Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Vor einer Stunde war die alte Frau von Brecken beerdigt. Eben war Theonie von dem Begräbnis zurückgekehrt und sank nun in ihren oben im Hause belegenen Gemächern an dem Tisch nieder und ließ das Haupt auf den ausgestreckten Armen ruhen. In ihrem Innern hatte nichts anderes Raum als der Schmerz, verstärkt durch das Gefühl einer grenzenlosen Vereinsamung und – Furcht.

Außer ihr wohnten in dem großen Hause nur zwei Mädchen und ein bejahrter Diener ihres verstorbenen Vaters, ein zuverlässiger, aber eigentümlicher alter Mann, der etwas schwerhörig war. Das Haus des Pächters von Falsterhof lag fast eine Viertelstunde entfernt hinter dem Park, und der Pächter selbst war einer jener streng redlichen, aber plump graden Menschen, die man respektiert, aber nicht eben liebt. Da er unverheiratet war, führte ihm seine alte Schwester die Wirtschaft, und auch sie war wenig zugänglich.

Im Herrenhaus befanden sich zur Linken im Parterre die gemeinsamen Wohngemächer, die sich bis in den Flügel ausdehnten; zur Rechten lagen die Räume, in denen jetzt Tankred sich breit machte, und oben Fremdengelasse und Theonies Zimmer. Im andern Flügel waren die Küche und die Gesindezimmer. Man mußte eine breite, beschnittene Hecke durchschreiten, wenn man von der Hinterfront des Hauses in das Gehölz gelangen wollte, welches sich dort düster hinstreckte. Auch vorn standen große, die Zimmer verdunkelnde Linden, und den Hof begrenzte der durch Stakete eingefriedigte Gemüsegarten mit hohen Gebüschen. So drang denn nie Licht, kaum Helle in die unteren Gemächer, und das Herrenhaus machte von außen und innen einen unheimlich düsteren, melancholischen Eindruck.

»Was nun?« drang's unwillkürlich und mit grenzenloser Schwermut aus Theonies Munde, als sie nach Bekämpfung des ersten Schmerzes das Haupt emporrichtete und, ihre Gestalt dehnend, sich im Zimmer umschaute.

»Was nun?« Weit lag die Welt vor ihr, nichts fesselte, hinderte sie, niemand beschränkte ihre Freiheit, und doch erschien ihr die Ferne, in die sie schaute, von allen Seiten begrenzt, doch fühlte sie sich gehemmt, als befände sie sich in einem Gefängnis.

Die Freude am Dasein war ihr, da sie nun den letzten Familienanhalt verloren hatte, erloschen. Wenn sie sich vorstellte, daß sie ihr ganzes Leben in Falsterhof verbringen sollte, kam's verzagend über sie, aber ebenso sehr schrak sie davor zurück, sich anderswo in der Welt niederzulassen. Alles hatte Reiz und Farbe für sie verloren.

Als zuletzt ihre Gedanken sich wieder dem Nächstliegenden zuwandten, dem Tag und seinen Bedürfnissen, und auch Tankred vor ihren geistigen Augen erschien, schüttelte sie sich in Grauen, und all ihr Denken und Sinnen richtete sich darauf, in welcher Weise sie ihn würde entfernen können.

In den legten Tagen während der schweren, schon hoffnungslosen Krankheit ihrer Mutter hatte er lügnerischer Weise erklärt, eine Reise unternehmen zu müssen, da sich ihm unerwartet Ansichten auf eine Stellung eröffnet hätten.

Vor seinem Fortgang hatte er in seiner schmeichlerischen Weise die Kranke getröstet: wenn er wiederkomme, werde sie schon ganz die alte sein, sie sehe bereits wohler aus, viele Jahre seien ihr noch beschert. Er bedaure, grade jetzt Falsterhof verlassen zu müssen, ihr nicht Gesellschaft leisten zu können, aber er halte es für seine Pflicht, eine gute Gelegenheit zur Erlangung einer Stelle nicht vorübergehen zu lassen. Unter einer Pflege, wie Theonie sie ihr biete, sei die Kranke besser aufgehoben als unter irgend einer andern; das beruhige ihn.

