgemeinen richtig sein mochte, war doch vielleicht bei Tankred nicht angebracht. Sein Hochmut und seine Eitelkeit gaben fast immer den Ausschlag. Es war auch möglich, daß er, da er den ersten Schritt gethan, erklärte, sich nicht als ein Bettler behandeln lassen zu wollen. Er war wieder im Vorteil, wenn Theonie der Versöhnung aus dem Wege ging, und was besonders maßgebend war: sie wünschte so rasch wie möglich Klarheit zwischen sich und ihm zu schaffen; sie hoffte noch immer, daß er Falsterhof verlassen werde.

So entschied sie sich denn, Tankred nicht abzuweisen, und schlug vor, ihm sagen zu lassen, daß sie nach Beendigung des Abendessens, also nach Verlauf einer kleinen Stunde, bereit sei, ihn anzuhören.

»Ja – ja – aber – wir legen dadurch an den Tag, daß wir ihn nicht an unserm Tisch sehen wollen; das – geht doch wohl nicht –« schob wieder der Pastor in seiner Gutmütigkeit ein. »Er hat unsere Gastfreundschaft angerufen, indem er unser Haus betrat.«

»Ach was!« entschied die Pastorin. »Laß ihn nur fühlen, wie wir über sein Benehmen denken, das schadet gar nichts. Überhaupt ist Zartheit der Gesinnung bei diesem Menschen durchaus unangebracht. Den muß man behandeln als das, was er ist!«

So eilte denn der Pastor in sein Arbeitszimmer, schädigte Theonies Angelegenheit durch sein gewohntes höfliches Entgegenkommen und bat Tankred, unter dem Hinweis, daß sich seine Kousine gerade sehr angegriffen fühle, geneigtest in einer Stunde wiederkommen zu wollen.

»Sie sind wohl im Krug abgestiegen?«

Tankred nickte.

»Werden Sie die Nacht hier zubringen?«

Nein, er wolle nach Falsterhof zurückkehren, entgegnete Tankred und fügte, um wenigstens den Pastor zu gewinnen, eine Summe von Artigkeiten hinzu, die denn auch auf dessen arglos vertrauendes Gemüt die beabsichtigte Wirkung übten. Aber als ihr Mann ins Wohnzimmer zurückkehrte und über seine Unterhaltung mit Tankred berichtete, nahm die Pastorin das Wort und erging sich über ihn in scharfem Tadel.

»Solche Gutmütigkeit, wie Du sie an den Tag legst, Adalbert,« hub sie an, »ist Schwäche. Wo bleibt der Vorteil für die Guten, wenn man den Miserablen alles nachsieht? Das entspricht auch gar nicht dem Willen des göttlichen Wesens, dem Du nacheifern möchtest. Wenn Du aber nicht dieser Ansicht bist, so predige von Deiner Kanzel auch nicht mehr von Himmel und Hölle, von Guten, die zur Rechten, und von Bösen, die zur Linken stehen sollen. Dann verheiße ihnen allen Verzeihung! Nein, das Gute für die Guten, das Schlechte für die Schlechten. Wenn Du nicht strenger unterscheidest, wird man Dich charakterlos, unmännlich schelten, und mit Recht! Gewiß, das Herz soll sprechen, die Erwägung, daß man für die eigenen Schwächen die Nachsicht der Mitmenschen in Anspruch nehmen möchte, soll ihre Stimme haben, aber erst heißt's, die Forderung stellen: Lege an den Tag, daß Du das Gute nicht nur willst, sondern übst! Dann giebt's Barmherzigkeit auch im Himmel!«

Und nun wandte sie sich an Theonie und fragte, was sie betreffs Tankreds beschlossen habe.

»Sprechen Sie erst Ihre Meinung aus, liebe Frau Pastorin,« entgegnete Theonie. »Ich möchte gern hören, ob wir übereinstimmen!«

Die Pastorin warf einen freundlichen Blick auf die junge Frau. Es gefiel ihr, daß sie schon einen Entschluß gefaßt hatte, sie fand auch, daß Theonie richtig entschieden, als sie Tankred den ihm gewordenen Bescheid gegeben.

