Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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In den ersten Julitagen regten sich alle Hände im »Blauen Herrgott«.

Korb an Korb standen die glashellen, hochroten Johannisbeeren in der Küche, deren behagliche Geräumigkeit noch an den guten Appetit der Mönchlein erinnerte, die einst hier gehaust hatten. Die heiße Sonne lag breit und gemächlich im Fenster und sah auf allerlei bewegliches Weibsvolk, das in weißen und bunten Schürzen Hantierung trieb. Rosenrot spritzte der Saft, und die klebrigen goldgelben Kernchen schnellten an die weiß und blau geschachten Wände. Frohes Schaffen ward da getan in heiterem Farbenspiel, zu dem der glutheiße Herd aus seinen offenen Feuerlöchern roten Schein spendete, wenn eine schnelle Hand die schweren Kasserollen abhob. Flinke Finger und starke weiße Arme, gleich tüchtig zum Umhalsen und zur Arbeit, griffen wacker zu. Die Frauen der Williguths waren am Werke. Und es war kräftiges Weiberfleisch, das da rumorte und schaffte. Über schweren Brüsten strafften sich die langen Schürzen, und auf stolzen, wohlgenährten Gesichtern perlte der Schweiß. Drei Generationen weiblicher Williguths hatten hier Heerlager, überwacht vom Feldherrenblick der alten Apollonia.

»O Gott, o Gott,« seufzte die Uralte und schaute hinter der dicken Brille bekümmert auf ein rotgewürfeltes Küchentuch, mit dem sie ein wassergrünes Dunstglas ums andere aus dem großen Korb zu ihrer Linken emsig trocken wischte und in Reih und Glied auf den langen, weißgescheuerten Tisch setzte.

»Schon wieder ein Loch. Dieses neumodische Gespinst taugt auch gar nichts. Nun ist das Dutzend kaum sieben Jahre im Gebrauch!«

Alle Williguths hielten ihre Sachen peinlich nett, aus angeborener Sparsamkeit und weil sie jeden Gegenstand schon durch den Gebrauch ihrer Hände gleichsam heiligten und ehrwürdig machten. Die dicken Töchter von Gundl Tredenius wandten ihre roten Gesichter lachend vom Herd und trockneten den Schweiß mit seinen Batisttüchelchen, die wie weiße Läppchen in ihren plumpen Händen wehten.

Apollonia schob entrüstet die Brille hoch: »Lacht nicht, Minna und Linchen! Ihr habt beide noch in Onkel Giacomos Windeln gelegen, die meine Mutter selig selbst gesäumt hat. Das war eben noch 'ne Leinwand.«

Grämlich streckte sie das schadhafte Tuch weit von sich, als hielte sie diese ganze verdammte Schwindelzeit in der Hand. Die beiden jungen Frauen prusteten.

Wenn Großmutter ärgerlich war, kamen stets Onkel Giacomos Windeln an die Reihe. Und sie wunderten sich immer aufs neue, daß ihre jetzt so stattliche Leiblichkeit einst darin Platz gefunden haben sollte. Und nun hatten sie selbst längst Kinder aus den Windeln gepackt und auf die derben runden Beine gestellt. Die wundersame und ewige Mannigfaltigkeit des Lebens trat in solchen Augenblicken auch vor ihre einfachen Seelen. Sie waren stolz, fruchtbare Frauen zu sein, hell und stark und ohne Nerven, wie die Williguthsche Weltanschauung es von ihnen forderte.

Rosenrot spritzte der Saft aus den glashellen Beeren, aus den mächtigen brodelnden Kasserollen dampfte der Geruch von heißem Zucker und siedendem Obst. Es war, als hätten die handfesten Weiber den lachenden, schwellenden Sommer draußen gepackt und überwältigt und schmorten ihn jetzt beharrlich und sorgsam an ihrem Feuer, auf daß der karge Winter mit wohlabgewogenen Portionen von Süße und Fröhlichkeit versorgt sei.

Gundl Tredenius lief zur Tür und spähte hinaus: »Kein Mannsbild zu sehen. Gottlob! Die Hitze ist mir zu arg!«

Schnell zog sie die Bluse aus, stand mit weißen Schultern in ihrer großen Trägerschürze und spannte die Muskeln der nackten Arme, daß der Beerensaft rings um den breiten Holzschwamm aufsprang. Das riesengroße Sieb ächzte und bog sich unter dem schweren, gleichmäßigen Druck.

