Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Der alte Frege saß in seinem Hinterzimmer, hatte die Arme auf die dürren Kniee gestützt und das greise Haupt auf die Brust herabsinken lassen und starrte mit einem unbeschreiblich müden und verlassenen Blick vor sich hin. Die mit der für die Beerdigung seiner Gebieterin notwendigen Maßnahmen verbundene Tätigkeit hatte ihn seit der Frühe aufrecht erhalten; jetzt war er, wie von aller Kraft verlassen, zusammengesunken, und die Gedanken kamen und lösten sich in seinem Kopfe ab, und wenn sie je zu einem Schluß gelangten, war's immer nur der: »Was sollst du noch auf der Welt, da nun die letzte von denen dahingegangen, welchen du dein Leben gewidmet hattest?« Frege hatte während seiner langen Dienstzeit nie etwas anderes verlangt, als die Thätigkeit, in der er sich befand, und die Ausübung seiner Pflicht, die ihm Bedürfnis geworden war. Andere richteten ihren Sinn hinaus, sie glaubten draußen besseres zu finden, neben der Arbeit Zerstreuung, höheren Verdienst, und was sonst die Sinne der Menschen fesselt. Er aber wußte, es sei thöricht, zu glauben, das die Fremde besseres biete. Breckens waren gleichsam seine Familie geworden, nachdem er vor langen Jahren seine Eltern verloren hatte. Ihre Freude war die seinige, ihr Leid empfand er wie eigenes. In der nächsten Umgegend war er geboren; so hielten ihn denn auch die Heimat, die Landschaft, die Luft, die Menschen, ihre Sprache, ihr Wesen und ihre Gebärden. Schon Elsterhausen schien ihm eine andere, fremde Welt.

Einmal hatte er noch gehofft, und seine Seele hatte sich verjüngt, als Theonie zum zweitenmal ihr Herz einem Manne zu eigen gegeben. Da schien die Sonne ihm nicht nur am Himmel, sie flutete durchs ganze Haus, sie strahlte in seinem Herzen, und wenn er seiner Gebieterin leuchtendes Auge, ihre glückseligen Mienen sah, dann ward er selbst noch einmal jung, und seine Phantasie schuf ihm reizvolle Zukunftsbilder.

Jetzt war alles unwiederbringlich dahin! Sie war dem Manne ihrer Wahl in den Tod gefolgt, und das große Erbe kam in fremde Hände. Wo sollte er nun bleiben? Hederich hatte ihm gesagt, Tressens würden ihn auf Falsterhof lassen, alles würde beim Alten bleiben. Beim Alten!? Der Gram fraß an seinem Herzen; es war auch gleichgültig, wo er die letzten Jahre noch sein Haupt hinlegte. Er konnte leben ohne Dienst – Leben, ja! essen, trinken, schlafen. – Aber welch ein leeres Dasein! – Gab's noch irgend etwas, das ihm Hoffnung ins Herz träufeln konnte!? Nichts! Ja, doch! Ein Gedanke vermochte ihn noch aufzurütteln: den Verbrecher unter den Händen des Henkers zu sehen! –

Wenn sich der alte Mann vorstellte, der Mörder stände ihm jetzt gegenüber, dann verzerrten sich vor Haß und Wut seine Mienen. Er fiel über ihn her, stieß ihm ein Messer in den Körper, wo es gerade traf, und weidete sich an der Dual des Scheusals. – Und Gott würde ihm vergeben! Der Gott, der selbst ein zorniger und eifriger Gott war, würde begreifen, daß man Rache übte! Mitleid? Vergebung? Nachsicht? Hatte Gott nicht selbst eine Hölle geschaffen mit Zittern und Zähneklappern für die Bösen, und sollte sein Geschöpf, der Mensch, sich des natürlichen Triebes, des Hasses und der Vergeltung, entäußern?

Und bei diesem Gedanken kam dem Manne wieder die Erinnerung an die Frau, die er wie ein höheres Wesen verehrt und geliebt hatte, und er raffte sich auf, schritt mit nassen Augen langsam über den stillen, hallenden Flur, öffnete die Zimmer des alten Herrn, wo man die Leiche gebettet hatte, und näherte sich ihrem Totenlager.