Und dann hatte er Theonie voll Zärtlichkeit umarmt, sie mit seinem demütigen Blick gestreift und war abgefahren.

Während sich die alte Dame in Lobsprüchen über ihn erging, dachte Theonie ihr Teil. Sie durchschaute ihren Vetter; ihr Mißtrauen, ihre Abneigung verschärften ihre natürliche Menschenkenntnis. Sie war überzeugt, daß er nur ging, weil es ihn langweilte, bei der Krankheit und dem Ende der alten Frau zugegen zu sein und Rücksichten zu üben, durch deren Vernachlässigung er sich in ein schlechtes Licht stellen würde. Er werde, sie war dessen sicher, erst wiederkehren, wenn alles vorüber wäre, wenn ihm keine Lasten mehr aufgebürdet werden könnten. Er wußte auch, daß sie, Theonie, ihn nicht herbeirufen werde.

Tankred kannte nur sich; um seiner Behaglichkeit keinen Abbruch zu thun, scheute er weder Lüge noch Verstellung. Alles, was ihn irgendwie genieren konnte, suchte er möglichst aus dem Wege zu räumen. Und in der That war er erst wieder in Falsterhof eingetroffen, nachdem die Leiche bereits aus dem Hause geschafft und in der Kirchhofkapelle des eine Stunde entfernten Gutsdorfes Breckendorf niedergesetzt war.

Nun heuchelte er Überraschung, Trauer und Leid, so spät – zu spät gekommen zu sein! Aber schon eine Viertelstunde später bemerkte ihn Theonie, vergnüglich eine Pfeife rauchend, im Park. Sicher hätte ihn das Herabfallen eines Spatzen vom Dach nicht mehr berührt als der Tod seiner Verwandten und Wohlthäterin.

Theonie sah alles kommen. Die Stelle hatte er nicht erhalten; nur zu begreiflich, weil gar keine in Aussicht gestanden, und er auch nicht die Absicht gehabt hatte, eine anzunehmen. Wenn vier Wochen, wenn acht Wochen vorüberzögen, würde er sich noch auf Falsterhof befinden, wie bisher zweimal die Woche in die Stadt Elsterhausen fahren und sich amüsieren, zu Fuß und Wagen Ausflüge unternehmen, Gutsbesitzer der Umgegend besuchen und die übrige Zeit essen, trinken, schlafen, faulenzen und den Herrn spielen.

Und Theonie erwartete mit Sicherheit einen Heiratsantrag von seiner Seite. Sie und damit Falsterhof zu seinem Eigentum zu machen, war sein verstecktes Ziel. Nicht gleich – nicht überstürzt – er hatte Zeit zu warten! Ihre Fragen, ihre Anspielungen, ihre deutlichen Wünsche würde er umgehen, wohl aber dann und wann ihr dieselben Lügen auftischen wie ihrer verstorbenen Mutter: daß er sich um Thätigkeit und Verdienst bewerbe und Aussicht habe, sie zu finden.

Und wenn sie dann erklärte, eher sterben zu wollen, als ihn heiraten, wenn sie zulegt die Forderung an ihn stellte, Falsterhof zu verlassen, dann würde die Maske fallen, und sein wahres Gesicht zu Tage treten. Und dieses Gesicht hatte sie jüngst im Traume gesehen – es war die Physiognomie eines beutehungrigen Schakals gewesen.

Tankred hatte schreckliche Fäuste, – er zerbrach mit den Fingern einen eisernen Ring, – er hatte fürchterliche Backenknochen, er besaß die herkulischen Schultern eines Einbrechers, er hatte in unbewachten Momenten die Augen eines Raubvogels.

