Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Es war an einem dunklen und stürmischen Wintertage im Anfang Januar, als ein einzelner Fußgänger sich um die Nachtzeit Falsterhof näherte, am Eingange der Gutsallee angekommen, stille stand und sichtlich unschlüssig, ob er sie betreten oder weiter schreiten solle, ruhelos um sich blickte. Der Fußgänger war Tankred von Brecken, und was ihn heute furchtbares beschäftigte, hatte seine Gedanken schon seit vielen, vielen Wochen ausschließlich in Anspruch genommen. Er hatte Holzwerder verlassen, weil er endlich die Stimme des Teufels in seinem Inneren zum Schweigen bringen wollte, die ihm immer von neuem zuflüsterte: Thu's, und Du wirst Besitzer von Falsterhof! Thu's, und Du wirst Eigentümer einer halben Million!

Und wenn er sich dies ausmalte, ergriff ihn eine so wahnsinnige Gier, daß die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, ihm wie ein Nichts erschienen, und die That und deren Folgen ihm nicht anders dünkten, als alles, was die Tageswelle sonst an den Strand wirft. Aber wenn dann wieder zu anderer Zeit das Wort Totschlag in seinem Innern austönte, und seine Phantasie sich zu regen begann, dann nahmen statt solcher gefälligen Vorstellungen Angst, Furcht und Grauen von ihm Besitz, und die Feigheit – nicht seine bessere Natur, weil sie überhaupt keine Stimme in ihm besaß – riß ihn zurück und stürzte alle Pläne über den Haufen. Und wiederum, wenn am Morgen Feigheit und Nüchternheit geredet und das Wort behalten hatten, fand um mittag die Habgier sich schon wieder ein und flüsterte, und ihre Stimme wuchs, und sie sprach so lange, bis der Mann sich abermals da fand, wo er nicht sein wollte, bei ihr in Falsterhof! Hundertmal war er in Gedanken schon in das Haus eingedrungen, hatte mit raschem Griff den in der Schlinge gefangenen Hund erwürgt, war leise hinaufgeschlichen in Theonies Gemach und hatte auch sie mit seinen Händen erdrosselt. Und dann war er eben so leise wieder hinausgeschlichen, – noch immer besaß er von seinem damaligen Aufenthalt den Schlüssel zur Hinterthür – und die Blätter hatten zwar im Park geraschelt, aber der Mond hatte geschienen wie sonst, und die Felder hatten tot und empfindungslos dagelegen wie immer, und er war schon wieder weit, weit fort, als die Hähne krähten, als im Hause alles wach wurde, die Zofe oben über den Korridor schritt, um die gnädige Frau zu wecken, das Frühstück unten aufgetragen ward, und doch keine gnädige Frau erschien, und der blanke Theekessel umsonst den Dampf aus seinem Halse stieß. – Morgens, mittags und abends, bei den Spaziergängen und Zerstreuungen, beim Essen, im Theater und in Konzerten, zuletzt auch im Traume verfolgte Brecken immer nur der eine Gedanke: wie fängst Du es an, die aus der Welt zu schaffen, durch deren Tod Du Besitzer von Falsterhof wirst? Besitzer von Falsterhof und Holzwerder! – Es lag ein Klang in diesen Worten, dem kein anderer vergleichbar war, keine Harfenmusik, kein Orgelbrausen!

Das Gehirn des Mannes arbeitete unermüdlich wie der Kolben einer Dampfmaschine. Vorbereitung zur That, Ausführung und Flucht waren bis ins kleinste überlegt; jeder Zufälligkeit war Rechnung getragen, für jedes gab es eine Auskunft, eine Antwort, einen Unterschlupf.

Und doch! Schon einmal war er dagewesen und hatte seine Sache so schlecht gemacht, daß er um eines Haares Breite erwischt wäre. An dem Hund, an der teuflischen Bestie, hatte es gelegen. Ja, wenn der überhaupt nicht da wäre, dann würde es ein Kinderspiel sein, Theonie Cromwell ein für allemal des Atems zu berauben. –

Endlich nach viertelstündigem Hin- und Herwandern war Brecken zu einem festen Entschluß gelangt. Ja, er wollte! Abermals auf halbem Wege stehen bleiben, hieß mit den quälerischen Gedanken von neuem beginnen, die Kosten, die durch seinen Fortgang von Holzwerder hervorgerufen waren, wegwerfen und die Hauptsache vergessen, daß nämlich Theonie weiterlebte, und er nichts anderes blieb als der Verwalter des Vermögens seines Sohnes.

