Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Die Kirche von St. Pankraz verstellte dem Hause des Superintendenten Friedemann Williguth alle Sonne. Klein und engbrüstig duckte sich der schmale Bau mit der hohen roten Dachkapuze unter das Massiv von Kirche und Turm. Und die uralten, samtbraunen Eichbalken im grauen Mauerwerk vibrierten ganz leise, wenn drüben Johann Sebastians Orgel ging oder eine der großen Glocken. Aber heute traten schwere Williguthfüße und stampfende Kinderbeine derb hinein in dies haarfeine Mitsummen zu Gottes Ehre. Dunkle Korridore sprangen plötzlich ins Licht und zeigten rissige Wände, vergilbte, dunkelgerahmte Stiche und ehrwürdiges Hausgerät, wenn eine der drei geschäftigen Haustöchter eine schwarzgestrichene Tür aufriß und der Widerschein der milden Oktobersonne von der warmgoldenen Kirchenmauer matt und stetig über die grauen Steinfliesen hinrann. Aber schon im nächsten Winkel blieb das schläfrige Dämmerlicht, das zur abgeschlossenen Würde dieses Hauses gar wohl paßte. Nur das emsige, schnarrende Kreischen des glitzernden Turmhahns hoch oben, der sich jahraus, jahrein im Kreise drehte, war ein Zugeständnis an die Weltlichkeit da draußen. Ein Wunder schien es, daß in dieser engen Gasse mit den steilen, schmalbrüstigen Häusern das Frauenvolk Friedemanns zu solcher Knochenwucht und Leibesfülle herangediehen war. Heute flog ein Frauenrock um den andern Tür aus, Tür ein. Denn der feste Brauch, an diesem Tage die ganze Familie zu bewirten, konnte selbst durch die Krankheit des Hausherrn nicht erschüttert werden. Das Braten und Kochen geschah sogar mit verdoppelter Betriebsamkeit, als könnte solche Beharrlichkeit auch den Kummer besiegen, der mit schweren Schwingen durchs Haus strich. Und als mittags das Rasseln der Turmuhr zum Schlag anhob, war der lange Tisch in dem Zimmer, wo einst die evangelischen Kirchenobern in schweren Zeiten sich Treue schwuren, blütenweiß gedeckt, und zwei junge Hilfsprediger guckten schon hungrig durch den Türspalt. Dann schämten sie sich ihrer irdischen Gier und sahen aufmerksam über den sonnenhellen Kirchenplatz nach dem Glockenspiel. Und aus der Turmnische drüben trat jetzt richtig Gustav Adolf im gelben Koller, die blaue Feldbinde um den Leib, und schwang artig den Federhut vor der mittäglichen Rast der Williguths und ihrer Stadt.

Über die häßlichen Läufer aus Rohleinen, die zur Schonung über die bunten, geschmacklosen Teppiche gebreitet waren, schritten jetzt die Williguths mit ihren starken Frauen und brachten ihren zahlreichen und gliederschweren Nachwuchs mit sich. Jedes Jahr kamen sie so zu Friedemann, und die Würdigen und Wohlansehnlichen grollten dem Schicksal, daß dieser Tag diesmal nicht so hell und frohbewegt sein durfte, wie sonst. Denn für das Kranksein und Sterben hatten sie sich noch keine Maske zurechtgelegt, da sie noch alle lebten, vier Generationen, ein Heerwurm, der sich gewichtig über die Erde schob und alles Gute und Genießbare wegfraß. Und wie an allem Besitz hielten sie auch daran fest, daß ihr Friedemann gar nicht ernstlich krank war, blickten unwillig nach seinem leeren Platz und warteten, ob er denn nicht doch käme. Aber ihr breites Lachen hatte einen falschen Ton, selbst ihre sonstige Gefräßigkeit hielten sie im Zaum, nur die Kinder griffen wacker zu. Und doch war alles wie stets, der blütenweiße Tisch, das große, ewig dämmrige Zimmer mit dem leisen Geruch nach Tabak und frischgewaschenen Gardinen, der wackelige Ofenschirm aus vergoldetem Rohr mit Laura und Petrarca in buntem Kreuzstich, die dunklen, streng geschlossenen Kleider der Frauen, die feierlichen schwarzen Röcke der Männer, alles ernsthaft, gediegen und bürgerlich. Wie stets trug die blasse, hagere Frau Mine die große ovale Brosche mit dem Miniaturbild des Eusebius Williguth, der als Abtrünniger und Kardinal der römischen Kirche zu Venedig, vor dem Hause, in dem Casanova seine Spielbank hielt, von Sigismondo Bramafàm und einem jungen deutschen Prinzen im Raufhandel erschlagen worden war. Aber der eiserne Familiensinn ließ auch den Ketzer nicht aus seiner Mitte. Er war der geheime Stolz und die geheime Schande der Williguths, ein seltsam wilder Schößling an ihrem uralten Baum. Aber er trug das rote Barett und mochte immerhin als ein Diener Gottes gelten. Und weil sein schmales, spöttisches Gesicht mit dem schweren Kinn und den verlebten grauen Augen auf Elfenbein gemalt und von großen Amethysten und Rauten umgeben war, vergaßen sie seiner Sünden und seines schlimmen Todes, und er durfte Generationen von Williguthfrauen auf der vollen oder flachen Brust liegen, wie ein Symbol der irdischen Größe, zu der einer aus ihrem Hause emporgestiegen war, wennschon auf absonderlichen Wegen.

