Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Hals über Kopf rennen die Telegraphenstangen. Meilensteine purzeln in den Schnee. Der Wind wirft weiße Schleier und heult in den Drähten. Die Schienen singen und schwingen. Es rattert und rasselt. Breit weht die schwarze Rauchfahne in den niederen, blaßgrauen Himmel. Schwarzer Kaffee schwankt in den kleinen Tassen, Zigarettenrauch schaukelt in bläulichen Wölkchen.

Zwei scharfgeschnittene Männerköpfe gleiten im Rhythmus der rollenden Räder. Zwischen schlanken, starkgliedrigen Fingern knistert ein Brief. Und in das wiegende Rollen fallen die Worte: »So hat es Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß gefallen, unsern Friedemann durch die Hand deines Sohnes zu retten. Einen ganzen Apfel schnitt er ihm aus dem Gehirn. Ich bin stolz auf Heinz Williguth.«

Der Geheimrat senkte das Blatt und blickte hinaus in die russische Steppe. Der Rauchschweif kehrte gerade über ein Häuflein Holzhäuser, die schultertief im Schnee steckten. Der Mann gegenüber schob bedächtig die dünnen roten Haare in die Scheitellinie und rieb die knochige Stirn.

Philipp Emanuel stieß den Zigarettenstumpf aus.

»Ja, das hat also mein Bub gemacht.«

Die grauen Augen leuchteten. Nur um den Mund hockte ein grämliches Lauern.

Lord Darcy blies gelassen blaue Rauchringe in kunstvollen Spiralen.

»Na, was sagst du dazu?«

Philipp Emanuel beugte sich vor und starrte in die grünen Augen. Aber die rötlichen Wimpern schlugen schnell darüber hin.

»War es Ehrgeiz?«

Der Geheimrat biß zornig die Lippen: »Es kann auch Neid sein. Und wenn es so geschah, ist keine Kraft in seinem Tun.«

John Darcy drückte die Nadel in die gelbe Krawatte: »Ihr Williguths seid ein bibelfestes Volk. Dein Vater schreibt wie ein Prophet.«

Ein Lächeln stand jetzt um den schmalen Mund.

Dunkle Wälder tauchten auf, liefen heran, wuchsen empor und stolperten vorbei, wie betrunkene Riesen. Die Achsen hämmerten.

Philipp Emanuels Hand zerknitterte seines Vaters Brief. Stumm saß er da.

Darcy trank in kleinen Schlucken den Kaffee: »Was ist mit der Arbeit von Heinz?«

»Darüber urteile ich nicht. Die ist eingereicht. Kollege Schneider von der zweiten Klinik hat sie wohl jetzt in der Hand.«

»So, der?«

Ein Zwinkern lief durch die grünen Pupillen.

Der Geheimrat lächelte ein steinernes Lächeln: »Leicht hat es mein Sohn nicht. Er trägt ein schlimmes Halsband.«

Die kalten grauen Augen starren hart in die weiße Weite, über welche die Rauchfahne hinfegt.

Totenstill liegt das Land.

In der Luft hängt eine Rabenschar.

 

Flora Schirlitz stand auf einer Leiter und klopfte die Kränze aus Tannenreisig fest, die Simon Gottesdank ihr reichte. Froh blitzten ihre Augen. Heinz Williguth ging durch die Halle. Er hob nicht einmal den Kopf.

Gottesdank schielte ihm nach.

»Frau Pastor, was sagen Sie dazu?«

Aber nur der Hammer fiel auf die Nägel. Zornig prasselten die Schläge. Simon Gottesdank klapperte im Werkzeugkasten.

»Gestern war wieder ein Kerl da, der mich ausholen wollte. Von der Zeitung.«

Das Tannengrün zitterte unter der harten Wucht, mit der Flora Schirlitz die Nägel eintrieb.

»Unser glückliches Familienleben sollte ich ihm schildern. Na!«

Von oben kam ein Seufzen. Der Hammer klopfte und klopfte. Ein feines Duften zog durch die Halle. »Es riecht nach Weihnachten.«

Witte kam gelaufen und hob schnuppernd die Nase. Dann stürzte er auf den Eingang los: »Der große Papa!«

Da stand Philipp Emanuel schon in der Tür. Mit schenkstolzem Lächeln wandte er sich um.