Fast überhastig durchschritt er die Kastanienallee, nahm, bis zur Mitte angelangt, den bekannten Weg über das Feld in den Park und hielt erst inne, nachdem er vor dem Hinterhause angelangt war. Zunächst lauschte er aufmerksam, ob sich irgend etwas rühre.

Das letztemal hatte der Hund sich erst bemerkbar gemacht, als er den Flur betreten, aber sich dann so wütend gebärdet, daß er ihm nicht hatte beikommen können; sehr bald darauf waren auch die Hausbewohner wach geworden. Jetzt hatte Tankred von Brecken eine Schlinge zur Hand; er hatte sich geübt; mit einem Wurf konnte er das Tier unschädlich wachen. Der alte Frege hörte bei seiner Schwerhörigkeit sicher nichts; ein Knecht, den Theonie ins Haus genommen, schlief unten im Keller; das Mädchen und die Zofe fürchtete er nicht.

So trat Tankred denn an die Thür, steckte vorsichtig den Schlüssel ins Loch und drehte um. Nichts rührte sich! – Rasch entzündete er eine Blendlaterne – aber ein scharfer Stoßwind löschte sie wieder aus; auch ging's ihm plötzlich eisig über den Nacken, über den Rücken, durch alle Glieder, und er fühlte ein schier wahnsinniges Kitzeln unter der Haut. – Was war das? Sicher ein Nervenreiz, hervorgerufen durch die Kälte, durch die Aufregung; es werde eben so rasch wieder vorübergehen, wie es gekommen war. Doch nein! Zu dem Kitzeln gesellte sich eine furchtbare innere Angst, eine solche Angst, daß der Mann zunächst an nichts anderes dachte, als sich vor sich selbst zu retten. Er griff nach dem Schlüssel und rüttelte rücksichtslos an dem Schloß, als es sich nicht gleich lösen wollte. Und da knurrte es drinnen; der Hund schlug an wie damals; laut, schreckhaft, unheimlich klang's. Und das verschärfte die entsetzliche Bangigkeit und Unruhe, die Brecken ergriffen, und als ob Furien hinter ihm losgelassen seien, floh er durch den Park und aus dem Park über das Feld und erreichte stöhnend, keuchend, atemlos den Ort, an dem er vor kurzer Frist gestanden und sich schlüssig gemacht hatte.

Aber dies alles ließ nur blitzartig verschwindende Eindrücke zurück. Bis zur Verrücktheit jedoch quälte ihn das Kitzeln unter der Haut. – Ein Arzt! Wo fand er einen Arzt?! Der nächste wohnte in Elsterhausen. Aber jetzt bei nacht konnte er ihn doch nicht aufsuchen! – Und alle Welt nahm an, daß er sich im Süden aufhalte, und nun war er plötzlich da! – Weshalb? – Nein, das ging nicht. Er mußte zurück nach dem kleinen, westlich liegenden Ort L. und von dort nach Hamburg, wo er sich die letzten Tage aufgehalten hatte.

Zunächst aber war es nötig, die Nacht durchzumarschieren, um wieder dort einzutreffen. – So war denn abermals alles umsonst gewesen. – Alles umsonst!

Und immer entsetzlicher ward das Prickeln, und je mehr er kratzte, desto fürchterlicher ward es.

»Herr Gott im Himmel! Hilf! Was soll daraus werden?«

Wie? Er rief den Gott an, an den er nicht glaubte, den er bisher behandelt hatte wie ein Spielzeug?

Am Ende gab's doch ein höheres Wesen, das belohnte und strafte – am Ende gab's doch eine Vergeltung? War er bisher mit Blindheit geschlagen gewesen? Siegte doch das Gute, und ging das Böse unter – – ?