»Ich würde Ihrem Vetter Folgendes erklären,« erwiderte sie deshalb, Theonies Wunsche willfahrend: »Vorbedingung sei, daß er Falsterhof sofort verlasse und bei Justizrat Brix schriftlich erkläre, daß er niemals ohne Aufforderung dahin zurückkehren werde, auch keine Rechte auf irgend einen Teil Ihres Vermögens habe. Nachdem dies geschehen, würden ihm die einmal zugesagten fünfzigtausend Mark ausgezahlt werden.«

»Nun und dann?« fragte Theonie, als die Pastorin schwieg.

»Dann? Liebe Theonie! Sind Sie etwa gewillt, ihm noch sonst irgend etwas zuzubilligen? Ich rate ab, etwas anderes zu erwähnen. Sollte er auf ein weiteres zurückkommen, so würde ich ihm erwidern, daß ich mich jetzt in keiner Weise mehr binden wolle. Das habe er durch seine Begegnung verscherzt.«

»Aber deswegen ist er doch hergekommen!« schob der Pastor, diesmal nicht nur seiner Gutmütigkeit, sondern einer richtigen Erwägung folgend, ein.

»Gewiß! Aber wer weiß, was geschieht!« entgegnete die Pastorin. »Hoffentlich heiratet doch unsere Theonie noch einmal, und dann braucht sie ihr elterliches Vermögen selbst.«

»Ich weiß, ich werde ihn nicht los! Er geht nicht, wenn ich mich nicht entgegenkommender äußere,« sagte Theonie, der Pastorin letzte Worte durch ein sanftes Kopfschütteln übergehend.

»Sie erklären ihm ja nur, daß Sie sich nicht binden wollen; darin liegt doch kein absolutes Nein.«

»Das ist sophistisch, Marie!« schob der Pastor ein.

»Ach was! Wie kann man mit ungleichen Waffen siegen! Einer soll Kanonen haben, und der andere bloß einen Helm, da ist kein Verstand drin.«

Während sie noch sprachen, entstand draußen ein Geräusch, und Theonie, bereits Tankred vermutend, fuhr zitternd zusammen. Schon der bloße Gedanke, ihrem Vetter wieder gegenüber zu treten, erregte sie aufs höchste. Das gab der Pastorin den Entschluß ein, Theonie vorzuschlagen, sie wolle statt ihrer mit Tankred verhandeln.

»Ich werde es schon machen und sehr schnell mit ihm fertig werden. Ich erkläre ihm, wozu Sie sich verstehen wollen, und damit basta! Zu gleicher Zeit will ich aber auch dem Herrn seinen Standpunkt einmal klar machen.« Und dabei blieb es trotz des Pastors Gegenrede.

Fünf Minuten später meldete die Magd den Herrn von Brecken.

»Bitte ihn, in des Herrn Zimmer zu treten. Zünde Licht an!« entschied die Pastorin, und nach einer Weile begab sie sich in das Gemach. Tankred war nicht wenig enttäuscht, statt Theonie die Frau des Hauses zu sehen, aber er ließ sich nichts merken und begegnete ihr mit ausgesuchter, seine tiefe Verpflichtung ausdrückender Höflichkeit.

»Ihre Frau Kousine ist zu angegriffen, um mit Ihnen, wie es ihre Absicht war, zu sprechen,« hub die Pastorin in gemessener Weise an und machte eine Bewegung gegen Tankred, Platz zu nehmen. »Sie hat mich, um gleich auf die Sache zu kommen, beauftragt, Ihnen folgendes zu sagen: Es ist Frau Cromwells Wunsch, daß Sie Falsterhof verlassen und ohne ihre Aufforderung nicht dahin zurückkehren. Sie verpflichten sich dazu schriftlich bei Justizrat Brix, ferner erklären Sie, keinerlei Rechte auf das Breckensche Vermögen, das flüssige oder liegende, zu besitzen, und nachdem das geschehen, ist Frau Cromwell nicht abgeneigt, ihr Anerbieten wieder aufzunehmen und Ihnen fünfzigtausend Mark auszuliefern. So, Herr von Brecken, das ist alles, was ich zu berichten habe.«

»Über die Zukunft hat meine Kousine mir nichts zu sagen?« brachte Tankred, nur mühsam seine durch Enttäuschung hervorgerufene Erregung verbergend, hervor.