»Na, Heinz?«

Und schob den Sohn vor sich her.

Hell fiel die Sonne herein und hängte tanzende Lichter in die grünen Kränze.

Philipp Emanuel streckte beide Hände hin: »Das hast du brav gemacht. Ich danke dir.«

Scheue Augen glänzten ihm entgegen. Heinz wartete.

Sein Vater aber warf die Arme aus in herrischer Forderung: »Und wie jetzt, so fortan!«

Hoch ragte er über den Sohn. Der wußte keine Antwort.

 

Im »Blauen Herrgott« stand ein Baumkuchen, steil und zackig wie ein Turm, auf dem schneeweißen Kaffeetisch. Feierlich schimmerte der Goldrand der braunen Tassen. Johann Sebastian saß im schwarzen Rock vor dem Klavier. Demütig lag das Hauskäppchen vor ihm und darauf der schon ganz dünne Ehering. So wartete er auf Philipp Emanuel.

Frau Apollonia lief alle Augenblicke zum Fenster.

»Er kommt!«

Leise schwangen die Scheiben im Wagenrollen. Johann Sebastian richtete sich auf, warf einen Blick zum Himmel und griff in die Tasten. Noch sprangen die knotigen Finger gelenkig zwischen Schwarz und Weiß, die alte Uhr rasselte ihre Stunde und schwieg dann erschrocken.

Apollonia legte die Finger an die Lippen. Ihre Augen leuchteten in stillem Gottesdienst. Johann Sebastians Stimme aber stapfte in die Melodie, die feierlich dem Geheimrat entgegenlief. Und er sang:

»Heil dir, David, junger Held, der des
Feindes Haupt gefällt!
Tausend schlug, o Saul, dein Schwert!
Heil dir, der uns Sieg gewährt!
David warf zehntausend hin, zehntausend
Lieder preisen ihn!«

Dann wanderten die Greisenaugen von Mann und Frau wie glückwünschende Kinder zu Philipp Emanuel. Und dieser Blick strich die Falten auf seiner Stirn glatt. Mit einem Ruck warf er die Hände aus, und die Finger seiner Eltern schlangen sich darum. Die Liebkosung tat ihm heute wohl.

Johann Sebastian wackelte mit dem Kopf: »Denk' mal bloß, so groß wie'n Apfel war das Ding. Jetzt muß Heinz aber bald Professor werden.«

»Aber, Vater, das genügt doch nicht.«

Wie Buschwerk standen die Brauen. Mit ungeduldiger Bewegung suchte er in den Taschen die kleinen Geschenke für die alten Leute. Apollonia goß schon den Kaffee ein. Über den würzigen Dampf weg blinzelte sie verschmitzt dem Geheimrat zu: »Jetzt sieh' aber, daß auch Jakobe ihre Pflicht tut!« Philipp Emanuel lächelte, sagte aber nichts.

Sie zog mit dem Messer drei Kreuze über dem Baumkuchen und schnitt dann ein. Johann Sebastian aber begann mitten im vergnüglichen Kauen: »Ja, also dein Heinz – – – – .«

Da verschluckte er sich.

 

Fünf Herren saßen um einen grün bespannten Tisch, hatten weißes Papier vor sich und trugen schwer an Würde und Geheimnis. In Philipp Emanuels kalten Augen wartete der Spott.

Mit schnarrender Stimme krächzte ein dicker alter Mann unverständliches Zeug und hieb manchmal mit der Faust auf das grüne Tuch. Das war der Dekan, und sie berieten, ob Doktor Heinrich Williguths Arbeit dem Professorenkollegium der medizinischen Fakultät behufs Zulassung zur Dozentur empfohlen werden könne. Die erste Instanz, die aber in Wirklichkeit allein die Entscheidung hatte, tagte hier als Areopag, raschelte mit dem Papier und schob die Bleistifte zwischen die Lippen, tippte im Takt auf den Tisch und übte so schon äußerlich das Richteramt.