Der Kardinal Eusebio Bentivoglio hatte den hochmütigen Blick aller Williguths. In ihm erkannten sie sich selbst mit halb geschmeicheltem, halb pharisäischem Unbehagen. Heinz Williguth glich ihm Zug um Zug. Derselbe frauenhafte Mund, die gleichen gierigen Augen mit den frühen, scharfen Falten darunter, die starken Backenknochen und die schmale, überhohe Stirn mit den seinen blauen Adern an den Schläfen. Da saß er, steif und aufrecht, ein Fremder in der eigenen Familie. Die konnten essen und trinken und plötzlich mitten darin den Kranken bedauern, alles mit derselben Wichtigkeit. Wie eine Mauer stand ihr sicherer Hochmut. Und sein Vater war wie die anderen. Selbst in Jakobes verhaltener Art fand er ein allmähliches Anpassen an den Brauch dieser Sippe.

Johann Sebastian erhob sich jetzt, das Weinglas in der Hand, wuchtig und selbstbewußt stand er, wie ein Patriarch unter seinem Volk.

»Ich trinke auf die Gesundheit unseres Friedemann.«

Dann schnappte er kurz ab und setzte sich. Voll bedächtiger Schwerfälligkeit nickten sie mit den dicken Köpfen und blieben ganz still. Durch die schmalen, hohen Fenster fiel nur mehr wenig Licht, verirrte Sonne, karg und spärlich, ohne warmen Glanz. Überall lagen dämmrige Schatten, auch von den dunklen Kleidern kam keine Farbenhelle. Selbst die größeren Kinder trugen düstere Festtagsgewänder und hockten voll Würde und Anmaßung in der dicken Frühlingskapsel ihrer Jugend, Witte allen voran.

Leise und zurückhaltend klangen heute die harten Stimmen, nur von Giacomos Platz polterte hie und da ein derbes Lachen.

Ein häßlicher, fanatischer Zug grub um Heinz Williguths Mund. Er sah unheimlich scharf in alle ihre Ecken und Winkel, zog Linie um Linie, bis er das Bild beisammen hatte, enge Muffigkeit, die sich unfehlbar dünkte.

Jetzt schoben sie die Konfektteller zurück, rückten die schweren Stühle, schärften den Kindern ein, artig und mit fröhlichen Gesichtern vor Onkel Friedemann zu treten, ordneten und stellten sie in Reihe und Glied, mit wachsamen Augen und flinken Händen, wie die Männer sonst Geld und die Frauen Wäschestücke zählten. Witte mit seinem Blumenstrauß kam voran, weil Philipp Emanuels Enkel der Vortritt gebührte, und er blies die Backen hochmütig auf, daß man ihm das meiste Vertrauen schenkte. Johann Sebastian stand in der Zimmerecke und lächelte milde, als die Zukunft seines Geschlechts, mehr als ein Dutzend, Blumen in den kleinen Fäusten, an ihm vorüber zog.

So schlängelte sich die Schar der Kinder durch die halbfinstern Korridore, das Sträußlein in der steif abgestreckten Hand, die Augen weit offen, weil das Gruseln vor dem altertümlichen Haus und der befremdlichen Krankheit des Onkels sie kleinmütig machte und nur kurze, trippelnde Schritte setzen ließ. Nur Witte stieß die Füße kräftig auf und freute sich, wenn der Widerhall von den Wänden zurücksprang. Frau Albine öffnete die Tür und hatte jetzt helle Äugen, da sie meinte, diese kerngesunde Jugend müsse auf Friedemann wie ein Heilkräutlein wirken. Witte drückte das Kinn nach vorn und bot allen Mut auf, denn auch ihn packte jetzt die Kinderscheu vor dem Rätsel und Geheimnis in dem halbdunklen Zimmer. Aber er trabte tapfer drauf los. Zuerst sah er nur schwarzbraungetäfelte Wände, einen hohen Betschemel, unter einem beängstigenden Bild, aus dem in der Dämmerung nur die Dornenkrone deutlicher hervortrat, dann zwei schwere dunkle Betten, dicht beisammen, von einer grünen Samtdecke farbenhell überflammt. An das Fußende war ein plumper grüner Divan geschoben, und darauf lag, den wachsgelben Kopf auf ein schneeweißes Kissen gebettet, Friedemann Williguth. Um den schweren, schlaffgewordenen Mund saß Falte an Falte, tiefe Furchen schnitten in die Stirn, das Weiß der Augen schimmerte gelblich, von kleinen Blutäderchen durchzogen, der linke Arm lag steif und unbehilflich auf der schwarzgetigerten Plüschdecke.

Verschreckt und zagend ordneten sich die Knirpse zum Kreis, in dessen Mitte nun ganz ruhig, mit großen gefaßten Augen, Witte Williguth trat.

