Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Auf der Klinik des Geheimrats war Abendvisite. Schückedanz zog die altmodische Uhr, die sein Vater ihm zur Doktorpromotion geschenkt, und starrte unwillig auf die schwarzen Zeiger. Seufzend schob er dann die Uhr zurück und stand schwerfällig auf. Auch die alte Wärterin schüttelte den Kopf und schielte bekümmert nach der Tür. Aber bei Philipp Emanuel war man wortkarg wie der Chef. Die diensthabenden Arzte tuschelten und dehnten sich dann gähnend in der leisen Langweile dieses Regentages.

»Er kommt heute nicht mehr,« murmelte Schückedanz und gab sich einen Ruck, wie ein Pferd, das die Muskeln in den Sielen spannt. Bedachtsam und genau tat er das Werk, das eigentlich Heinz Williguths Sache war. Aber der war wohl jetzt daheim mit seiner Arbeit beschäftigt. Er hatte hitzige Tage, an denen er gar nicht rastete, dann wieder Bummelzeit, in der er nur müßig im Fenster lag und die Krankenwagen zählte, die da ein- und ausfuhren.

Als Aurelius heimging, einen großen flachen Schirm über seine feiste Leiblichkeit gespannt, wie ein Pilz, der im Regen aufwächst, traf er im Hof einen alten, gichtkrummen Professor, der, längst pensioniert, noch immer seine Zeit im Krankenhause verbrachte und freiwillig überall half, ob auch die anderen grimmig auf sein ewiges Besserwissen blickten. Der rief Schückedanz an und schwang einen triefenden Schirm zum Gruß: »Hab' eine Karte von Ihrem Chef.«

Stolz klopfte er auf die Brusttasche und drängte den höflichen Aurelius mitten in eine aufspritzende Pfütze. Dann fragte er kurz: »Wie macht sich der Junge?«

»Hat alle Hände voll Arbeit.«

Schückedanz wurde rot.

Aber der andere merkte nichts und sah über den Schirm des Kleinen weg: »Dem Alten reicht er doch nicht das Wasser.«

Und das gichtkranke Bein stapfte unverzagt durch den spritzenden Kot. Schückedanz warf sich in die Brust. Auf Haus Williguth durfte kein Schatten bleiben.

»Na, passen Sie nur auf!«

Und er ließ so alle Möglichkeiten offen. Dann ging er trotz des Regens durch den Fontainengarten, guckte nach Licht aus und lächelte, als zwei Fenster gelblich ins Dunkel schimmerten. Dahinter saß Heinz Williguth. Schückedanz schlug befriedigt den Heimweg ein. Alles schien im besten Geleise.

Aber nur bis zum nächsten Morgen. Denn da hatte er eine heftige Halsentzündung weg und konnte seinen Grimm darüber nicht einmal hinabschlucken, so enge und so verschwollen war seine Kehle. Bekümmert standen der ehrsame Kantor von St. Pankraz und seine Schwester, die den beiden Männern die Wirtschaft führte, vor dem Krankenbett. Polykarp Schückedanz war ein dürres, schüchternes Männchen mit großen, erstaunten Kinderaugen, voll übereifriger Höflichkeit gegen jedermann, um nur um Gotteswillen keinen Menschen zu beleidigen und ungefährdet auf lautlosen Sohlen durchs Leben zu huschen. Johann Sebastian Williguth hatte mit diesem armseligen Diener Gottes sehr leichtes Spiel. Der tat alles, was ein stärkerer Wille von ihm verlangte, und wunderte sich schließlich noch, daß er nicht selbst auf diesen guten Einfall gekommen war. Jungfer Sabine dagegen war rundlich und wohlgeglättet wie eine Billardkugel, bewegte sich hurtig und sicher und hielt alle Fäden fest in der Hand.

An diesem Morgen mußte Aurelius auf der riegelsamen Tante Geheiß tüchtig mit Lakritzensaft gurgeln, immer wieder, bis er ganz blaurot im Gesicht war. Dann verlangte er mit matter Stimme ein warmes Aschensäckchen um den Hals, denn Geheimrat Williguths erster Assistent, der schnitt und sägte, daß es eine Art hatte, war um sein Leben gar besorgt und bekam Schweißtropfen auf der Stirn, wenn er an den Tod bloß dachte. Und heute war sein Kummer doppelt schwer und drückte ihm schier den feisten Rücken krumm.

Die Klinik stand verwaist.

Nur Heinz Williguth war verfügbar, und Schückedanz trug die volle Verantwortung in Abwesenheit des Chefs. Ratlos ließ er die kurzen Finger über das bunte Deckbett spazieren, worüber sein Vater weidlich erschrak, weil er diese fatale Bewegung schon für das Pflücken der Todesblumen hielt. Dann richtete sich Aurelius entschlossen auf und verlangte Schreibmaterial. Auf einer alten, schweinsledernen Bibel als Unterlage schrieb er seine Verfügungen für den Tag und kündete regelmäßig solche Schriftstücke für die Zeit seines Krankseins an. Alles war hübsch und klar nach Gesichtspunkten geordnet, daß man leichten Überblick hatte. Sein Ordnungssinn frohlockte in aller Kümmernis.

So erhielt Polykarp Schückedanz den Auftrag, Brief und mündliche Bestellung in die Klinik zu tragen, und geriet darob in nicht geringe Verwirrung. Seines Sohnes blutiges Handwerk schien ihm noch immer Greuel und Vermessenheit vor Gottes Allmacht. Was sterben sollte, starb nach unerforschlichem Ratschluß. Die Glocken läuteten dann, und durch die Stille von St. Pankraz schwebte ein schwermütiger Trauerchoral. Aber Aurelius hatte keine Demut. Vorwitzig war sein Tun und ohne die rechte Frömmigkeit.