Ein häßlicher vierschrötiger Backfisch schürzte die dünnen Lippen, daß man die vielen Goldplomben an den großen gelben Zähnen recht deutlich sah.

»Gott, wie ihr euch da alle plagt, Tantchen,« sagte sie und schob eine Handvoll Johannisbeeren samt den Stielen in den Mund, »bei uns machen das alles die Maschinen.«

Und sie blickte geringschätzig auf das emsige Werk, eine echte Williguth. Was sie selbst für gut und empfehlenswert hielt, mußte es auch für alle Welt sein.

Mutter Apollonia aber tadelte spitz: »Wenn auch dein Vater der Hofzuckerbäcker Robert Williguth ist, mausig brauchst du dich deshalb noch lange nicht zu machen, mein liebes Kindchen. Und euren künstlichen Konditoreisaft, mit Raupen und faulen Beeren drin, möchte ich nicht einmal gegen Husten einnehmen.«

Die Williguthschen Frauen nickten einmütig Beifall. In dieser Familie wurde man niemals ganz mündig. Erst wenn der Sargdeckel zuklappte, ließen diese harten Finger vom Zupacken. Wie unter dem Schwert standen sie alle unter dem Familienrecht, das die Alten übten.

Robert Williguths sommersprossige Jüngste aber war offenbar noch zu dumm, diese weise Einrichtung der Weltordnung richtig zu würdigen. Sie glaubte noch an das Recht ihrer eckigen Jugend. Drum knixte sie spöttisch und warf krachend die Tür ins Schloß.

Apollonia wischte zornig an ihrem Glas: »So'n Kiekindiewelt!«

»Na, weißt du, Großmama,« schwatzte Linchen Krusemann geschäftig und schlug mit der silbernen Gabel den Takt dazu, statt die Johannisbeeren von den Stielen zu streifen, »bei Geheimrats finden sie unser Einsieden wohl auch unter ihrer Würde.«

Triumphierend sah sie sich um. Gymnasiallehrer Krusemann wurde von Philipp Emanuel stets mit gnädiger Überlegenheit behandelt, und das verdroß seine Frau mehr als ihn selbst.

Gundl Tredenius stieß ärgerlich den Holzschwamm auf und nieder: »Aber, Line, sie sind doch alle verreist!«

»Ja, Mama. Aber verreist man, ehe man eingesotten hat, frage ich? Hast du es jemals so gehalten, Großmama?«

Drohend schwang sie ihre Gabel wider solche Verletzung von Brauch und Herkommen.

»Unsinn,« brummte Apollonia, die niemals über die Grenzen der Stadt hinausgekommen war. Knappe Einkünfte und die vielen Kinder banden sie an den »Blauen Herrgott«. Und später, als die Kinder in Amt und Würden einrückten, war sie zu alt und zu bequem. Veränderungen aller Art fielen ihr überhaupt schwer auf die Seele.

»Wir sind so, und die sind anders,« entschied sie dann übellaunig. Wie kam die dumme Krusemann dazu, an Philipp Emanuel zu mäkeln?

Aber Minna Vogel, die schöne und füllige Fabrikantensfrau, die gern mit dem Geld ihres Mannes auftrumpfte, sprang eifrig der Schwester bei: »Gott, natürlich, Jakobe rührt nicht an so etwas. Die wird doch nicht.«

So deutete sie zartsinnig an, daß auch sie es ganz und gar nicht nötig hatte. Und dann setzte sie ihre freiwillige Hausfrauentugend noch besser ins Licht: »Na, überhaupt, darüber wäre noch viel zu sagen. – – Ich möchte nur wissen, wer jetzt in der Villa abstaubt?«

Großmama Apollonia war plötzlich Feuer und Flamme. Nach gutem alten Brauch fegte und scheuerte sie noch den ganzen Tag, trotz ihrer zweiundachtzig Jahre.

»Wenn nur der schöne teuere Teppich im Salon nicht voll Motten sitzt. Man müßte da wohl einmal gründlich nachsehen.«

Bitterböse funkelte sie jetzt ihr Dunstglas an. Linchen putzte unartig mit ihrer Gabel die Fingernägel und wunderte sich insgeheim, daß ihr Vater nicht plötzlich hinter ihr stand und ihr die Gabel zornig aus der Hand schlug. Er brachte ja auch Krusemann, der am liebsten in Hemdärmeln bei Tisch saß, regelmäßig den Rock und hielt gefällig die Ärmel auseinander.