Mitten in ihren Gedanken schnellte Theonie empor und begab sich mit einer gewissen Hast in das Privatzimmer ihrer Mutter, schloß hinter sich die Thür in dem düsteren Raum und öffnete die Pultschublade der Verstorbenen. Sie wollte das, wie sie wußte, hier liegende Testament ihres Vaters an sich nehmen. Eine plötzliche Unruhe und Angst, daß es von Tankred beiseite gebracht werden könne, daß es gar schon von ihm aus der Schublade entfernt sei, hatte sie ergriffen.

Mit zitternden Händen und fliegendem Atem suchte sie. Als sie das Dokument nicht gleich fand, stockte ihr Herzblut, ihr war, als sei ihre Furcht schon bestätigt, und wie von einer schrecklichen Last befreit, hob sich ihre Brust, als sie endlich in einem der Fächer neben anderen wichtigen Papieren das Gesuchte fand.

›Mein letzter Wille‹ lasen ihre sich rasch verschleiernden Augen. Mit den Schriftzügen ihres verdorbenen Vaters traten auch seine Gestalt und sein Wesen vor ihre Seele, und eine namenlose Sehnsucht nach dem Dahingeschiedenen bemächtigte sich ihrer.

Ihr Blick durchstreifte das Gemach und ging weiter in das Wohnzimmer. Dort an dem Tisch hatte er mit seinem freundlichen Gesicht gesessen, und neben ihm die Unvergeßliche, der Theonie nun eben das letzte Geleit gegeben. Ihr Leben, viele Einzelheiten ihrer Jugendzeit, die letzten Jahre, auch die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann traten in ihr Gedächtnis, und abermals kam's über sie wie Gewitterschwüle. Angst und Grauen bemächtigten sich ihrer Seele und ließen sie nicht.

Der sie sonst anheimelnde, eigene Duft der Räume, der Geruch von verwelktem Reseda und Rosen legte sich ihr schwer und atembeklemmend auf die Brust, und als nun die Thürglocke anschlug, und der Hund, der immer bellte, wenn Tankred ins Haus trat, sich laut rührte, als sie wußte, daß er eben den Flur beschritten, raffte sie, als habe sie ein Verbrechen begangen, das Testament an sich, versteckte es mit hastiger Bewegung unter ihrem Mieder und schloß rasch das Pult.

Dann setzte sie sich aufrecht und horchte gespannt. – Nichts – Tankred schien sich in den Garten begeben, seine Gemächer nicht betreten zu haben.

Nachdem sie noch eine Weile zaudernd dagesessen, gingen ihre Blicke bald auf die Thür, bald auf das nach dem Park sich öffnende Fenster. Und als sie nun eben zum zweitenmal dorthin schaute, mehr unwillkürlich als bewußt, schrie sie auf, denn sie sah den scharfknochigen Kopf ihres Vetters mit luchsartig gespannten Augen ins Zimmer spähen und sie beobachten. Freilich verschwand sein Gesicht mit Zauberschnelle, als ihre Blicke sich mit allen Zeichen des Schreckens auf ihn richteten; doch als sie, entschlossen aufspringend, hinausschaute, um sich zu vergewissern, ob es Wirklichkeit oder nur ein Bild ihrer Phantasie gewesen, lagen der kleine Rasenfleck und der Graben mit den hohen Brennnesseln wie immer einsam und menschenleer vor ihr. Nun schloß sie die Thür des Kabinets auf, eilte die Treppe zu ihren Gemächern empor und machte sich, nachdem sie einigermaßen ihre Ruhe zurückgewonnen, an die Durchsicht des Testaments. –