»Ja, Kinder, da seid ihr also wieder,« sagte der Superintendent und grüßte schwerfällig mit der gesunden Hand. Der Geheimrat und Heinz hielten sich im Hintergrund, durch die offene Tür spähten zwei oder drei neugierige Williguthfrauen. Stumm und steif standen die Kinder im Kreis. Ein kleiner Krusemann weinte plötzlich laut und ängstlich in die tiefe Stille, und eine Enkelin des Hofzuckerbäckers Robert tat das gleiche. Dumm und verlegen umkrampften die anderen ihre Blumen und wären am liebsten hinausgelaufen.

Da schwang Witte die Faust: »Seid nicht so dumm, ihr da, der große Papa hat erlaubt, daß wir herkommen.«

Und mutig legte er seinen Strauß in Onkel Friedemanns zuckende Finger. Der Kranke richtete sich auf. Einen Augenblick loderten die grauen Augen, und die Stimme bekam die alte Kraft. Er wies auf das Christusbild über dem Betschemel: »Behaltet ihn lieb!«

Milde lächelte er und wollte weiter sprechen, im schweren, salbungsvollen Bibelton, den er liebte. Plötzlich verzerrte sich der Mund. Über die linke Gesichtshälfte lief ein wellenförmiges Zucken, von Muskel zu Muskel. Die Stimme riß ab, die letzten Worte verloren den Zusammenhang und blieben ein Stammeln. Alle Willensanspannung war umsonst. Nur ein Röcheln kam über die qualvoll verzerrten Lippen. In die großen, grauen Augen trat zornige Angst, die rechte Hand griff nach der Gurgel, als säße dort ein Würgen. Dann sank er zurück und lag ganz still. Nur die Augenlider schlugen ruhelos auf und nieder. Ein Frauenschrei gellte vom Korridor her. Witte beugte sich weit über den Diwan: »Was fehlt dir, Onkel Friedemann?«

In die Zimmerecken gedrückt schluchzten die kleinen Wllliguths oder klammerten sich bleich und entsetzt an ihre Eltern, die jetzt das Zimmer füllten. Philipp Emanuel sagte rauh: »Bringt die Kinder fort!«

Sein Blick war glanzlos, wie der eines gequälten Tieres.

Aber kein Williguth wich. Alle bekannten sich zu dem Kranken, der da hilflos vor ihnen lag. Und dann richteten sich alle Augen auf den Geheimrat. Ein stummes Bitten und Fordern: Hilf ihm doch!

Johann Sebastian drückte die Finger in Philipp Emanuels Arm, sie wechselten einen schnellen Blick. Schwerfällig bewegte der Greis den Kopf vom Arzt zum Kranken und wieder zurück, in kindischem Wundern über das Unmögliche, daß Friedemann in Todesgefahr sein sollte. Apollonia stand mit hellen Augen am Fußende des grünen Diwans und lachte dem armen Friedemann zu, wie nur eine Mutter alles Schwere von ihrem Kind weglacht.

Tief und dunkel brannten Heinz Williguths graue Augen aus dem blassen Gesicht. Wie in zuckender Gier hob sich die Oberlippe von den großen gelblichen Zähnen. Zum erstenmal sah er den Vater schwach und die starke Hand zag zur Tat. Lauernd stand er und stieß mit einem rauhen, kehligen Laut den Atem aus.

»Warum tust du nichts, Philipp Emanuel?« fragte Johann Sebastian fast drohend, und alle nickten beifällig.

Mechanisch griff der Geheimrat nach dem Puls, aber er zählte die überschnellen Schläge nicht. Er war ein Williguth, und gerade ihm zerbrach der starre Glaube an das Unerschütterliche ihrer Art. Der Mensch und der Arzt standen widereinander. Kein Williguth konnte gezeichnet sein, keiner von ihnen elend und kümmerlich dahinsiechen, ein Stück totes Fleisch, das hin- und hergeworfen und zerstückelt ward. Er wollte nicht wahr haben, was er da mit mitleidloser Schärfe sah.

Heinz Williguth aber empfand wie einer, der lange genug außen stand, wie ein fremder Arzt, der plötzlich in eine bestürzte Familie gerufen wird und nur darauf bedacht ist, seine Bedeutung gleich ins hellste Licht zu setzen. Es lockte ihn, seines Vaters Altar, vor dem immer Weihrauch dampfte, niederzuwerfen und in Holz und Stein zu zerschlagen. Da starb ein Williguth. Und sie würden alle einmal sterben, die Alten, Wohlbehäbigen, Neunmalweisen, jeder von ihnen würde den wohlverschanzten Platz endlich räumen müssen, wo er zeitlebens Besitz und Besserwissen aufgestapelt hatte in eigensinniger Beharrlichkeit, den Platz, auf den längst ein anderer wartete.

Friedemann mochte sterben, elend unter Messer und Meißel bleiben, wenn nur Heinz Williguth seinen Hochmut ausleben und sie alle demütigen konnte, den Vater voran. Jetzt war er stark, da selbst der große, weltberühmte Chirurg sich lieber auf das verzweifelte Trostlächeln der Greisin verließ, die ihn und den kranken Bruder zur Welt gebracht, als auf seine sichere Hand. Heinz ballte die Fäuste. Endlich, endlich war sein Tag. Er setzte sein Ich wider das Wir der Williguths und dachte, ihre eiserne Kette zu zerreißen mit seinem Haß. Jetzt suchte er den Blick seiner Frau, wie ein Taschenspieler den Beifall.

