Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Als Jakobe draußen war, lief sie beinahe den Korridor entlang. Dann lauschte sie. Die Speisenordnung für morgen abend knisterte in ihrer Hand, so hastig und schnell sprang das Blut in die kleinsten Äderchen. Im Speisezimmer setzte ein schwerer Schritt sich in Bewegung. Jakobe raffte den Schlafrock und rannte wie gejagt die dunkle Eichentreppe der Halle empor. Auf der Galerie stand sie atemlos still und horchte wieder auf den festen Schritt des Geheimrats, der unter ihr die Zimmer durchmaß. Am Klappen der Türen zählte sie, wie weit er schon von ihr entfernt war. Vom andern Flügel des Hauses klangen diese sicheren Tritte wie ein Stampfen durch die Stille. Jetzt fuhr der Wind wider die Fenster und erstickte jedes andere Geräusch in seinem Pfauchen. Jakobe hatte plötzlich Hunger, sie hatte den ganzen Tag keine Zeit gehabt, ans Essen zu denken. Beim Taufschmaus hatte sie gezittert, daß etwas nicht stimmen, ein Gang falsch serviert oder Wein verschüttet werden könnte. Aber es war alles glücklich abgelaufen. Wenn es nur morgen wieder so ging. In all ihrer Müdigkeit empfand sie beinahe Stolz, daß sie das Haus so geschickt und würdig zu leiten wußte und der anspruchsvolle Geheimrat stets zufrieden war. Jakobe lächelte und schlich wieder behutsam die Treppe hinab. Alles schien ihr auf einmal wunderbar und unwirklich, das große schweigende Haus, das Klatschen der Äste im Garten und ihr eigener unruhiger Herzschlag. Sie huschte ins Speisezimmer und schrak zusammen. Etwas bewegte sich da neben dem braunen Kamin, seufzte tief und trabte heran. Dann lächelte sie. Hund Boabdil hatte sich hereingemacht und zog die warme Kaminecke der kalten Halle vor, wo er sein Schlafplätzchen hatte. Die weiße Weste des schwarzen Bulldogg schimmerte in dem unbestimmten Dunkel. Die klugen dunkelbraunen Augen in dem klobigen Kopf blinkten wie grüner Phosphor, als er Jakobe vertraulich anblickte und nahe an sie drängte. Jakobe drehte eine einsame Glühlampe in dem schweren Kristalluster an, daß seltsam lange, unsichere Schatten durch den großen dunklen Raum fuhren, nahm ein Stück Brot und einen Apfel und begann zu essen, ganz glücklich, daß sie endlich allein war. Boabdil bettelte gravitätisch, ließ aber die Brotstücke fallen und schnappte nur nach den Apfelschnitten. Der Winterwind schwieg im Garten. Jakobe starrte auf den plumpen Hundekopf, als wollte sie fragen: Wer bist du eigentlich? Hast du die Menschen nur lieb, wenn sie dir den Willen tun? Ein schneller Schritt lief draußen über den Gang. Boabdil knurrte und setzte sich auf. Rasch streichelte sie ihn: »Still sein, Bobby.« Aber Hund Bobby bellte kurz.

Der Schritt kam näher. Im Türrahmen stand Heinz und hob die Hand wie ein Dächlein vor die Augen. Seine zerknitterte Hemdbrust schimmerte im Dunkel.

»Was tust du da, Jakobe?«

»Ich habe bloß einen Apfel gemaust.«

Scheu und leise abweisend klang es, doch Heinz trat näher. Kein Williguth ging, wenn man ihn gerade forthaben wollte.

»War ein harter Tag für dich,« sagte er leise und zog einen Stuhl neben seine Frau. Sie nickte nur. Ihr Haar glänzte einen Augenblick auf und sank wieder in Schatten. Plötzlich küßte er sie, wild und herrschsüchtig. Jakobe ließ es geschehen, aber sie erwiderte seine Küsse nicht. Verträumt und bange saß sie da.

»Du warst heute schön, Jakobe.«

Er wühlte in ihrem Haar.