»Herr Kollege Schneider hat das Wort.«

Der Dekan mit der weichen, schmierigen Hemdbrust streckte den Arm aus und setzte sich. Ein eleganter Herr mit schmalem Habichtskopf, kleinen wasserblauen Augen dicht neben der scharfrückigen Nase, schnellte hoch.

Der Geheimrat schaute auf. Da ging Professor Schneiders Blick behutsam in das braune Halbdunkel der Zimmerecke.

»Weil unser allverehrter Geheimrat als Vater nicht in Betracht kommt,« kurze, bedauernde Verbeugung zu Philipp Emanuel, »obliegt mir heute die Pflicht, mein fachmännisches Urteil über Doktor Heinrich Williguths Arbeit: ›Zur Diagnose und Chirurgie der Gehirnkrankheiten‹ gerecht und wohlwollend abzugeben.«

Er setzte ab und hängte so allen künftigen Worten den Purpurmantel der Wichtigkeit um. Dann zerpflückte er die Arbeit mit liebenswürdiger Gelassenheit, Kapitel um Kapitel, Seite um Seite. Hier und da lobte er auch und ließ gerade dadurch die Mängel nur noch schärfer hervortreten.

Voll hochmütiger Gleichgültigkeit erwartete der Geheimrat den Schluß. Nur der Bleistift zuckte zwischen den Fingern. Jedes Wort wußte er voraus.

Der Dekan hockte in stumpfer Langweile und klopfte mit der fettigen Brieftasche einen uralten Walzer ab.

Jetzt breitete Professor Schneider beide Arme, wie ein Geier, der auffliegen will, die Flügel, ölte die Stimme zu salbungsvollem Pathos und bohrte wieder den Blick in die Zimmerecke. »Trotz bestechender Einzelheiten kann die vorliegende Arbeit in Berücksichtigung aller Umstände als Habilitationsschrift nicht in Betracht kommen. Denn die originellen Gedanken darin sind Eigentum unseres hochgeschätzten Kollegen Williguth.«

Sein Lächeln verneigte sich gleichsam vor Philipp Emanuel. Der schlug es mit dem Blick zurück. Ein Primarius mit derbem Bauernschädel, der es an brillanter Technik dem Geheimrat gleichtat und diesem die Karriere verdankte, hämmerte auf den Tisch: »Zum Donnerwetter, das riecht nach Absicht.«

Schneider legte selbstgefällig die Hand aufs Herz: »Leider kann ich nicht anders.«

Jetzt sollten alle vergessen, daß man ihn selbst als Schwiegersohn seines mächtigen Vorgängers von Stufe zu Stufe emporgeschoben hatte. Und er wartete schadenfroh, daß der stolze Williguth zu Kreuz kröche und bitten käme. Die zwei anderen Beisitzer waren scharf aneinander geraten und zerrten mit zornigen Fingern an Heinz Williguths Arbeit.

»Aber, meine Herren,« mahnte schläfrig der Dekan und ließ einen Tintenklecks auf das weiße Papier fallen.

Wie Faustschläge prasselten die Worte der Streitenden.

»Wir schreiten zur Abstimmung,« pfauchte endlich der Vorsitzende und schwang seine Glocke.

Philipp Emanuel stand auf. Da schwiegen alle.

»Einen Augenblick!« bat er und warf den Kopf zurück.

Schneider hob gönnerhaft den Bleistift: »Das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen.«

Und er wartete wieder.

Wie Hämmer lagen des Geheimrats Fäuste auf dem Tisch. Hoch und schwer ragte er über die geduckten Köpfe.

»Wir Williguths brauchen keine Nachsicht. Da sei Gott vor!«

Wie Bastionen sprangen die Stirnbuckel und das Kinn. Und war eine schwere Stunde für den stolzen Mann. Zugeben mußte er, daß sein Werk mit ihm abriß, daß sein Sohn ihm nicht glich. Die Halsadern schlugen, um die Mundwinkel grub der beherrschte Schmerz. Schneider war jetzt ganz blaß, wieder traf er auf die unerschütterliche Größe Philipp Emanuels. Der stand da, wie aus Steinblöcken gebaut, ernst und feierlich und mit offener Stirn.