Polykarp holte seufzend den schwarzen Leibrock und bürstete jedes Stäubchen ab. Dann glättete er den Zylinder, griff mit spitzen, widerwilligen Fingern nach dem Brief und fragte ängstlich, ob er nicht einen Arzt schicken sollte. Jungfer Sabine aber stemmte die Arme in die Hüften und lächelte geringschätzig: »Unsinn, Polykarp, das ist meine Sache.«

Sie kochte Fliedertee und Kraftsuppen, und ihr Neffe schmunzelte, weil es ihm jetzt auf einmal wieder so gut ging wie als Kind, und er von allen Seiten betreut wurde.

Der alte Herr erhielt noch ein Säckchen mit Ameiseneiern für den Goldfisch »Röschen«, da heute dessen Futtertag war und das liebe Tier nicht vergeblich warten durfte, und wurde dann kurz verabschiedet. So kletterte er kopfschüttelnd die ausgetretenen Treppen hinab, wandelte durch die dunklen Korridore des winkeligen Hauses und stand schließlich augenblinzelnd in der Morgensonne, die den goldenen Turmhahn von St. Pankraz beleuchtete. Durch alte enge Gassen nahm er seinen Weg und atmete tief, weil er die frische Luft in seiner Kircheneinsamkeit gar nicht mehr gewohnt war. Und doch setzte er seine dünnen Beinchen voll Wichtigkeit auf die Katzenköpfe und drehte eitel den Kopf, wenn ihm jemand nachschaute, wie er so feierlich angetan dahinschritt. Bei dem Goldfisch hielt er sich allerdings zuerst und länger auf als in der Klinik. Sein Herz aber frohlockte über die Achtung, die Aurelius bei diesen Weißkitteln genoß. Heinz Williguth schüttelte dem Alten sogar die Hand, daß dieser schüchtern vor sich hinschaute, weil er solche Ehre doch gar nicht verdiente.

Es fehlten noch acht Tage zum Semesterschluß, so daß Heinz auch die Vorlesung übernehmen mußte. Der Besuch war schwach, aber die gekommen waren, musterten neugierig Geheimrat Williguths Sohn. Heinz blickte mißtrauisch und hochmütig zugleich, als er so zum erstenmal an seines Vaters Stelle trat. Eine verbissene Auflehnung war in ihm. Der Saal schien voll von erstarrten Worten Philipp Emanuel Williguths, die jetzt alle frei wurden und gemessen und höhnisch in Heinz' Ohren klangen. Sorgsam gab er acht, in nichts an den Vater zu erinnern, und doch war die Ähnlichkeit des Blutes stärker als sein Wille. Von der Handbewegung, die gleichsam das eigene Wissen an andere verschenkte, bis zum kalten, trotzigen Blick, der nur sich selbst Rechenschaft gab, war es der junge Williguth, der da mit einer scheuen und hochfahrenden Lässigkeit vor dem Krankenbett stand. Merkte er den verdächtigen Tonfall, der ihn zum Affen seines Vaters machte, und lenkte hastig hinüber in das Irrlichtern des eigenen Wesens, spürte er ringsum die beginnende Teilnahmslosigkeit und geriet wider Willen in die klare und gedrungene Art, wie der Geheimrat seine Sätze schmiedete. Nur die verhaltene Selbstironie, die manchmal mitschwang, war dem Vater fremd; das stille Eingeständnis ärztlicher Ohnmacht, die Heinz gar nicht verbarg, ließ Philipp Emanuel niemals laut werden. Aber den Studenten gefiel diese offene Menschlichkeit fast besser als die starre Überlegenheit des Geheimrats, der wie ein Felsblock vor ihrer eigenen Unsicherheit stand. Als aber der Praktikant des Tages Unsinn schwatzte, klang die Zurechtweisung schroff und scharf, und in den grauen Augen leuchtete Philipp Emanuels Zorn. Die Studenten stießen sich an und freuten sich wie im Schauspiel. Und Heinz las in jedem Blick: Ganz der Alte.

Es war eine bittere Stunde für Philipp Emanuels Sohn. Er wußte, daß er mit Leichtigkeit den schwerfälligen Schückedanz in den Schatten stellte, selbst aber geschlagen blieb von seines Vaters stiller Größe, die nie an sich selbst zweifelte. Was er tat, verrichtete er mit den Waffen, die ihm Philipp Emanuel in die Hand gegeben, wo er versagte, war es die Begrenztheit der eigenen Natur. Heute begriff er zum erstenmal, warum und wie sein Vater auf alle Menschen wirkte. Der war aus einem Guß, ohne Risse und Sprünge. Und da trug er bitterer als sonst den Fluch, der zu sein, der nachher kommt und nur zu verwalten hat, was ein anderer erwarb. Er neigte den Kopf und tat seine Pflicht. Im Blut aber blieb das Brennen, das alle Williguths kannten, der unbezähmbare Wille, ein Eigener zu sein. Scheue Freude färbte sein Gesicht, als er merkte, wie seine Art Anker fand und die Augen aller dieser jungen Menschen an ihm hingen und sie schier vergaßen, daß hier sonst sein Vater zu ihnen sprach. Später aber trat der pensionierte alte Professor, den die Neugierde hierhergeführt, zu Heinz Williguth und sagte mürrisch: »Er hat schon viel vom Vater gelernt.«

Da brach alle Sicherheit, achselzuckend wandte er sich ab und spähte unter gesenkten Lidern, ob einer lachte. Aber der Saal war schon leer.

 


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