»Ich bin so müde,« sagte sie schlicht.

Er ließ sie nicht.

»Du!«

Es war ein Befehl. Sie rührte sich nicht. Ihr Blut war plötzlich kalt und erschrocken. Heinz Williguth warb nie, er kam stets und nahm. Sie fröstelte bis ins Mark. Boabdil knurrte und betrachtete sie aufmerksam. Wie der Geheimrat, dachte Jakobe und machte sich mit einem Ruck frei.

Zornig griff Heinz nach dem Zettel: »Was hast du da?«

»Morgen sind drei Franzosen zu Tisch.«

»Ach so, wieder Papa.«

Er zerdrückte das dünne Papier. Dann schrie er sie an: »Warum tust du stets, was er will?«

Sein Atem ging schnell und schwer.

Beinahe bitter antwortete sie: »Ich muß doch.«

»Er verbraucht uns alle.«

Bewußt tat sie ihm weh: »Er ist größer und stärker als du und ich.«

Heinz lachte schrill.

Lässig glitt sein Zeigefinger von ihrem Kinn aufwärts und schnellte an der Nase ab: »Na, also –?«

Er ging zur Tür und wartete.

Aber sie kam nicht. Sie warf dem Hund den Apfelrest hin und saß ganz still. Langsam schlenderte sie dann in den ersten Stock, wo ihre Zimmer lagen. Sie war versonnen und todmüde, schier willenlos.

Wieder dröhnte ein Schritt. Sie kannte ihn. Philipp Emanuel Williguth nahm keine Rücksicht auf den Schlaf anderer Menschen. Von der Galerie, die um die Halle lief, tönte dieser Schritt durchs ganze Haus. Du entkommst ihm nicht, grübelte Jakobe und lauschte. Der Geheimrat war im Morgenanzug, gesteppte blaue Seide mit breitem, weißem Kragen, auf dem sein mächtiger Kopf wie auf einer Schüssel lag. Jakobe huschte ihm nach ins Kinderzimmer. An der Tür wagte sie sich nicht weiter und spähte ins Halbdunkel, das ein Nachtlicht nicht besiegen konnte. Philipp Emanuel stand vor dem Bettlein Wittekinds, der mit geballten Fäusten schlief. Unter dem linken Arm hielt er den Plüschaffen der Schirlitz, gequetscht und zerzaust, als sein willenloses Eigentum. Der Geheimrat lächelte. Er sah Jakobe nicht. Er beugte sich hinab und beguckte den kleinen Schläfer. Jakobe schob sich in die Falten des gelben Türvorhangs und hielt den Atem an. Philipp Emanuel küßte das Kind auf die Stirn. Hochaufgerichtet ging er dann in das nächste Zimmer, wo Elias mit seiner Amme hauste. Jakobe aber folgte ihm nicht. Sie schritt langsam den Korridor zurück, an dessen anderem Ende ihre Zimmer lagen. Bitter empfand sie es, daß man ihr nicht einmal die Kinder ließ. Nur gebären durfte sie, ob sie wollte ober nicht. In ohnmächtigem Trotz ballte sie die Fäuste. Von allen Seiten engte dies Haus sie ein.

Flora Schirlitz stieg langsam und dröhnend die Galerietreppe empor. Jakobe eilte davon. An der Ecke zwischen Galerie und Korridor blieb die Schirlitz stehen, brachte die flachen Landsknechtfüße zur Ruhe und bewegte horchend den Kopf. Sie wartete. Ihr feines Ohr fing ein Geräusch auf, das unten vom rechten Flügel kam, wo Heinrich Williguth wohnte. Ein behutsames Tasten und ein beinahe lautloses Schleichen, wie wenn einer vorsichtig im Dunkeln tappt. Hochaufgerichtet stand die Schirlitz, den eigenen, riesengroßen Schatten steif hinter sich, wie ein Wachtposten vor dem Feinde, wie das Gewissen dieses seltsamen Hauses. Das Huschen war in der Halle, die schwere Eingangstür klinkte ins Schloß. Und jetzt schlug Boabadil kurz an. Aber auch er kannte dieses Geräusch um diese Zeit. Er bellte nicht.