Aber er fand sie nicht unter den dichtgedrängten Menschen, die alle auf Philipp Emanuel blickten, auf den einzigen Helfer in ihrer gemeinsamen Not. Wie unter Peitschenhieben duckte sich Heinz Williguth vor diesen Blicken. Sie ließ nicht locker, die Kette.

Als sie dann heimfuhren, brach nur Wittes wichtiges Kinderplaudern das Schweigen. Jakobe saß rechts vom Geheimrat und starrte aus dunklen, erschreckten Augen in die flackernde Erwartung ihres Mannes. Philipp Emanuel dachte an den kranken Bruder und hatte seine weiche Stunde, die ihm aus dem warmen Gold dieses letzten Oktobertages zuwuchs. Heinz Williguth hätte ihm ins Gesicht lachen mögen. Endlich brach er los: »Wann willst du operieren?«

Philipp Emanuel wandte ihm den Blick zu, der messerscharf alle Lüge entzweischnitt. Aber er schwieg. Und Heinz sah mit heißen, trockenen Augen, wie Jakobes Finger über seines Vaters zuckende Hände glitten.

In der Nacht nahm er seine Arbeit wieder vor und las Seite um Seite. Zuerst lächelte er zufrieden, dann fand er Sprünge und Unstimmigkeiten, die den klaren Fluß unterbrachen. Er strich und änderte und schaltete neue Blätter ein. Verzweifelt wehrte er sich gegen den ewigen Vergleich, an dem er litt. Dann holte er seines Vaters Werke, blätterte hastig, maß sich an dieser selbstbewußten Kraft und knirschte mit den Zähnen. Er haßte diese Bücher, wo jede Zeile so fest und sicher hingestellt, scheinbar mühelos verschenkt war. Neid verzerrte ihm den Mund. Von neuem machte er sich an die Arbeit, fieberhaft, voll brennenden Eifers schwang er die Peitsche über sein lässiges Wesen. Plötzlich aber gähnte er und kaute an der Feder. Langsam und zäh tröpfelten die Gedanken. Zornig rüttelte er sich auf. Nur aus Trotz tat er die Arbeit. Bleich stierte er dann in den Morgen, der schläfrige Dämmerung ins Zimmer schickte. Stumpf und glanzlos hing die elektrische Birne, wie ein rotes Schlängelein krümmte sich der Faden. Mit wüstem Kopf ging der junge Williguth in seines Vaters Klinik.

Miriam Forcade hatte eine neue Rolle geschaffen, die Salome in Haß und Blut getaucht. Jetzt saß sie vor dem Spiegel und ließ sich frisieren. Ihr Haar war noch schön und reich, das Blond durch kunstvolle Pflege heller und leuchtender als in jungen Tagen. Wie ein goldener Mantel hing es über die weißen, nur schon allzustarken Schultern. Griff das Mädchen ungeschickt, stieß Miriam den Fuß krachend gegen die kostbare Marketerie ihres Toilettetisches und pfauchte vor Wut. Der Panther kam zum Vorschein, der tagüber schlief und grimmig mit der Pranke aushieb, wenn man ihn störte. Die starken, ringgeschmückten Finger zerknitterten die Morgenblätter, die ihren Ruhm verkündeten, sie lachte spöttisch und lechzte doch nach dieser Kost. Erst seit Renate mit seltsamen Blicken die ewig junge Mutter streifte, wurde Miriam ein wenig unsicher, wenn ein Lob gar zu grelle Farben hinstrich. Sie erinnerte sich des Spottes, mit dem sie selbst einst alternde Sängerinnen zerpflückt, brüchige Stimmen getadelt hatte. Ob nicht vielleicht Renate anders und schärfer sah als alle Welt? Miriam lächelte. Sie wußte jetzt selbst nicht, wie alt sie war. Befriedigt straffte sie die Arme, daß die losen Ärmel bis zur Achsel zurückfielen, und prüfte das glatte, tadellose Weiß der Haut. Da hörte sie einen schnellen Schritt und furchte die Brauen.

»Was willst du, Renate?«

Aber die Tochter lief auf sie zu und küßte sie: »Du warst groß, Mama, das macht dir keine nach!« Die Mutter erwiderte den Kuß und hatte jetzt weiche, verträumte Augen, da Renate nur selten lobte.

»Ja, Kind, ich wundere mich selbst, daß ich schon ein so großes Mädel habe.«

Jakobe vergaß sie gänzlich. Sie lebte stets nur im Augenblick. Und gerade jetzt stand Renate in höchster Gunst, weil sie zur Not doch noch für einen Backfisch gelten konnte. Zudem verlor sich ihre unbekümmerte Rundlichkeit, alles streckte und reckte sich, allenthalben gab es Ecken und Winkel, als käme das Fleisch den Knochen nicht so schnell nach. So störte sie jetzt die schwer behauptete Schönheit der Mutter weniger als früher. Miriams Herz lief darob leicht und froh im Takt des Blutes, in Gebelaune zog sie einen Ring vom Finger.

»Willst du ihn?«

»Danke,« sagte Renate und hob nicht einmal die Hand.