»Ach, Großmütterchen, da gäbe es manches, das man nachsehen müßte. Diese großartigen Allüren! Ich finde es protzenhaft. Papa ist doch schließlich auch jemand. Aber ihr wißt ja alle, wie kurz er Krusemann hält. Nicht mal den Druck seiner Gedichte will er bezahlen. Und es sind doch so hübsche Sachen darunter.«

Sie seufzte vernehmlich. Apollonia aber hielt nichts von Gedichten und begriff vollkommen, daß man für solchen Kram kein Geld hinauswerfen wollte. Außerdem war sie auf den Geheimrat unmäßig stolz, wie eine Henne auf ihr bestes Küchlein. So sagte sie nur scharf: »Wirf mir bloß die ekligen Stiele nicht unter die Beeren!«

Und verdrossen ließ sie die Gläser klirren.

Aber Linchen spann eigensinnig ihren Faden weiter: » Meine Kinder bleiben eben hier, bis ich mit ihnen nach Bad Schachen gehe, trotzdem Haraldchen und Emmi Keuchhusten hatten. Natürlich, sie mit der Hausdame nach Zoppot schicken, das können wir uns nicht leisten.« Ein erpresserischer Williguthblick flog zu ihrer Mutter. Aber die zeigte nur lachend die weißen Zähne. Da geriet die Tochter in zornigen Eifer: » Mein Schwiegervater nimmt mich auch nicht mit nach Schottland zu einem unverheirateten Lord. Krusemann findet es unsagbar unpassend. Nun, wir denken eben über manches anders. Jakobe läßt die Kinder allein mit der Schirlitz. Schließlich ist die doch auch nur ein sehr gut bezahlter Dienstbote!«

»Jetzt schweig endlich still!« zankte Apollonia, der Lord Darcy in Schottland gewaltig ins Auge stach, »soll Jakobe vielleicht rasch zurückkommen, weil Line zu faul ist, die Beeren zu putzen?«

»Jakobe hat sich auch letzten Sommer von unseren Johannisbeeren gedrückt, weil Elias damals unterwegs war. Linchen hier ist im vierten Monat und hilft doch tüchtig mit,« verteidigte ein klein wenig rachsüchtig Gundl Tredenius, die ihr Leben getreulich zwischen den Launen ihres Mannes und den zahlreichen Wochenbetten der Töchter teilte und gar nicht daran dachte, daß es überhaupt anders sein könnte. Da gerade niemand die reiche, fleißige Minna lobte, tat sie es selbst: »Na, und ich! Wo ich doch Lottchen stille! Den ganzen Tag stehe ich hier am Herd.«

Und Linchen fiel sofort ein: »Ach, Minna, wenn die Jakobe in sechs Jahren endlich das zweite Kind bekommt, so ist das eben viel großartiger, als wenn du in drei Jahren drei oder ich in vier Jahren vier Kinder habe.«

Auf ihre Kinder taten sie sich etwas zugute, auch das war Besitz. Apollonia schmunzelte vergnügt über die große Schar der Williguths, die da rings um ihr Alter heranwuchsen. Nur daß nicht alle wirklich Williguth hießen, kränkte sie. Drum haßte sie auch Krusemann und Vogel und die anderen, so sehr diese Wackeren auf eheliche Vermehrung bedacht waren.

Die Schwestern erkannten klug ihren Vorteil, und Minna brach mit bedeutsamem Augenrollen los, als müßte sie einen Stein vom Herzen wälzen: »Ich sagte erst gestern zu meinem Ernst, wenn ich Jakobe wäre, ich ließe Heinz nicht solange allein.«

Jetzt steckten alle die großen, starken Williguthfrauen die Köpfe zusammen. Da war etwas, das sie alle betraf. Ein dunkles Tappen im Ungewissen machte diese ganz auf Tag und Herkommen gestellten Menschen irre. Wie Riesinnen ein Menschenkind, beguckten sie jetzt voll Neugier und Besserwissen Heinz Williguths Wesen, das anders war als sie selbst und ihre fröhlichen und derben Männer. Bekümmert und ein wenig überlegen blickten sie und hatten Angst vor dem mitleidlosen Wort, das ihnen allen auf den Lippen saß. Apollonia ließ sogar die wassergrünen Gläser ruhen und schob sorgenvoll die Brille auf die noch immer glatte Altweiberstirn. Gundl schlang die weißen Finger ineinander, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. Auch mit Karl Maria war es ein hartes Stück Arbeit gewesen. Doch der hatte wenigstens keinen Philipp Emanuel zum Vater. Die anderen Frauen aber standen ratlos vor Heinz Williguths irrlichternder Art und gaben heimlich seiner toten Mutter alle Schuld. Von seiten der Williguths konnte nichts Schlimmes stammen. Alle die großen blauen und grauen Augen starrten einander traurig an, wie gute, treue Tiere, denen die Sprache fehlt.