Durch den Frostnebel des eiskalten, schläfrigen Januarmorgens schnitten da und dort die alten Kirchen der Stadt. Wie rote Pünktchen im Grau glimmten die Lichter der Häuser am Flußufer. Der Strom war lautlos, halb erstarrt. Rauhreif hing an Baum und Strauch. Und über dem grauen Nebel wirbelte häßlicher schwarzer Rauch aus den Fabrikschloten, wo das Menschenvolk schon seine Arbeit tat. Auf Terrassen stiegen barocke Prunkgebäude über den Kaimauern auf und standen fremd und hochmütig vor dem Rauchqualm des Fabrikviertels.

Heinz Williguth fror. Den Pelzkragen hatte er hochgeschlagen und schritt mißmutig und übernächtigt in den Frostmorgen hinein, durch stille alte Gassen, in denen schmale Häuser mit steilem Dach sich aneinander drängten. Manchmal tauchten die Silhouetten der Giebel aus dem Nebel, ein reichverzierter Erker oder ein altes Holztor mit allerlei Schnitzwerk. Der junge Williguth liebte den Flußnebel, der die ganze Stadt so dicht einhüllte, daß die Gaslaternen in blasse gelbe Kreise verschwammen. Wie durch weiße, dichte Watte ging man dahin, willenlos und ohne Ziel. Das war nach seinem Sinn. Er liebte die Stadt nur, ehe sie erwachte. Alle Möglichkeiten waren da noch frei, ehe die harte Bestimmtheit des Tages Grenzen zog und Zwang setzte. Wie uraltes graues Silber lag der Fontainengarten, in den er jetzt einbog. Die kleinen Seen waren festgefroren, in weißlichem Dampf stieg ihr Atem auf, halb erstickt von den schweren Nebelschwaden. Der Schnee knirschte unter jedem Tritt. Die grauen Sandsteinbilder der großen Allee trugen weiße Fetzenhemden und blickten starr und stumm. Eiszapfen hingen über die Brunnenbecken und an den breiten Mäulern der Delphine. Der dicke Triton trug eine Perücke von Eis und Schnee, die Masken der italienischen Komödie hatten weiße Hauben und grinsten verdrießlich. Heinz blieb stehen und betrachtete ihre erstarrte Lustigkeit. Schier vertraut schienen sie ihm. Sie taten so, als ob sie fröhlich wären.

Das stattliche Haus seines Vaters tauchte aus dem wallenden Nebel. Das schwere schmiedeeiserne Gartentor stand offen, in der Kastanienallee, die zum Hause führte, brannten die Laternen. Rasch schritt er weiter. Plötzlich horchte er und trat schnell hinter einen Baum. Pferdehufe klapperten über den hartgefrorenen Schnee. Des Geheimrats schwere russische Rappen trabten heran. Die Wagenlaternen warfen zuckende gelbe Kegel in das Dämmern. Vorne neben dem glattrasierten Kutscher hockte Hund Boabdil voll Würde und Wichtigkeit. Schnuppernd hob er die Nase. Philipp Emanuels Kopf war hinter der Glasscheibe sichtbar.

Dann wurde es still. Nur der weiße Schnee und der graue Nebel. Und die Krähen strichen zankend von Ast zu Ast. Heinz schlich ins Haus. Niemand sah ihn. Es war sieben Uhr morgens. In seinem Zimmer drehte er den Gasofen auf und das elektrische Licht und saß auf seinem unberührten Bett. Scharf schnitten die Falten zu den Mundwinkeln. Bleischwere Müdigkeit hing um die Augenlider. Gähnend stand er auf und warf den zerknitterten Frack ab. Ein Veilchensträußchen, klein, welk und tot, fiel aus dem Knopfloch. Weinflecken waren auf dem Hemd.