»Na, was soll es denn sein?«

Sie warf sich in ihren Sessel zurück, kreuzte die Beine und schnellte die Lorgnette vor die Augen. Renate fingerte an ihrem Rock und preßte das Kinn nach vorn. Ein dunkles Licht stand in ihren Augen.

Zwei scharfe Falten gruben sich um Miriams vollen Mund. Mit diesem Mädel gab es doch immer Schwierigkeiten. Auch bemerkte sie wieder einmal die unheimliche Ähnlichkeit zwischen sich und Renate, Zug um Zug. Selbst der Eigensinn schien der gleiche. Miriams Zunge strich schnell über die Lippen: »Na?« Renate schüttelte zuerst den Kopf, dann sagte sie zwischen zusammengepreßten Zähnen, daß es wie ersticktes Zischen klang: »Laß mich zum Theater, Mama!«

Es blieb ganz still. Die Lorgnette klappte ein. Wie Buschwerk hingen die Brauen über Miriams eingekniffenen Augen.

»So?«

Fast ein Schrei.

Renate zuckte die Achseln und trat zurück, wie einer dem Zorn des andern einfach aus dem Wege geht.

»Niemals!«

Die Hand der Mutter beschrieb einen majestätischen Bogen und tilgte diesen kindischen Wunsch für immer aus.

»Warum entschuldigst du dich nicht, Renate?«

Wie zum Sprunge vorgebeugt saß Miriam vor diesem stummen Trotz. Betteln und bitten sollte Renate jetzt, liebe Worte finden, damit die Mutter dem dummen Kinde großmütig verzeihen könnte.

Miriam stand auf. Die Spitzen vor ihrer Brust schwangen auf und nieder.

Renate aber blieb stocksteif, ein Stück harten, verhaltenen Willens zu kommenden Dingen. Sie hatte so hübsch von Hand in Hand gehen geträumt, und jetzt gab es wieder Streit. Die kurze Oberlippe von Mutter und Tochter sprang zu gleicher Zeit hoch.

»Nun?« schrie Miriam und ballte die Fäuste. Ihr eigener Trotz schaute ihr da plötzlich entgegen. Sie packte Renate an beiden Schultern und schüttelte sie: »Ich verheirate dich auf der Stelle, wenn du mich ärgerst! Marsch hinaus!«

Ihre Stimme überschlug sich. Zornig riß sie die starken weißen Hände zurück. Renate wandte sich langsam zur Tür. Noch einmal, fast bittend, sah sie zurück. Ihre Mutter saß schon wieder vor dem Spiegel und begann mit vorsichtigen, geübten Fingern, Stirn und Mundwinkel zu massieren. Sie hatte Furcht vor dem Zorn, der Falten und Runzeln zog. Da klappte die Tür ins Schloß.

In dem sonnenhellen, runden Speisezimmer saßen sie beim Lunch, die Forcades und Jakobe Williguth, neben der schweigsamen Renate aber Achatz Rothenwolff und zwinkerte ein wenig erstaunt und mißtrauisch aus seinen dunkelgrünen Augen zu Miriams plötzlicher Huld. Der Impresario Lewis hatte die Serviette vorgesteckt und schmauste unermüdlich. Zwei alte Herren, trotz Sonne und Mittagsstunde im Frack, mit würdigen Bärten, flankierten die Hausfrau, Kritiker von Ruf, voll liebenswürdiger Bereitwilligkeit und doch mit einem Zug versteckter Wichtigkeit. Sie gingen da aus und ein und spielten manchmal, wenn sie besonders bei Laune waren, mit dem guten Forcade ein wenig Karten. Sonst betrachteten sie ihn nur als den Mann seiner Frau und rauchten mit Vorliebe seine tadellosen Zigarren.

Nikolaus Forcade aber gefiel sich voll lustiger Ironie in der Rolle der guten alten Kinderfrau, der man alle Launen aufpackt und hier und da ein freundliches Wort wie einen Brocken vom Tisch zuwirft. Es machte ihm Spaß, für einen harmlosen Dummkopf zu gelten. Wie Marionetten tanzten sie alle vor seiner vergnügten Klugheit. Renate hielt trotzig die Augen gesenkt und beobachtete zwischen tückischen Wimpern die heitere Lebendigkeit ihrer Mutter. Miriam blies die breiten Nasenflügel auf und sog alles Lob ein, wahrend ihr lachender Mund scheinbar das Übermaß abwehrte. Sie hatte jetzt keine Launen, weil man ihr gerade alle erfüllte, ihr schenkfrohes Lächeln galt aller Welt. Voll Absicht wies sie auf den jungen Rothenwolff: »Der hat mit mir die Salome studiert! Denn unsere Kapellmeister sind Ochsen, daß sich Gott erbarm!«

Sir S. Lewis, der bisher nur seinem Magen gelebt, blickte vom Teller auf: »Du bleibst ewig jung, Miriam, und schimpfen kannst du noch immer so prachtvoll,– –«

Er blinzelte boshaft: »Wie vor dreißig Jahren.«

Die beiden Musikkritiker zogen strenge Gesichter und krauten verdutzt die würdigen Barte. Miriam furchte die Brauen und saß kerzengerade. Und Nikolaus Forcade schenkte eifrig die Gläser voll. Miriam tat ihm jetzt leid, sie lebte doch von ihrer ewigen Jugend.