Endlich sagte Gundl Tredenius gedrückt: »Er hätte nicht auch Mediziner werden sollen.«

Aber da hatte sie es schon mit der Mutter verdorben

»Wo das soviel schönes Geld bringt?« greinte Apollonia und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

»Ich begreife dich nicht, Mama. Krusemann wäre glücklich, wenn er nur ein Zehntel davon hätte,« erklärte die bescheidene Lina. Und eine andere Williguthtochter, die es nur zu einem Kanzlisten und sieben häßlichen kleinen Mädchen gebracht hatte, stimmte eifrig zu und strich wehleidig über ihren feisten und fruchtbaren Leib, als wüßte sie nicht, wie sie diesen gefräßigen Gebieter ernähren sollte. Weil sie arm war, durfte sie sonst niemals mitsprechen. Sie galt nur wenig im Hause der Williguths, trug aber geduldig ihr Los und suchte emsig Jahr um Jahr nach reichen Taufpathen für das jeweilige Jüngste. Gundl schnippte geringschätzig mit den weißen, runden Fingern durch die Luft: »Ach, was!«

Dann horchten alle auf.

Ein Klavier wurde gehämmert, zwei zornige Männerstimmen krachten darein.

Apollonia griff nach dem Wischtuch und rückte die Brille vor die Augen, weil das wortlose Grübeln vorüber war und der Alltag wieder sein Recht bekam.

»Er hat noch immer eine gesunde Stimme.«

Sie schmunzelte behaglich und hatte rosenrote Backen, weil der Eheliebste so mannhaft und gewaltig schrie, daß die Fenster klirrten. Heinz Williguth war vergessen.

Türen flogen auf und zu, und da stand Johann Sebastian im grauen Schlafrock, ein schwarzes Käppchen mit goldener Quaste schief auf dem kahlen Scheitel, und schwang zornig die Arme wie Windmühlenflügel.

»Habt ihr die Katzenmusik gehört? Aber Tredenius findet es richtig. Es ist zum Haarausreißen!«

Seine Faust traf aber bloß das Hauskäppchen, das ballte er zusammen und warf es mit kurzem Ruck mitten unter die Frauen. Ruhig bückte sich Gundl, glättete die Falten und gab das Mützchen dem Vater zurück. Der knurrte sie an: »Dein Mann, na, das ist schon der Richtige.«

Gundl sah ihn groß an und straffte unmerklich den Leib, aus alter Gewohnheit, wie sie schon als Mädchen Karl Maria vor Johann Sebastians Grimm verteidigt hatte. Sie wußte jetzt gar nicht, daß er längst für sich allein einstehen konnte, selbst bald ein Fünfziger, trotz seiner jugendlichen Behendigkeit, die er durch gar nicht Williguthsche Kasteiung erhielt.

»Was hat er denn getan?« fragte sie gutmütig und schaffte dabei emsig weiter.

»Viel zu schnell nimmt er das Tempo. Soll das überhaupt noch Musik sein, frage ich?«

Er spreizte sich wie ein alter Kampfhahn, dem ein Eindringling ins Gehege kommt.

»Freilich, er und die Komtesse Forcade, die haben's weg. Wissen alles besser als ich eisgrauer Kerl.«

Wieder kam die Abwehr der Williguths gegen alles Fremde zum Vorschein. Streng schaute er sich um, ob niemand widersprach. Dann nickte er befriedigt.