Theonie war groß und schlank, fast ein wenig zart gebaut, besaß sehr schöne, regelmäßige Züge, weiße Hände und schmale Füße und jenes Zurückhaltende in der Erscheinung und im Wesen, das die Männer reizt, in das Innere einer Frau einzudringen, und sie zu Versuchen anstachelt, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatte jenes Unpersönliche in ihrem Blick und in ihrer Art, das leicht zu dem Schluß gelangen läßt, der damit Behaftete sei nur mit sich beschäftigt, interesselos und hochmütig oder so sehr durch anderes abgelenkt, daß vorliegende Dinge ihn nicht fesseln. Aber oft ruht grade unter solcher Oberfläche Feuer und Leidenschaft; diese Gleichgültigkeit ist dann der Schleier, den man vorlegt, um unter ihm besser beobachten zu können; vielfach ist's auch ein Produkt der Erziehung, welche Zurückhaltung als ein Gebot der Schicklichkeit hinstellt, oder ein angeborener Mangel an Gefallsucht. Das letztere war bei Theonie der Fall.

Sie besaß eine durchaus reine Seele, aber sie war nicht eben biegsam, und ihre eigentliche Natur hatte sich nach der kräftigeren, selbstbewußteren Seite hin bisher nur einmal bethätigen können, und zwar nach dem Tode ihres Mannes.

Bis dahin war ihr Leben so ruhig, aber auch so ernst verlaufen, wie sie selbst erschien. Ihr Vater hatte an der Scholle gehangen, in seinem Willen und Wünschen ging ihre verstorbene Mutter auf; gleichmäßig dahinfließendes, von Aufregung freies und kaum durch Zerstreuungen unterbrochenes Dasein war aus eigener Neigung beider Eltern Teil gewesen, und was sie selbst nicht empfunden und geschätzt, dafür hatten sie auch bei Theonie keine Neigung vorausgesetzt.

Den Tod ihres Schwiegersohns hatten sie wohl ehrlich beklagt, aber die Freude, ihre Tochter dadurch wieder gewonnen zu haben, überwog bald den Schmerz und machte sie weniger empfindlich für die Trauer, die Theonie um so mehr durchdrang, als sie mit dem Verlust ihres Gatten auch die Aussicht und Hoffnung auf ein abwechslungreicheres, fröhlicheres und der Welt mehr zugewandtes Leben begrub.

Daß sie fernerhin wieder auf Falsterhof leben und hier sterben werde, stand für sie außer Frage. Das Glück, das ihr kurze Zeit gelächelt, hatte sie schnell wieder verlassen, denn daß sie noch einmal einen Mann lieben könnte, hielt sie für undenkbar. –

Als die Mittagsglocke nach alter Weise ertönte, war Theonie eben mit dem Durchsehen des Testaments fertig und ging nun hinab, nun hinab, um im Gartenzimmer mit Tankred das Diner einzunehmen.

Als sie in die Thür trat, schritt ihr Vetter mit dem Ausdruck tiefer Teilname auf sie zu und drückte wortlos einen Kuß auf ihre Hand. Sie litt es nur halb; bei seiner Berührung war's ihr, als ob ein böses Tier sich ihr genähert habe, und nur mit Aufbietung ihres ganzen Willens vermochte sie, ihm unbefangen zu begegnen.

»Ich fuhr nicht mit Dir zusammen vom Kirchhof zurück, Theonie,« hub Tankred, nachdem er sich niedergelassen, an, »weil Pastor Höppner noch den Wunsch hatte, mich zu sprechen. Als ich an den Wagen eilen wollte, um Dir dies mitzuteilen, warst Du schon fort. Aber vielleicht wünschtest Du auch allein zu fahren?«

Die letzten Worte sprach Tankred mit Berechnung, und in sein Auge trat trotz seiner gefügigen Mienen ein lauernder Ausdruck. Er wußte seit seinem ersten Eintritt ins Haus, wie Theonie zu ihm stand; nur der Wunsch, daß es anders sein möge, verwischte bisweilen sein klares Urteil. So war es auch heute.