Boshaft stemmte Renate die Arme auf. Da sah sie Jakobes Augen voll kalter Strenge auf sich gerichtet und klapperte nur trotzig und unartig mit Messer und Gabel. Jakobe aber saß wie Geheimrat Williguth und wachte sorgsam, daß Sitte und Ordnung gewahrt blieb. Sie haßte jetzt diese flackernden Blicke, dies Auflehnen von Jung wider Alt. Mit der starren Gebärde, die sie unmerklich vom Schwiegervater angenommen, spannte sie die Schultern nach hinten, zog die Arme zurück und sprach mit krampfhaftem Lächeln und seltsam hochmütigen Augen von der Salome, als wüßte sie allein um diese dunklen und unnennbaren Dinge.

Die Herren von der Kritik fielen sofort ein, und auch Nikolaus Forcade zündete flugs das Licht seiner nachdenklichen Weisheit an.

»Wie seltsam alles wächst und wird! Da sagt ein Weib: ›Weil er mich verschmähte, ließ ich ihn töten.‹ Und Oskar Wilde hat die Salome empfangen.«

Plötzlich hörte sich Jakobe Williguth sagen: »Sterben, das ist die kleinere Enttäuschung.«

Ihr Vater hielt den Kopf schief und trank einen kleinen Schluck: »Liebes Kind, wenn, wie Ruskin sagt, alles Geschaffene kostbar ist, scheint mir deine Theorie nicht ganz richtig.«

Allem Lebendigen hängte er eine sinnige Etikette an.

»Was hat man von die Narrischkeiten?« seufzte S. Lewis philosophisch und sah sich nach einer Zigarre um. Er brannte das Kraut an und stieß den Rauch kurz und herrisch von sich.

»Verlieben hätt' ich mich gestern in dich können, Miriam, aber dein Korsett taugt nix. Beim Schleiertanz hat deine schöne, schwanenweiße Schulter gemacht – wie soll ich sagen – ein kleines Doppelkinn.«

Miriam warf zornig die nackten weißen Arme über den Tisch und pfauchte Mann und Töchter an: »Wozu hockt dann ihr drei im Theater?«

»Laß gut sein, Miriam, mein Gold! Ich geb' dir 'ne Adresse, und du bist schlank wie ä Rabbi am langen Tag. Notieren Sie, lieber Graf!«

Fast feierlich begann er zu diktieren und füllte den runden, sonnenhellen Raum mit seiner lauten, selbstgefälligen Stimme. Jakobe saß stumm, mit gesenktem Kopf. Wie Haß lief es über ihr heißes Gesicht. Sie hatte plötzlich Sehnsucht nach der strengen Klarheit Philipp Emanuels, die allem Unerwünschten haarscharfe Grenzen zog.

Renate versetzte Achatz Rothenwolff einen gelinden Tritt: »Du, das wird langweilig. Komm!«

Miriam lächelte voll unergründlicher Weisheit: »Du darfst dir eine Zigarette nehmen, mein Herzchen.«

Und fast mütterlich nickte sie dem trefflichen Achatz zu.

Mit beiden Armen schlüpfte Renate in die orangegelbe Golfjacke, die Miriam einst für sich selbst gekauft, dann aber als zu grellfarbig der Tochter geschenkt hatte. Achatz Rothenwolff schob die Hände tief in die Taschen seines braungrünen Mantels. Der Rauch von Zigarre und Zigarette wirbelte ihrer Eile vorauf. Ihre Schultern streiften dürres Blattwerk, als sie über herbstbraunes Gras kreuz und quer durch den Garten liefen. Renates Herz tat schnelle Schläge. An der Schläfe sprang und hüpfte eine blaue Ader unter der weißen Haut.

Stoß um Stoß führte der Wind wider die raschelnden, schon halbkahlen Zweige und riß den Rauch der Zigarette, die Renate allzuschnell paffte, in Fetzen mit sich. Graue Wolken schwammen im Westen und verschluckten das Blau. Ein letzter Streifen Sonne zitterte auf dem Braun und Gelb von Baum und Strauch. Ganz hoch oben geschah ein dumpfes Brausen. Aus dem welken Blattwerk des Ahorns wirbelte es Schmetterlinge in Renates Haar, hoch hinauf schraubte sich der Flackertanz, dann riß der losbrechende Sturm alles über Baum und Hausdach in die brausende Heide hinaus. Der Winter wollte ins Land.

Renate horchte auf das Wispern ihres eigenen Lebens und war allein in ihrem wunderlichen Werden. Trotzig sehnte sie sich und hatte doch dumme Kleinmädchenfurcht. Voll Ungeduld stieß sie die Hacken ihrer Schuhe in die halbfeuchte Erde und sagte kurz: »Mit Mama habe ich also wieder Krach gehabt.«

»Na, und?« fragte Achatz, der an diese Katzbalgereien längst gewöhnt war. Als diese forttanzenden Blätter jung und grün waren, hatte er an gleicher Stelle gleiches Leid vernommen. Faul hob er die Augen. Und da fand er, daß gar nimmer die Renate von früher vor ihm stand, der eckige, übellaunige Backfisch war fort. Ein ganz feines Menschenpflänzchen suchte da Wurzelgrund. Selbst erstaunt über die neue, jähe Wärme in seinem Blut legte er beide Hände auf ihre Schultern und fühlte mit leisem Erschrecken, wie samtweich das junge Fleisch unter seinen Fingern zuckte. Wenn sie jetzt zurückgewichen wäre, hätte er sie an sich gerissen. Der Duft ihres Haares nahm ihm die kühle Überlegung, die sonst sein Stolz war. Aber in der unbewußten Hellsichtigkeit der Frau rührte sie sich nicht. Und diese erschrockene Starrheit, ganz fremd an dem wilden Mädel, verscheuchte die rasche Leidenschaft. Er schämte sich und lächelte verzagt. Langsam senkte er den Kopf.