Im Musiksaal des »Blauen Herrgott« schritt der Geiger Tredenius über die goldenen Vierecke, welche die Sonne auf den blanken Holzboden zeichnete. Er trug einen weißen Seidenanzug und ein lichtgrünes Hemd mit weißer Krawatte, gepflegt, sommerlich und ein bißchen stutzerhaft. Die braunen Augen waren noch heiß vom Wortstreit mit Johann Sebastian. Vor dem Klavier saß Renate Forcade und hatte müßig die Hände auf die Tasten gelegt. Gelangweilt starrte sie geradeaus. Diese Musikstunden, zu denen ihre Mutter sie zwang, um sie während der Schulferien für eine Weile los zu sein, tat sie nur mit Zähneknirschen ab. Und das selbstgerechte Besserwissen des Regens chori erbitterte sie noch mehr. So stampfte ihr Fuß leise den Takt zu ihrem Zorn. Zusammengeduckt hockte sie wie ein junges Raubtier, das gerade geprügelt wurde. Sie war jetzt gar nicht hübsch, alles im Werden und Wachsen, zuviel und zuwenig auf einmal. Nur in ihr reiches, dunkelbraunes, jetzt endgültig hochgestecktes Haar spann die Sonne ihr Flimmern.

Karl Maria blieb stehen und schaute verstohlen nach Renate, die ihm noch immer stumm ihren Katzenbuckel zeigte. Dort, vor diesem alten Klavier war einst Miriam Italiener gesessen, genau so kratzbürstig und eigensinnig. Schnell fügte er Jahr an Jahr und baute für einen Augenblick seiner Jugend goldenes Haus. Lächelnd schüttelte er den Kopf und mochte nicht glauben, daß dreißig Jahre darüber hingegangen waren. Leise rief er: »Renate!«

Sie wies ihr verdrossenes Gesicht mit dem Katzenlauern hinter den dichten Wimpern. Hochmütig und trotzig lag der schwere Mund. Karl Maria fand Zug um Zug die Mutter wieder und das Wunder der ewigen Wiederkehr, just im »Blauen Herrgott«.

Heiß stand die Sonne vor den Fenstern, in ewiger Jugend, und der Staub zitterte goldig in ihrem Licht.

Nachdenklich hielt der Mann die offene Hand vor sich hin und starrte auf das feine Faltenwerk. Fast befehlend sagte Renate Forcade: »Du gibst mir doch recht.«

Er schwieg noch immer. In seinen Augen war die Angst vor dem Alter, das er zögernd und langsam an dieser heißen Jugend maß. Renate atmete schnell. Dann schüttelte sie die lastende Stille ab und trabte unbarmherzig mit knarrenden Schuhen in die hellen Sonnenvierecke hinein, die Hände auf den Rücken gelegt, etwas enttäuscht von Karl Marias onkelhaft melancholischer Miene.

»Ich will dir etwas sagen.«

Aber es war mehr mißtrauische Angst als kecke Sicherheit.

»Ich weiß es schon.«

»Du?!«

Er hatte wieder sein altes, weltvergnügtes Lächeln, mit dem er alle Williguths in Harnisch brachte.

»Ja, du nimmst heimlich Schauspielunterricht. Ich bin dir einmal nachgegangen, Mädel.«

»Du wirst schweigen, Karl Maria!«

Er kannte diesen gewalttätigen Ton. Die Miriam hatte ihn auch gehabt. In seiner reifen, sorglich wägenden Beschaulichkeit staunte er jetzt, daß dies junge Volk immer von neuem alles auf eine Karte setzte. Er hatte bedenkliche Zweifel für diesen hitzigen Glauben an sich selbst, anders als einst, und begriff, warum die Alten den Jungen Widerstand leisteten. Die Narben brannten noch und erzählten von verlorenen Schlachten. Über den wenigen Siegen aber lag der Staub. Steif und ein wenig mißgünstig stand er und ließ Renate warten.

Trotzig stemmte sie die Arme in die Hüften und nickte gleichsam ihrer eigenen Entschlossenheit zu.

»Also mit dir ist es auch nichts.«

Sie war ganz jung und lebte nur zwischen Ja und Nein. Er aber erkannte an dieser schnellen Abkehr sein eigenes Altern.