»Ja,« erwiderte Theonie mit denselben fast unbeweglichen Ernst, mit dem sie ihm begegnet war seit dem Beginn der Krankheit ihrer Mutter, »ich hatte allerdings das Bedürfnis, mich abzuschließen, und hätte Dich sogar gebeten, mich allein fahren zu lassen.«

Er nickte und besann sich. Dann sagte er, ihrer stummen Frage, ob er mehr Suppe begehre, durch Hinreichen des Tellers entsprechend, einschmeichelnd: »Ich bin also beruhigt, Theonie. Freilich würde ich glücklicher sein, wenn Du den Wunsch gehabt hättest, in meiner Nähe zu sein. Ich hätte dann doch einmal empfunden, daß Du ein etwas warmes Gefühl für mich besitzest.«

»Nein, ich besitze es nicht!« gab die Frau ehrlich zurück.

Nie war Theonie ihrem Vetter bisher so begegnet. Wohl war sie ihm stets ausgewichen, aber über ihre Lippen war noch keine Silbe gedrungen, die auf Freundschaft oder Abneigung hätte schließen lassen können.

Ihn erschreckte deshalb ihre Offenheit nicht wenig, und er horchte gespannt auf. Wollte sie fortan aus ihrer stummen Abwehr heraustreten? Wollte sie rasch und ohne Rücksicht das Band zwischen sich und ihm durchschneiden? Er mußte es wissen, es drängte ihn heiß, und statt ihre Worte zu umgehen oder etwa in leichter Weise darauf zu antworten, sagte er unvermittelt: »Weshalb hassest Du mich, Theonie? An dem Begräbnistage Deiner Mutter sei einmal aufrichtig gegen mich. Vielleicht gelingt es mir doch, Dir eine bessere Meinung von mir beizubringen.«

Sie gab keine Antwort, sie benutzte das Eintreten Freges, des Dieners, und sagte mit dem gehobenen Ton, mit dem man dem Alten bei seiner Schwerhörigkeit begegnen mußte:

»Es fehlt ein Löffel, Frege! Auch bringen Sie eine Flasche Wein.« –

Als der Diener gegangen, sah sie ihres Vetters Auge auf sich gerichtet mit jenem Blick, der zur Rede auffordert, und senkte das ihrige.

»Nun? Du willst mir nicht antworten, Theonie?«

Jetzt begegnete sie einem schreckenerregenden Ausdruck in seinem Gesicht; deutlicher Haß spiegelte sich in seinen Mienen, obschon er sie rasch wieder glättete.

Da ging's durch ihr Inneres, ob's nicht, um zum Ziel zu gelangen, klüger sei, sich auch zu verstellen, wie er es that. Eine nicht zu bannende Furcht kam über sie; so sehr lag sie unter dem Druck ihrer bangen Ahnungen, daß sie aufatmete, als Frege wieder ins Zimmer trat und zunächst den Löffel brachte. Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen, sagte Theonie, vorsichtig jedes Wort wägend, aber auch die Gelegenheit ergreifend, ihren Vetter über ihre Absichten nicht im Unklaren zu lassen:

»Den Haß, von dem Du sprichst, habe ich keine Ursache, gegen Dich zu empfinden. Da wir aber sehr verschiedene Naturen sind, werden wir uns, glaube ich, nie recht verstehen und deshalb besser thun, von einander zu bleiben.