Aber nein! Er konnte den Anblick nicht ertragen. Zu fürchterlich waren die nachwirkenden Spuren des Todes auf dem Gesicht der Erdrosselten. Die Augen hatten sich, vielleicht bei der Umbettung, wieder geöffnet, und diese Augen schauten ihn an mit einem so grausigen Ausdruck von flehendem Entsetzen!

Der alte Mann deckte rasch ein Leinenlaken über das Antlitz; er konnte ihr wenigstens jetzt nicht die Lider zudrücken, er vermochte es nicht. Er sank neben der Leiche nieder und weinte und stöhnte. – Noch tags vor ihrem Tode hatte seine Herrin, wieder ein wenig Lebensmut gewinnend, lange mit ihm gesprochen, Pläne gemacht, und ihm durch ihr Vertrauen gezeigt, welche guten Empfindungen auch sie für ihn besaß. Und da war der feige Einbrecher erschienen und hatte – hatte – O Gott, o Höchster über den Sternen! Es war nicht auszudenken, daß das wirklich alles geschehen war!

Der Hund hatte die ganze Nacht in Absätzen gebellt, durch ihn war Frege geweckt worden – aber zu spät – – zu spät – – Und daß das Tier sich gerade an diesem Abend vom Hofe entfernt hatte und, keinen Einlaß findend, in den Stall gekrochen war zu Klaus, das war ein so unglücklicher Zufall gewesen, das erschien als ein solches Bündnis des Teufels mit dem dämonischen Plan des Verbrechers, daß es fast aussah, als habe Gott aus für die Menschen unerfindbaren Gründen alles so geschehen lassen wollen! Seltsam! Das ganze Leben Theonie von Breckens war eine Kette von Strafen gleich erscheinenden Schicksalen gewesen! – War darin Sinn und Verstand? – Vielleicht doch! – Sie mußte fallen, damit jene auf Holzwerder wieder zu ihrem Recht gelangten, für schwere Enttäuschungen um so höher entschädigt würden. So ging's überall in der Welt zu; das waren geheime Gesetze. Der alte Mann, der viel gelesen und viel nachgedacht hatte, neigte stumpf ergeben das Haupt. Und nun war der kleine Tankred von Brecken Erbe von Falsterhof! Nun kam wieder in eine Hand, was einst Leichtsinn und Unverstand verschleudert hatten.

Wenn's nur nicht sein Sohn wäre! dachte der alte Mann. Nur nicht der Sohn dessen, der, ein Teufel in Menschengestalt, auf der Erde hauste!

Endlich erhob er sich, die Thürglocke ging, Klaus trat ins Haus. Es war Essenszeit. In der Gesindestube saßen schon die anderen Dienstboten zu Tische, und draußen bellte laut der Hund und haschte nach den pickenden, harmlosen Spatzen. Auch hier Verfolgung und Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen. –

Am Nachmittag desselben Tages trafen Höppners, Tressens und Hederichs in Falsterhof ein, um Theonie noch einmal zu sehen, und um gemeinsam wegen der auf den folgenden Mittag angesetzten Bestattung zu beraten. Auch Justizrat Brix hatte sich eingefunden und erteilte den Anwesenden Bericht über die Schritte, die er auf Grund der von Frege gemachten Aussagen zur Ergreifung Tankred von Breckens bei der Staatsanwaltschaft unternommen hatte.

Die Ermordung Theonies hielt das ganze Land in Aufregung. Die Blätter hatten schon am Tage nach der That ausführliche Berichte gebracht und Mutmaßungen über den Thäter ausgesprochen. Die Aussage Freges, der mit vollkommener Sicherheit die Erklärung abgegeben, daß er Brecken erkannt habe, hatte sich blitzschnell verbreitet, und da er zugleich auf das bestimmteste behauptete, den Mörder verwundet zu haben, erschien die Überführung des Verbrechers, sobald man seiner habhaft geworden, als eine leichte.