Da sagte sie schnell: »Du willst mich doch nicht küssen?«

Eine tiefe Falte stand zwischen ihren dichten Brauen.

Als er hartnäckig schwieg, kam wieder ihre Stimme, wie tiefer Glockenton: »Du bist ja der einzige, der mir helfen kann.«

Ganz langsam strich sie die orangefarbene Jacke glatt, es war eine Liebkosung, die einem andern galt. Mit zagem Lächeln streckte sie ihm beide Hände hin. Er zauderte und nahm sie dann. Jetzt war Renate Forcade schön. Ganz weich und hingegeben, ein junges Weib.

»Weißt du, Achatz, Mama möchte uns zusammenbringen. Hast du's nicht gemerkt?«

Er schüttelte zornig den Kopf und sah über sie weg, drei kleinen weißen Wolken zu, die in die Haide hinausschwammen. Die belud er mit seinem versäumten Glück und wünschte ihnen gute Fahrt.

»Hast du dein Auto da?«

»Ja. Was willst du denn?«

»Komm!«

Sie ging voran und hatte einen wiegenden Gang, wie nie zuvor. Ein jähes Reifen füllte alle Ecken aus. Die reiche Welt schuf wieder mal ein junges Wunder. Und Achatz Rothenwolff durfte dabei Handlanger sein, mehr allerdings nicht. Sein Kopf wirbelte, wie das Laub der Bäume, verständnislos blinzelte er. Dort oben liefen noch immer die drei weißen Wolken.

»Du bist ja ohne Hut,« sagte er schwerfällig.

»Wir sind gleich zurück.«

Sie gab dem Chauffeur das Ziel. Der schmunzelte vertraulich. Achatz warf ihm einen Wutblick zu, aber er ließ sich führen und hatte keinen eigenen Willen.

Das Auto surrte, kam ins Gleiten und schwang hinaus in den brausenden Novembertag. Rote Lichter glimmten aus dem Nebel, den der Winter über das Land spreitete.

Sie saßen ganz still und spannen ihre Gedanken. Achatz Rochenwolff stellte mit leisem Bedauern fest, daß er zum alten Onkel geworden, vor dem Renate Forcade keine Geheimnisse hatte. Seine Hände waren ungeschickt zum Halten der hübschen Dinge dieser Welt.

In die Vorstadt ging die Fahrt, durch enge Gassen, die am frühen Nachmittag schon dunkel lagen. Durch schmale Fenster blinkte bereits hier und da ein Lichtlein in den Nebel, der draußen Brücken von Haus zu Haus baute und wie dicker Schnee die winzigen Gärten erfüllte. Nur irgend ein laubloser Baum hob seine Sparren hoch, wie ein Ertrinkender den Arm. Schwarz und rußig krochen Feuermauern auf, der Bewurf rissig und abgeblättert, nackt der rote Stein. Langsam streckte die Stadt die schmutzigen, gierigen Arme nach dem grünen Kranz ringsum, Stück für Stück verwandelte sie in wimmelnde Menschenburgen, und zerlumpte Kinder schrien verwundert, wenn mal ein leibhaftiger Laubfrosch in der verstaubten Buschhecke hüpfte. Dann kamen stillere Gassen, wo die ehemaligen Landhäuser der Bürger hinter beschaulichen Vorgärten mit strohverpacktem Rosenparterre und kahler Jasminlaube schlummerten. Aber auch ihre Tage waren gezählt. Schon standen einzelne Zinskasernen unter dem bescheidenen und anmutigen Volk, schon lärmten grelle Plakate, ein Kino tat sich auf, Wirtshaus schob sich an Wirtshaus, und aus einer Seitengasse schrillte eine Fabrikspfeife. Mittendurch surrte das Automobil mit Renate Forcade. Sie sog das vielgestaltige Leben in sich, wie es da gespenstisch aus dem Nebel herauswuchs und wieder im wallenden Grau verschwand. Der Wind zauste ihr Haar, ihre Nasenflügel spannten sich. Sie glich mehr als je ihrer Mutter. Das heiße, ungebändigte Proletarierblut rann schnell durch die Adern.

Die Huppe warf ihr Tuten in den Nebel.

Drüben zeichneten sich in schwachen Umrissen Waldberge, die wie im Pulverdampf standen. Ein breiter Bau schälte sich los, ein plumpes Viereck, mit roten, blauen und gelben Zetteln beklebt, von Bogenlampen an hohen Masten überragt, die jetzt noch lichtlos wie weißliche Kürbisse in der Luft schwebten. Renate blickte Achatz erwartungsvoll an. Der aber stülpte nur die Handschuhe über die Finger, als er die Alhambra erkannte, ein Tanz- und Ballokal für Kleinbürger und genußhungrige Dienstboten.