Plötzlich, in der namenlosen Qual, erhob sich eine Stimme in ihm, die er zuletzt gehört hatte in seiner Knabenzeit, als er noch gut sein wollte, Fehler und Vergehen bereute, als noch ein ehrliches Streben ihn durchdrang, er an sich, an seine Umgebung, an die Menschen glaubte.

Ach, sie hatten ihm schon in seiner ersten Jugend die Illusionen genommen, mit seinem frühreifen Verstande hatte er durchschaut, wie gleichgültig er seinem Vater sei, wie wenig seine Mutter ihn liebte, wie berechnend, wie heuchlerisch die Menschen waren.

Und das Beispiel hatte auf ihn eingewirkt. Er hatte auch eine weiche Seele und ein für Eindrücke empfängliches Herz besessen, aber allmählich waren sie erstarrt. Es blieb nur Raum in ihm für Regungen, die auf sein sich immer widerwärtiger ausbildendes Ich Bezug hatten. Unterstützt durch eine robuste Gesundheit und durch das ihn begleitende Glück war er einhergegangen, als könne nie ein Wechsel eintreten; nicht einmal der Gedanke an die Möglichkeit einer Änderung war ihm gekommen. Er sah, was in der Welt um ihn her vorging, aber was Schlimmes geschah, das stieß eben anderen zu, und nicht ihm. – Nun aber fühlte er sich plötzlich betroffen. Wie wohl die Heilung eines solchen Leidens vor sich ging? Nie hatte er von ihm gehört. – War's schon die Strafe des Himmels für seine Schlechtigkeiten? Aber bis jetzt hatte er sich doch nur mit Absichten getragen, noch war sein Inneres nicht mit einem Mord belastet. – Mord? Wie das klang! Entsetzliches Wort! – Wie? Hatte er wirklich Theonie töten wollen? – Plötzlich griff der Mann sich an die Brust, als ob ein anderes Wesen in ihn eingezogen sei. – Und dann begann wieder das rasende Kitzeln, und er hätte sich am liebsten nackt im Schnee gewälzt, um die Feuerpein los zu werden. Einmal brüllte er auf durch die Nacht, er warf den Blick empor zu den Sternen. Ob's auch droben so arme, gepeinigte Kreaturen gab? Wie's dort wohl aussah – ?

Sterben, sterben, nicht mehr leben! Was nützten nun Holzwerder und Geld und Besitz, was Falsterhof und Erbschaft?! Befreit zu werden von dieser Krankheit, dafür wollte der Mann alles hingeben!

So klein, so demütig ward er im Verlauf der Stunden, in denen er wie ein Rasender dahin jagte, daß er begann, allen alles abzubitten, seinen Schwiegereltern, Grete, Carin, Hederich, und wie sie alle heißen mochten. Er wollte mit ihnen in Frieden leben, er wollte sich bescheiden, gut werden! Aus den Wirkungen des Schmerzes, der Furcht und der Feigheit schälte sich zum erstenmal etwas heraus, das seinem besseren Gefühle entsproß. Das kalte Herz erhielt allmählich wieder Leben.

Ob's wohl anhielt? Ob's nicht wieder verdorrte, wenn die Schmerzen gewichen waren? Er dachte selbst darüber nach. Nein! Die Mahnung war nicht umsonst gewesen; sie kam ihm vom Himmel! Er glaubte jetzt an Gott, er hätte niederstürzen können auf die schneebedeckte Flur und den Schöpfer anbeten.

Und nun allmählich wich auch ein wenig das entsetzliche Kitzeln; der Schweiß, in den er geraten war durch das Laufen und die Seelenangst, öffnete die Poren und besänftigte den Reiz.

Wie der Mann aufatmete, aber wie auch wieder die Gedanken sich veränderten! Welcher Schwächling er doch war, gleich zu verzagen! Es war sicher nichts von Bedeutung. Vielleicht war's völlig vorüber, wenn er L. erreichte. Und was dann? Ja, was dann – ?

Er warf den Blick über die Gegend; schon begann's heller zu werden, der Morgen regte sich. Er hielt inne und atmete auf – und dann – dann – plötzlich begann von neuem das Jucken, ein solches kitzelndes Jucken, daß dem Manne der Schaum vor den Mund trat, und er wieder wie ein mit Stacheln gepeitschtes Tier weiter seinem Ziele zuraste. – –



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