Ein Kinderschrei zerriß die Stille, ein lustiges Krähen, wie von einem jungen Hahn, der den Morgen grüßt. Und noch einmal. Wieder war es still. Heinz lächelte und warf sich der Länge nach aufs Bett. Sein Kind schrie wieder. Er legte die Fäuste vor die Ohren.

Die Rappen des Geheimrats rannten durch die große Allee, mitten durch den Fontainengarten. Ein Barockschlößchen huschte vorbei. Irgendwo bellte ein Hund. Wohlgemut antwortete Boabdil vom Kutschbock. Von den Bäumen sanken Schneebrocken und Eiszapfen. Der Morgenwind tat sein Werk. Philipp Emanuel ließ das Fenster herabgleiten und beugte sich hinaus. Ein neuer Tag. Und er atmete tief. Die Umrisse von Baum und Strauch wurden klar. Am Nebelhimmel war im Osten ein lichter Streif. Dort rang die Sonne um ihr Recht. Die Lichter auf der Brücke brannten noch. Der Nebel stieg auf vom Strom. Die zitternden Brückenlichter schwammen wie silberne und goldene Fischlein im dunklen Wasser. Graue und weiße Schwaden zogen um die Brückenbogen. Überall begann ein Wallen und Flattern, ein Schweben und Fluten in den dichtgeballten Massen. Und der lichte Streif über den Hügeln am Strom schimmerte jetzt gelblich und gleich darauf rosenrot. Da zerrissen die Nebel einen Augenblick. Schlank und fein hob sich die Hofkirche aus dem Weiß, dem Brückenkopf gerade gegenüber. Frei und sicher baute sich der oben durchbrochene Turm auf, in kluger Barockherrlichkeit stieg das Mittelschiff über den Seitenschiffen hoch, die ersten Sonnenstrahlen blitzten über die Sandsteinbilder der Heiligen auf den Balustraden. Da klangen von den vielen Kirchen aus der gewalttätigen Barockzeit und aus den koketten Rokokotagen die Glocken über die Stadt, just als der Wagen über den alten Markt fuhr, immer noch im Nebel. Gedämpft schlug die Morgenfreude dieser vielen Glocken durch die weißen Schleier. Der Atheist Philipp Emanuel, der nur an das kalte Messer glaubte, neigte still den Kopf und saß mit einem feinen Lächeln in dieser Gottesfrühe. Die Bürgerhäuser auf dem alten Markt stimmten ihn beinahe fromm. Convenance und Bienséance war da überall, selbst in der Architektur. Die Rokokoornamentik auf den Stukkaturen war gesund und säuberlich, die Erker an den Ecken schmuckvoll, auf Tragsteinen lagen geschweifte Balkone mit reichgeschmiedetem Gitter. Hinter diesen Haustoren mit Holzschnitzerei und Messingbeschlag war ein behagliches und stetiges Leben. Wie ein treuer Wächter stand der Rathausturm über dieser Bürgerzufriedenheit. Der Nebel huschte um die schlanke Spitze. Gedämpft und verhüllt schien alles Leben. Der Kutscher gab oft den Warnruf, und Hund Boabdil nahm ihn bellend auf. In den Häusern brannte Licht und zitterte gelblich im Nebel. Da drin gehorchten die Kinder den Wünschen der Eltern. Der Geheimrat zog die Brauen zusammen. Ein Arbeiter stand an der Straßenecke und zog tief die Mütze. Philipp Emanuel nickte und blickte zurück. Den Mann hatte er unter dem Messer gehabt, und ihn freute dieser Gruß. In die Heide bogen jetzt die Rappen ein, in die froststarre Herrlichkeit des Birkenwäldchens. Graugelb standen die weißen Stämme gegen den Schnee, die dünnen Ruten glänzten schwarz und biegsam. Die Kiefern und Fichten waren tief verschneit, allerlei wunderliche Formen drängten sich, Pyramiden und dicke Zwerge. In den Rindenfurchen der Eichen liefen milchweiße Adern. Wurzelstümpfe hockten wie verschlafenes Gnomenvolk in dicken Schneepelzen. An den dürren Haselhecken blitzten die Eiszapfen wie funkelnde Diamanten. Weiß verhangen ruhte der Wald, weiß stand der umnebelte Himmel darüber. Wie durch ein liebes Gotteswunder ging die Fahrt. Boabdil ward fröhlich, sprang wie ein Ball vom Kutschbock und jagte durch den Schnee. Er witterte das behagliche Ziel.