»Da also?« fragte er verdrießlich und empfand den plumpen Witz, daß Nikolaus Forcades Tochter in diesem häßlichen Winkelwerk ihren Ehrgeiz zur Schau stellte.

Ein fetter Kellner, der auf der Hemdbrust die ganze Speisekarte trug, verbeugte sich mit dienstbereitem Blinzeln. Renate warf plötzlich hochmütig den Kopf zurück. Ein Liebespaar strich aus einer Tür, bleich vom Vergnügen, Arm in Arm, und der Mann nickte gutmütig Renate und Achatz zu, als gönnte er ihnen gleiches Glück. Im Schanklokal spielten Kellner mit schmierigen Karten, im Winkel schrieb einer an der Speisekarte. Schaler Bierdunst verdarb die Luft.

»Ach, das Fräulein ist da,« grüßte die dicke hellblonde Dame an der Kasse und schob einen losen Haarpfeil zurecht. Renate lächelte jetzt wieder. Ihr Kindersinn war stolz, daß man sie hier überall kannte. Lauter als nötig verlangte sie den Schlüssel zum Theatersaal.

Ein Kellnerjunge schwang die fleckige Serviette und schrie: »Der Direktor ist da, und der Regisseur auch.«

Es klang wie eine stolze Zusammengehörigkeit mit dieser glitzernden und grellbunten Welt.

Achatz tippte den Jungen auf das farblose, pomadeverklebte Haar: »Willst du auch Schauspieler werden?«

Da traf ihn ein zorniger Blick Renates. Zwischen halbgeöffneten Lippen schimmerten ihre starken Zähne. Das Kinn sprang vor wie ein entschlossener Eroberer. Und die Buckel der Stirn saßen breit und wuchtig unter dem windverwehten Haar. Trotz seiner weisen Gelassenheit, die nur an allen Dingen tastete, ohne sie wirklich in Besitz zu nehmen, neidete Achatz Rothenwolff dem wilden Mädel diese Entschlossenheit zum eigenen Leben.

Dünnes Licht sickerte durch einen Türspalt und malte auf verstaubtem Kulissentrödel helle Striche, daß die erloschenen Farben in gebrochenen Linien flimmerten. Eine Goldkrone aus Pappendeckel lag auf einem vielfach geflickten Krönungsmantel.

Renate stieß die Tür auf: »Da drin!«

Eine Petroleumlampe blakte und gab ihren üblen Geruch zu den vielen häßlichen Düften dieser Winkelburg, in der das gierige Vergnügen kleiner Leute hauste. Ein eisgrauer Mann saß unter dem Lichtkegel und rechnete. Ein schlanker, fahriger Bursch wühlte in Rollenstapeln, von denen Staub wirbelte und mauszerfressenes Papier in leisem Rascheln rieselte. Der Alte hob den Kopf, und jetzt sah Achatz, daß er rote, versoffene Äuglein hatte und das Hemd eines Wechsels dringend bedurfte.

»Grüß Gott, Renate!« sagte der Alte mit hohlem Pathos, das wie eine kurzatmige Uhr rasselte und krächzend ausschwang. Ein wägender Blick maß wohlgefällig die sichere Eleganz des kleinen Grafen.

»Sie hat Talent, das Mädel ist zu Großem bestimmt,« murmelte er mit verschmitzter Würde, um sich den, wie es schien, zahlungsfähigen Verehrer günstig zu stimmen. Seine Ideale waren längst schmutzig, wie seine Leibwäsche, beide aber legte er nicht ab. Der Glattrasierte mit den Papierbündeln ließ seine Last zornig niederkrachen, daß eine kleine Wolke das Licht verschleierte.

»Kennen Sie ihr Lachen, mein Herr? Das wird man einst mit Gold bezahlen!«

Er schnippte die leeren Finger durch die Luft.

Stumpfsinnig nickte der Alte. Aber die dicken, klebrigen Finger strichen bedächtig die Rechnungen glatt, die eine Operette mit runden Zahlen gefüllt hatte, rund nur für die Kärglichkeit seiner Existenz, die an den Grenzen der Stadt Kunstkreuzer sammelte. Dann watschelte er langsam auf Achatz zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Können Sie mir fünfzig Mark leihen, Herr Baron? Sie ist es wert.«

Achatz griff schnell in die Brusttasche. Staub saß ihm in der Kehle, ein ekelhafter Geruch von Schweiß und Branntwein kroch in die Nase. Er warf die Banknote hin und schob rasch die Hände in die Taschen, weil die schmutzige Tatze des Alten sich zum Dank ausstreckte.

Renate wandte sich um. Ihre Augen brannten im Feuer ihrer Jugend. Ein ganz schwacher Schimmer von Helligkeit umrandete ihr dunkles Haar. Sie lächelte glücklich. Achatz wunderte sich, daß er sie einmal hatte küssen wollen.

»Da werde ich die Lady Milford spielen.« »Hier?« fragte er schafig und sah sich nach einem Sessel um. Zum Glück war einer vorhanden.

 


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