Als Renate dann später mit den erhitzten Frauen der Williguths um den reichbesetzten Mittagstisch saß und kräftig schmauste, suchte sie vergeblich in den wohlgenährten Gesichtern die Funken, die unruhig und befremdlich in ihrem eigenen Blut knisterten. Als sie so gar nichts als mahlende und kauende Kinnbacken vor sich hatte, und das Alltagschwatzen wichtig und eintönig fortplätscherte, warf sie hochmütig den Mund auf und zog den Mantel ihrer Einsamkeit mit pharisäischem Wohlgefallen um die Schultern. Das dumme Gerede über das Einsieden der Johannisbeeren und das Zähnekriegen der Kinder verdroß sie. Linchen Krusemann holte sich einen großen Happen Kalbsbrust mit Wachsbohnen und fragte, den ersten Bissen im Munde: »Was hört man von Onkel Friedemann?«

»Ach Gott, ich weiß nicht so recht. Albine schreibt ja nur Gutes aus Konstanz, aber Friedemann hat noch immer das Zittern im Arm. Er war immer mein Sorgenkind.«

Apollonia ließ in der Angst um ihren Jüngsten sogar Messer und Gabel ruhen.

»Krusemann ist auch oft sehr nervös,« bemerkte wichtig die leicht gekränkte Gattin des Trefflichen.

Da lachte Karl Maria in derbem Spott: »Er soll das Dichten lassen!«

Und ärgerte sich sogleich über den trockenen Philisterton in seinen Worten, weil ihm auch dies ein Alterszeichen schien.

Linchen verdrehte vorwurfsvoll die Augen: »Kannst du das Geigen lassen, Papa?«

Aber es blieb wie ein Schatten auf allen, daß einer von ihnen nicht so gesund sein sollte, wie es in dieser gliederstarken Familie Brauch war. Krankheit hielten sie für eine Bosheit, die ihnen das Schicksal antat. Hatte mal einer Katarrh, rückten alle mit erprobten guten Ratschlägen an und saßen im Kreise, wie Leuchten der Fakultät.

Renate legte sich unartig über den Tisch: »Habt ihr schon den Geheimrat gefragt?«

Johann Sebastian hatte noch immer das heimliche Grollen in der Stimme: »Sitz' gerade, Renate!«

Und dann erst sagte er ziemlich gleichgültig: »Philipp Emanuel hat ja unsern Friedemann nach Konstanz geschickt.«

Mit seinen fünfundachtzig Jahren achtete er jedes Kranksein gering und hielt es für müßige Einbildung, und gar erst beim Superintendenten, der törichterweise seine rollende Predigt hartnäckig über die Kirchenmusik setzte und seinen Regens chori zum Zorn Johann Sebastians als geduldeten Himmelsnarren behandelte. Noch immer teilte der »Blaue Herrgott« die Menschen in musikalische, denen alles Glück in den Schoß fliegen mußte, und in unmusikalische, die mit dem, was von der Tafel fiel, vorlieb nehmen sollten. Jedem Williguth saß so die angeborene Haut wie ein Panzer, der kein Hinauswachsen erlaubte.

Renate Forcade aber hatte eine Mutter, die aus muffiger Enge das weite Leben erobert hatte und deren Nerven auf jeden leisen Reiz ins Schwingen kamen, das gab ihr die Lust am Widerspruch.

»Habt ihr auch schon Heinz Williguth gefragt?«

Jetzt wartete sie auf den Sturm. Aber kein Williguth nahm die Keckheit eines jungen Mädchens ernst. Nachsichtig ging ihr sattes Lächeln darüber fort. Gutmütig und überlegen stießen sie sich an und nickten einander zu. Das war eine, die wie der Wind in ihre festgefügte Ordnung wirbelte. So eine, die man schmunzelnd in den Winkel stellte und feierabendmal als Kuriosum beguckte.

Renate fühlte, wie jede Waffe an der Hornhaut dieser Zufriedenen abglitt und stumpf wurde. Sie warf schnell und verstohlen Karl Maria einen bitterbösen Blick zu, weil auch er ihr nicht half. Und mit der Grausamkeit der Jugend stellte sie fest, daß viele Fältchen unter seinen Augen liefen und daß die schöne weißseidene Weste bedenklich geschwellt war. Plötzlich dachte sie an ihre Mutter, die täglich zankte, bis das Korsett richtig saß. Stolz räkelte sie sich auf.

Frau Apollonia schob geräuschvoll einen Teller über den andern: »Wenn Philipp Emanuel einmal gesprochen hat, liebes Kind, braucht man doch seinen Sohn nicht mehr zu fragen.«

Gundl Tredenius faltete langsam ihre Serviette: »Heinz ist doch auch jemand.«

»Seines Vaters Sohn, ja, das ist er,« entschied Johann Sebastian und wünschte allseits gesegnete Mahlzeit.

Und die Williguths schmunzelten zum Witz ihres Oberhauptes.

 


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