»Nein!«

»Kann ich meine Kousine vielleicht morgen sprechen?«

»Nein! Schon deshalb nicht, weil sie nicht mehr hier sein wird, und auch die Angelegenheit zwischen Ihnen und dem Justizrat innerhalb drei Tagen erledigt sein muß. Im anderen Fall will Frau Cromwell sich auf nichts einlassen und ersucht Sie, innerhalb dieser Zeit unbedingt Falsterhof zu verlassen.«

»Und wenn ich es nicht thue?«

»Nun, dann wird sie Sie zu zwingen wissen.«

»Haben Sie ihr diese Ratschläge erteilt, Frau Pastorin?«

»Gleichviel. – Ihre Kousine weicht von ihrem Entschluß nicht ab.«

»Und wenn ich nun beschwören kann – ich kann es beschwören und habe nur bisher nichts geäußert, weil ich den Schein einer Pression vermeiden wollte, – daß meine verstorbene Tante mir bei Lebzeiten die Hälfte von Falsterhof zugesagt hat?«

»So würden Sie einen falschen Eid schwören. So weit werden Sie es doch wohl nicht kommen lassen. Ich will Ihnen mal etwas sagen, Herr von Brecken. Was denken Sie eigentlich? Glauben Sie wirklich, daß Sie mit solchen Mitteln durchdringen, daß es bloß eines solchen für Sie bequemen Entschlusses bedarf, um mühelos ein reicher Mann zu werden? Welcherlei Ansprüche können Sie erheben? Sie haben bisher nicht an den Tag gelegt, daß Sie arbeiten und wie andere Menschen durch Pflichterfüllung und Fleiß sich Ihr Brot verdienen wollen, vielmehr alle Eigenschaften eines recht leichtfertigen und keineswegs gewissenhaften Menschen zur Schau getragen. Statt sich Ihrer Kousine für ihre Hochherzigkeit dankbar zu erweisen, die Gabe, die sie Ihnen bietet, als ein unverdientes Geschenk hinzunehmen, stellen Sie einfach die Forderung, den Besitz mit ihr zu teilen. Als sie Ihnen nicht gleich in einer Ihnen genehmen Form die Mittel zur Verfügung stellte, die Sie zu brauchen vorgeben, werden Sie ausfallend und stoßen Drohungen aus, wie man Sie wohl auf der Bühne von Bösewichtern, aber nicht von einem sittlichen Menschen zu hören gewohnt ist. Nun wollen Sie gar durch falsche Eide Ihre Forderungen erzwingen! Gehen Sie in sich, Herr von Brecken! Noch ist es Zeit. Das Ende wird sonst schrecklich sein. Eine Weile begünstigt das Schicksal wohl solcherlei Treiben, aber nur um den Übermut nachher um so schwerer zu strafen. Nehmen Sie, was Ihre Kousine Ihnen bietet, und erwerben Sie sich durch einen tadellosen Lebenswandel die Anwartschaft auf fernere Zuwendungen, dann sind Sie weise. Wenn Sie mir das versprechen, will ich verschweigen, was eben über Ihre Lippen gegangen ist, und es soll auch alles, was sonst geschehen, der Außenwelt vorenthalten bleiben. Im anderen Falle aber seien Sie überzeugt, daß wir mit allen Mitteln Ihrem ungesetzlichen, frivolen, ja, gefährlichen Treiben entgegentreten werden. Und noch eins: Wenn Sie glauben, daß Sie uns Furcht einflößen können, so irren Sie sich. Sie werden vielmehr erkennen, daß mit uns nicht gut Kirschen essen ist. – So, nichts für ungut. Die meisten Menschen haben eine Periode, wo sie der Teufel packt. Ich will denken, daß er auch nur zeitweise über Sie gekommen ist. Helfen Sie selbst, ihn auszutreiben!«

Tankred hatte der Rede der Frau, die ihn wie einen Schulbuben abzukanzeln sich erdreistete, mit einem unbeschreiblichen Ärger zugehört. Mehr als einmal hatte er in seiner maßlosen Erregung den Versuch gemacht, die Sprecherin zu unterbrechen, seine Hände ballten sich unwillkürlich, und die Zähne preßten sich zusammen.