»Ruhe und Reife fehlt dieser Arbeit. Das ist es, meine Herren. Und Milde taugt für jeden andern, nur nicht für meinen Sohn. Es soll nicht heißen, Geheimrat Williguth hat seinen Jungen zum Dozenten gemacht, und wenn es tausendmal so Brauch ist.«

Wie Schwerter blitzten die grauen Augen.

»Einige Änderungen, – strafferes Zusammenfassen im zweiten Teil, der ja äußerst flüchtig gearbeitet ist – – –.«

Wider Willen preßten sich die Worte aus Schneiders Mund, stolperten unbeholfen und purzelten zu Boden.

Da griff des Geheimrats Hand über den Tisch: »Ganz oder gar nicht.«

Und er zerriß die Arbeit seines Sohnes. Die Fetzen flogen den andern ins Gesicht. Sie sprangen auf und wehrten mit den Händen ab. Aber Philipp Emanuels Finger taten schnelles Werk.

»Jetzt kann keiner sagen, daß ich meinen Sohn der Fakultät aufzwingen will.«

In der harten Stimme rauchte der Zorn. Dann winkte er kurz und wandte sich zur Tür.

Der Dekan schwang zornrot die Glocke: »Ich muß das Benehmen des geehrten Herrn Kollegen leider rügen. Es ist nicht Brauch, daß – – – –.«

Aber da schlug sein Stammeln schon an die Tür, die Williguth hinter sich zugeschmettert hatte.

Auf der Treppe zogen zwei Studenten, ärmliche Judenjungen aus dem Osten, die Hüte tief vor Philipp Emanuel. In heißen Augen brannte der Ehrgeiz. Der Geheimrat blickte zurück. Vielleicht wuchs da etwas Starkes in enger Heimlichkeit. In der Aula flogen alle Kappen. Er lächelte zornig. Sein Ruhm lief ihm nach und warf langen und breiten Schatten, nahm andern das Licht, seinem Sohn zuerst. Verdrossen blinzelte er in die Wintersonne.

 

Die Karten klatschten. Philipp Emanuel gewann jedes Spiel wider Jakobe und die Schirlitz. Aber er lächelte heute nicht über sein Glück. Und fiel ein Wort, zuckte er nur ungeduldig die Schultern. Die Lippen wulsteten in grämlichem Trotz, hochmütig blickten die grauen Augen. Plötzlich legte er die Karten weg und starrte geradeaus. Knapp und kalt sagte er dann: »Sie haben Heinz' Arbeit abgelehnt.«

Und blickte weder Jakobe noch die Schirlitz an.

Jakobe hatte die Hände im Schoß verkrampft und schaute darauf nieder.

»Und sie hatten recht. Die Sache taugte nichts. Wenigstens für meinen Sohn war es zu wenig!«

Hochmütig bog er den Kopf zurück.

Da legte sich die Schirlitz weit vor und stemmte die knochigen Finger wider den Tischrand: »Warum haben Sie die Kerle nicht gezwungen, Herr Geheimrat?«

»Ach ja, Schirlitzchen, Sie haben ja die Reinschrift besorgt.«

Wie ein ungezogenes Kind wies er sie zurecht. Dann ging er steif mit Jakobe hinter der Hausdame drein, die das Licht trug, ihre Schritte schleppten durch die dunklen Korridore. Unsichere Schatten zuckten über die alten Bilder, streckten sich, verschluckten die Helligkeit und schwankten wieder zurück. Plötzlich ließ der Geheimrat die Schirlitz allein voraus tappen und sagte leise: »Es wird jetzt viel auf dich ankommen, liebes Kind.«

Er sah Jakobes Gesicht nicht.

Jetzt hob Flora Schirlitz die Kerze. Und da starrten große, entsetzte Augen.

»Du mußt seine Schwächen mit schöner Stärke tragen,« sagte er unmutig und glich auf einmal seiner Mutter Apollonia, gerade wie sie streckte er Daumen und Zeigefinger hoch.

Jakobe hatte keinen eigenen Willen. Jetzt spannte er sie wieder ins Joch. Wie ein Wegweiser flackerte die Kerze der Schirlitz.

 


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