Ich werde nicht vergessen, daß Du mein Verwandter bist, und werde die sich daraus ergebenden Rücksichten so lange gegen Dich üben, wie Du sie mir erweisest. Hoffentlich ist Dir das Schicksal auf Deinem späteren Lebenswege günstig, und Du bedarfst meiner hinfort nicht. Sollte es aber doch früher oder später der Fall sein, so sprich Dich gegen mich aus. Ich werde Deine Wünsche zu erfüllen suchen, sofern sie meine Kräfte und die Grenzen, die ich nur stecken muß, nicht überschreiten.«

Als Theonie mit ihrer Rede innehielt, neigte Tankred mit einem gemischten Ausdruck schlecht unterdrückter Enttäuschung und dankbarer Erkenntlichkeit kurz das Haupt und sagte: »Ich danke Dir für Deine Gesinnungen. Daß Du jemals in die Lage geraten könntest, ›meiner‹ zu bedürfen, hältst Du wohl nicht für denkbar Theonie? Umfaßt der Reichtum denn allein die Mittel, mit dem sich ein Mensch dem anderen hülfreich erweisen kann?«

»Ich werde Dich nie um etwas bitten,« entgegnete die Frau kalt, und von der klug beobachteten Grenze zwischen Offenheit und Rücksicht, die sie eben noch inne gehalten, abweichend. Aber sich ihres Fehlers bewußt werdend, fügte sie rascher hinzu: »weil ich überhaupt niemandem etwas schuldig sein möchte.«

In dem Gesicht des Mannes rührte sich nichts, obschon es in ihm wühlte. »Du äußertest vorher, Theonie, daß wir nach Deiner Ansicht besser thäten, uns fern von einander zu halten. Habe ich daraus den Schluß zu ziehen, daß Du wünschest, ich solle Falsterhof verlassen? Ist dem so, dann werde ich so bald wie möglich gehen, doch möchte ich Dich bitten, mir noch so lange Aufenthalt bei Dir zu gewähren, bis ich eine Stellung gefunden habe. Du wirst sagen, daß das nach den bisherigen Erfahrungen lange dauern kann, aber endlich wird sich doch wohl etwas aufthun. Wenn ich die Mittel hätte,« – jetzt kam Tankred auf das, was ihm schon lange auf den Lippen lag, –«würde ich mir selbst ein Eigentum erwerben oder eine Pachtung zu übernehmen suchen, aber ich armer Teufel –«

»Du hast keinen Wein mehr. Darf ich Dir einschenken? Nein, hier ist eine andere Flasche, bitte! – Ich möchte, um Deine Frage zu beantworten, Falsterhof bald verlassen und mich auf einige Zeit zu den Verwandten meines verstorbenen Mannes begeben. Natürlich werde ich Rücksicht auf deine Wünsche nehmen,« entgegnete Theonie, kühl ausweichend.

»Das ist eine deutliche Antwort, Theonie. Sagen wir also, Du erlaubst mir, noch acht Tage zu bleiben.«

Sie gab keine Erwiderung.

»Ist das zu lange?«

»O – nein –« Es kam sehr zögernd heraus, und diesmal wußte Theonie, was sie sprach. Und doch, um seine Enttäuschung, die er nicht zu verbergen vermochte, zu mildern, knüpfte sie rasch an den Schluß seiner vorherigen Rede an und fügte hinzu:

»Du sprachst von Mitteln, deren Du bedürftest. Auch ohne diesen Hinweis hätte ich Dich noch vor Deinem Fortgang gebeten, eine Summe, über die ich verfügen kann, von mir anzunehmen. Sonst ist in dem Testament meines Vaters alles so festgestellt, daß ich nur über die Zinsen zu disponieren habe.«

Tankred horchte auf. Was er vernahm, klang seinem Ohr nur zum Teil angenehm. Wenn sie die Wahrheit sprach, – und er vertraute ihr, obschon er als Gewohnheitslügner selten annahm, daß andere redlich verfuhren, – so konnte ihm nur aus einer Heirat mit Theonie ein Nutzen erwachsen, wie er ihn im Auge hatte, und daß an eine solche nicht zu denken, war ihm eben klar geworden.