Und da lag der »Blaue Herrgott«, das Dach rund und weiß, das Glockentürmchen mit seiner Schneehaube guckte ehrbar wie zu Mönchszeiten von dem alten Klösterlein. Blau aber schimmerte das Haus, ein gutes, lachendes Himmelblau. Geschmackvoll war es nicht, aber althergebracht und fromm. Philipp Emanuel sprang aus dem Wagen, eine schlanke Flasche unter dem Arm. Der pausbäckige Messingengel, der den Glockenknopf bildete, zitterte auf und ab. Ein helles Klingen verlor sich im Haus.

Tag um Tag machte der Geheimrat seine erste Morgenvisite bei den alten Eltern. Die Williguths hingen wie Verschworene aneinander, so mancherlei Wege sie auch das Leben führte. Im Musiksaal, Studier- und Wohnzimmer zugleich, einst Speiseraum der längst vermoderten Mönchlein, saßen die Alten beim Kaffee. Im bauchigen grünen Kachelofen flackerte emsige Glut und spielte auf dem violetten Häubchen der dicken Mutter Apollonia und auf dem kahlen Musikerhaupt des fünfundachtzigjährigen Johann Sebastian, der freundlich dem Sohn entgegenlächelte und dabei drei mächtige, dunkelgelbe Zähne zeigte. Frau Apollonia erhob sich, breit und plump und riesengroß, und schraubte fröhlich die Petroleumlampe höher, ihrem Philipp Emanuel zu Ehren. Schnell goß sie eine dampfende Tasse voll und langte das Morgenblatt von dem alten Klavier, an dem Johann Sebastian seine Kinderschar zur höheren Ehre Gottes in Musik gedrillt und den Stock über manchen widerwilligen Rücken geschwungen hatte. Der Geheimrat atmete tief. Seine Heimat spann ihn in den alten Zauber. Kalt und fremd erschien ihm sein eigenes Haus. Er trank Kaffee und aß alle die dicken Butterbrote, die seine Mutter ihm fürsorglich vorlegte. Von den braunen Schränken an der weißgetünchten Wand glänzten die Messingtäfelchen mit den Namen der Kinder, die einst ihre Instrumente darin verwahrten. Nur ein Täfelchen war stolzer und größer als die übrigen und trug einen Lorbeerkranz mit der Inschrift: Karl Maria Tredenius. Das war der große Geiger, Gundl Williguths Mann. Johann Sebastian schmauchte seine Pfeife und philosophierte aus blauen Rauchwolken über die Taufe des kleinen Elias, der er ferngeblieben, weil der Senior der Williguths nicht einem Prinzen den Vortritt lassen konnte. »Aber morgen komme ich, Philipp, hab' auch etwas für den Kerl. Hat er bloß tüchtige Knochen?«

»Gott, so'n armes Würmchen, das man der fremden Amme ausliefert,« seufzte Apollonia und verschluckte mit einem Blick auf Philipp Emanuel den Nachsatz.

Johann Sebastian knurrte dazwischen: »Daß die Jakobe in sechs Jahren nur zwei Kinder hat.«

Er schüttelte den kahlen Kopf, als ginge es wirklich zu Ende mit den Williguths. »Bei so Gräfinnen ist das wohl Mode,« sagte Frau Apollonia und machte kugelrunde, zürnende Augen, »ich muß schon sagen, Philipp Emanuel, du duldest allerhand Moden in deinem Haus.«

»Hm,« meinte Johann Sebastian und klopfte mit der Pfeife ein paarmal an die Kaffeekanne, »ich sage auch immer zu Mutter, siehst du, da liegt der Hase im Pfeffer.«

Und plötzlich holte er mächtig mit dem Arm aus und zog die große, ein wenig gewaltsame Geste aller Williguths, wenn sie gerade dran waren, dem Herrgott und den Menschen wohlerwogene Grenzen abzustecken. Ein haarfeiner Aschenregen stäubte in die Runde.