Aber da sie sich durch seine Haltung durchaus nicht beirren ließ, da sie ruhig und fest fortfuhr, hatte er, um wenigstens in einer Weise seiner Stellung zu ihren Worten Ausdruck zu verleihen, sich abgewandt und voll Ungeduld mit den Fingern auf den Tisch getrommelt. Erst am Schluß ihrer Rede ward seine Hand ruhig, und nur ein finsterer Zug blieb in seinem Angesicht haften; offenbar trat die Überlegung bei ihm ein, ob es nicht doch richtiger sei, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Gut denn,« stieß er, nachdem sie geendigt hatte, kurz entschlossen heraus. »Ich will Ihnen einen Gegenvorschlag machen, Frau Pastorin. Ich will die von Ihnen geforderte Erklärung geben, auch mich mit der angebotenen Summe begnügen, wenn meine Kousine mir einen Brief des Inhalts schreibt, daß sie einen moralischen Anspruch auf Falsterhof von meiner Seite anerkennt. Sie giebt mir damit nichts anderes, als was sie mir schon vor unserm Zerwürfnis zugebilligt hatte. Auch muß sie hinzufügen, daß sie diesen Anspruch in Geld verwandeln will, wenn sich nach Verlauf einer Anzahl Jahre herausgestellt hat, daß ich in ihren Augen dessen würdig bin. Was Sie da von falschen Eiden sprechen, die ich schwören würde, von meinen Charaktereigenschaften und von Eventualitäten, denen ich mich aussetzen werde, wenn ich meiner Überzeugung nachgehe, will ich unberührt lassen. Als kluge Frau wissen Sie am besten, daß bloße Behauptungen taube Nüsse sind, und daß wir die Natur die Sprache nicht verliehen hat, um gegebenen Falles die Rolle eines Taubstummen zu spielen! Ich gab meiner Kousine zu, daß manches an mir zu bessern sei, und um die Besserung um so sicherer herbeizuführen, bat ich sie um ihre Hand und um einen Teil ihres Überflusses. Was ist ein Mensch ohne Mittel, besonders einer, der durch verehrte Erziehung hervorgerufene Eigenschaften besitzt, wie ich? Sie sprechen vom Teufel, der mich gepackt haben soll, aber Sie alle wollen nicht helfen, ihn zu vertreiben.«

»Nein, man vertreibt ihn nur selbst durch festen Willen, durch Beherrschung seiner Leidenschaften, durch Bezwingung seiner Natur und durch Beschränkung seiner Bedürfnisse. Daß Ihre Kousine, die keine Liebe für Sie empfindet, Sie heiraten soll, um Sie zu bessern, ist in der That ein starkes Verlangen. Und daß jemand Glücksgüter fordert, um seine Fehler abzulegen, beweist, daß er noch nicht das ABC sittlicher Lebensanschauungen in sich aufnahm, wohl aber eine an Irrsinn grenzende Selbstüberhebung besitzt. Sehen Sie, das ist meine Ansicht. Um aber zum Schluß zu gelangen: Ich will Ihrer Kousine mitteilen, was Sie wünschen, sie mag dann selbst entscheiden.«

»Also auf Ihre Befürwortung habe ich nicht zu rechnen?«

»Nein, Herr von Brecken. Wenn es nach mir ginge, erhielten Sie nichts weiter als ein Darlehen, und das auch nur, damit Sie in die Lage gerieten, sich Arbeit und Verdienst zu schaffen. Ich würde erst sehen wollen, ob Sie ein anderer werden. Ihre träge Genußsucht in solcher Weise zu unterstützen, halte ich fast für ein Verbrechen.«

Tankred zuckte die Achseln, aber da er seiner Sache schon gewiß war, da er sah, daß er doch wieder auf dem Punkte stand, seine Zwecke zu erreichen, triumphierte er innerlich, überging die letzten Ausführungen der Pastorin und sprach ihr sogar seinen Dank für ihre Bemühungen aus.

»Ich weiß, Sie werden Ihre schlechte Meinung über mich ändern, Frau Pastorin! Sicher!« schloß er mit künstlichem Ernst und suchte, indem er sie trotz ihrer herben Begegnung gleißnerisch seiner Achtung und Bewunderung versicherte, noch zu gewinnen, was etwa durch Schmeichelei zu erobern war. –



 << zurück weiter >>