Es kam nun darauf an, zu erfahren, über welche Summe Theonie testamentarisch verfügte, und wie viel sie ihm davon zuzuwenden geneigt sei. Sicher würde die Gabe um so geringer ausfallen, als er die wenige Sympathie, die sie für ihn empfand, noch weiter verscherzte. Wollte er ihrem guten Willen alles anheim geben, so mußte er die Krallen auch ferner einziehen und sie geschickt umschmeicheln. Freilich, vielleicht erlangte er mehr durch Drohung, durch Gewalt – ? Das mußte abgewartet werden. Vor keinem Mittel schreckte er zurück, zunächst aber wollte er es im guten versuchen. Je nach dem Umfange der Schenkung, die sie ihm anbieten würde, wollte er sein Verfahren einrichten.

»Du bist sehr freundlich, Theonie, und ich danke Dir nochmals von ganzem Herzen,« hub Tankred an. »Jede Unterstützung ist natürlich für mich von Wert, da ich nichts besitze. – Hoffentlich fandest Du durch das Testament alle Deine Wünsche erfüllt?«

Die letzten Worte sprach der Mann mehr, um glatte Reden zu machen, als daß er sich etwas dabei gedacht hätte. Theonie aber nahm sie auf und sagte:

»Du meinst? Ich verstehe nicht –«

»Nun, ich wollte sagen, Du erhieltest dadurch die Unabhängigkeit, nach der Du verlangst.«

Sie schüttelte den Kopf, und scheinbar arglos, aber diesmal mit leiser Berechnung, stieß sie heraus:

»Alles bleibt, wie es war. Kunth, der Pächter, zahlt wie früher die Pacht an unsern Advokaten, und ich habe die Verfügung über die Zinsen, wie zuletzt meine Mutter. Was mein Vater an barem Gelde erspart hat, das heißt, das, was er nicht dazu verwandte, um Falsterhof schuldenfrei zu machen, ist mein Eigentum, und ich kann darüber nach meinem Gutdünken verfügen. Ich wollte Dir davon die Hälfte zuwenden, die andere den armen Verwandten meines verstorbenen Mannes überweisen. Ich kann ja das Geld entbehren, da ich mich mit den Zinsen reichlich einzurichten vermag.«

»Wie hoch schätzt man eigentlich den Wert von Falsterhof?« fragte lauernd Tankred, nachdem er ihre Rede mit leichtem, seinen Dank ausdrückenden Kopfneigen bestätigt hatte, in einem äußerlich uninteressierten Ton.

»Ich weiß es nicht. Ich verstehe von dergleichen wenig und habe mich nie darum bekümmert. Ich freue mich nur, daß ich so viel habe, daß ich sorgenfrei leben und anderen Gutes erweisen kann. Darin wird in Zukunft ein Teil meiner Lebensaufgabe bestehen. Denn was sonst vor mir liegt, ist einsam und recht freudlos.«

Tankred hatte die Frage nach dem Wert von Falsterhof nur aufgeworfen, um seiner Kousine Sinn für Vermögensverhältnisse zu prüfen und danach wieder die Wahrhaftigkeit ihrer übrigen Angaben zu bemessen. Er wußte, daß für das Gut schon vor langen Jahren über viermalhunderttausend Thaler geboten waren, und ihn ärgerte nur, daß sein verstorbener Onkel, der pedantische Philister, die Hypotheken abgelöst hatte, statt Geld anzusammeln.

Er brannte vor Neugierde, zu erfahren, wie groß die Summe sei, die Theonie zugefallen war. Aber da sie, trotz ihrer Offenheit in allem übrigen, damit nicht hervortrat, mußte er sich gedulden. Er sah keine Möglichkeit, ohne sich durch eine direkte Frage bloßzustellen, dem, was ihn beschäftigte, gesprächsweise auf die Spur zu kommen. Aber sein Entschluß verstärkte sich: Wenn die Abfindung, die Theonie ihm bieten würde, bedeutend war, wollte er Falsterhof verlassen, war's aber ein Bettel in seinen Augen, so blieb er, um mit List oder Gewalt seine geheimen Pläne zu verfolgen.



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