Aber noch hatte man keine Spur von Brecken entdeckt. Es war konstatiert, daß er tags vorher in der Nähe gewesen und die Absicht geäußert hatte, sich nach dem Süden zu begeben. Aber da er keinen großen Vorsprung gewonnen haben konnte, auch die Staatsanwaltschaft einen Preis auf seine Ergreifung gesetzt hatte, mußte sich die Angelegenheit baldigst klären.

In einer namenlosen Spannung und Aufregung befanden sich Tressens. Die mit dem Ereignis verbundenen, bedeutsamen Folgen beschäftigten sie auf das lebhafteste. Wenn Justizrat Brix darin recht hatte, daß auf einem solchen vorsätzlichen Mord der Tod stand, so fiel ihrem Enkel Falsterhof zu, und er wurde zugleich für alle Zeiten Einflüssen entzogen, die, wie auch immer der Prozeß ausfallen mochte, verderblichster Natur gewesen sein würden.

Auf Nacht und Dunkel folgten Sonne und Licht; was die hoffnungsvollste Phantasie nicht auszudenken gewagt, wurde Thatsache.

Und wenn auch gegenüber der Toten, deren Anblick den Anwesenden einen unheimlichen, freie Gedanken nicht aufkommen lassenden Schmerz aufdrückte, Äußerungen der Freude über den wahrscheinlichen Ausgang der Dinge nicht laut wurden, so waren doch aller Herzen von glücklichen Vorstellungen erfüllt, und namentlich auch Hederich und Carin machten Pläne, die darauf hinzielten, nach Holzwerder zurückzukehren.

Hederich war einmal mit seinem ganzen Sinn und Wesen mit Holzwerder verwachsen. Er fühlte sich dort besonders heimisch und glücklich. Und bei einer Wiederaufnahme seiner Stellung verbesserten sich auch seine materiellen Verhältnisse wesentlich.

Hederichs hatten wohl ihr Auskommen, aber es war nur ein bescheidenes. Wenn er in die alte Thätigkeit wieder eintrat, so waren sie wohlsituiert, und der Verkehr mit Tressens, sowie der Umgang, den sie pflogen, bot der aufgeweckten, nach geistiger Anregung verlangenden jungen Frau weit mehr, als die jetzige Einsamkeit ihr zu geben vermochte.

Noch einmal traten die Freunde vor ihrem Fortgang an Theonies Sarg, drückten Blumen in die Hand der Entschlafenen und trafen dann Vorbereitungen zur Abfahrt.

Als sie bereits in der Thür standen und den letzten Händedruck austauschten, fragte Frau von Tressen die Pastorin nach Lene. Sie habe, wie sie gehört, ihr Kummer gemacht. Aber die Fragende begegnete zu ihrer Überraschung keiner bedrückten Miene, sondern die Pastorin neigte mit leuchtenden Augen den Kopf und sagte: »Ach, es ist ja ein herziges Ding! Sie hat so tief bereut, daß mir die Seele schmolz. Sie kam unaufgefordert zu mir, legte ihr Köpfchen an meine Schulter und bettelte, daß ich ihr verzeihen möchte.«

Sie hatte nach diesem Bericht über Lene auch keine Zeit mehr, die lebhafte Frau Pastorin. Sie drängte ihren Mann, zu dem Stall zu eilen und nach dem Wagen zu sehen, und er that mit seinem gutmütigen Gesicht, was sie wollte.

Durch das Gespräch über Lene ward auch Frau von Tressen an den kleinen Tankred erinnert, und Unruhe und Sehnsucht nach ihrem Enkel erfaßten sie.

Als beim Nachhausefahren zwischen dem Hederichschen Ehepaar die Rede auf die Liebe der Frauen zu den Kindern kam, nahm der Gatte sein blühend aussehendes junges Weib in die Arme und flüsterte zärtlich neckend: »Aber mein kleines Frauchen, – drum und dran – mag keine Kinder – !« Da senkte die Frau mit unbeschreiblichem Blick ihre Augen, und er las in ihren Mienen die Glückseligkeit, die sie durchströmte über das, was auch ihr bevorstand. –



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