»Ja, Philipp Emanuel,« legte die Mutter jetzt los und eilte über Worte und Sätze hin, wie ein Schulkind über eine längst gelernte Lektion, »Vater und ich, wir wundern uns über dich. Deinen Schwestern hätte ich das wohl niemals gestattet. Und die halten es ebenso mit ihren Töchtern. Jakobe gibt uns allen ein Ärgernis damit. Sei still, Vater, jetzt rede ich mit Philipp Emanuel. Ist es dir denn nicht vor den Dienstboten peinlich, daß Heinz im Erdgeschoß wohnt, ganz allein, und Jakobe hat ihr Schlafzimmer im ersten Stock? Soll das eine Ehe sein? Das nimmt noch ein schlimmes Ende, Philipp Emanuel. Du hättest es damals nicht zugeben dürfen, als Jakobe es mit den Mucken kriegte und plötzlich oben schlafen wollte. Solch neumodischen Unsinn unterdrückt man beizeiten.«

Atemlos hielt sie inne und guckte über die Brille weg ein wenig ängstlich nach dem Geheimrat und zornig nach Johann Sebastian, der sie feige im Stich gelassen und angelegentlich die Glut im Kachelofen schürte. Der Geheimrat legte methodisch und langsam die Zeitung zusammen und falzte sorgsam die Büge glatt. So hatte er vor fünf Jahren schweigend und mit schwerer, stetiger Hand den ersten bösen Riß in Heinz' und Jakobes junger Ehe aus der Welt gestrichen, ohne Skandal, ohne häßliche vulgäre Szenen. Nicht einmal das dralle flachsblonde Hausmädchen hatte Lärm geschlagen, als man sie plötzlich entließ. Jakobe machte ja nie viel Worte, lief auch nicht aus dem Hause und klatschte bei Mama, das lag nicht in ihrer verschlossenen, etwas starren Art, aber Philipp Emanuel hatte damals doch nicht gewagt, ihr die Zimmer im ersten Stock zu verweigern, die sie scheinbar gelassen für sich forderte. So ward Heinz als des Vaters Befehl verkündigt, was Jakobes Bedingung war. Philipp Emanuel liebte es nicht, an diese Dinge gemahnt zu werden. Der bittere Nachgeschmack der Niederlage von einst, die er schnell und geschickt in einen Sieg verwandelt, war heute noch ebenso bitter.

Gleichmütig steckte er die Zeitung ein und sah seine Mutter mit einem Lächeln an, das ganz ohne Heiterkeit war: »Das Ei ist allemal klüger als die Henne, Mütterchen, also wollen wir uns damit zufrieden geben.«

Und jetzt beschrieb sein Arm die große abschließende Geste. Ein wenig verlegen und voll leiser Mißbilligung schüttelte die alte Apollonia den Kopf und beguckte aufmerksam die Flasche schweren Burgunders, die der Geheimrat auf den Tisch stellte. »Hoho, das ist wohl für meine Gicht? Wartest du schon auf mein Erbe?« scherzte Johann Sebastian und kniff lustig die Augen ein. Nach einer Weile zündete er ein zweites Pfeiflein an und schlug den Sohn vergnügt auf die Schulter: »Laß dich's nicht anfechten, mein Junge, heute sind's zwei, – es werden schon mehr werden, wenn der Herr seinen Segen dazu gibt. Und Witte ist ein echter Williguth. Elias soll dem Bruder nur nachwachsen.«

Viel Stolz und Trotz lag in dieser Anerkennung. Der Geheimrat lächelte und stand auf zum Abschied.

»Also morgen komme ich,« sagte Johann Sebastian zwischen seinen drei gelben Zähnen, und wieder begleitete eine unnachahmliche Bewegung diese Worte, als hätte er alle Schätze des reichen Arabien zu verschenken.

 


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