Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Wenn das bunte Farbenspiel der Blumenbeete begann, krochen auch die Williguths aus ihrer Würde und Feierlichkeit wie aus zu warm gewordenen Pelzen. Besonders der Hagestolz Giacomo hatte dann ein seltsam ruheloses Wesen. In tadelloses Grau gekleidet, die Elefantenfüße in weißgrauen Schuhen, wandelte er immer wieder im Fontainengarten zwischen Busch und Blumengarten, zwischen dem gelben Palais und dem Schwanenteich auf und nieder. Sein schwerer Mund lächelte gar wohlgefällig den lieben hübschen Bonnen und Kindermädchen zu, und er wiegte und streckte den muskelstarken Leib wie zur Vorbereitung für Gott Eros. Aber es blieb dabei. Der arme, reiche Giacomo hatte zu wenig Zeit. Er verwaltete alle Geldgeschäfte der Williguths, legte Kapitalien an und kaufte Grundstücke, spekulierte wohl auch in sicheren, verheißungsvollen Papieren und bewies sich als der wackere, nüchterne Geist, der er zu seinem Vorteil auch in seiner Ringerkarriere gewesen war. Zudem besaß er bei Rellingen ein hübsches Rittergut, wo er Pferde, Rinder und allerlei Federvieh züchtete und wo die Williguthschen Kinder allemal Feiertag hielten, wenn sie hinausfahren durften. Alle hingen sie an Onkel Giacomo, besonders der kleine Witte. Denn Giacomo gab ihm Rauffreiheit. Und während der gesetzte Herr mit Mamas und Bonnen schön tat und hinter bunte Sonnenschirme guckte, balgte Witte mit anderen Knaben. Und es war ein fröhliches Gleichmaß in dem schlanken Wuchs der Buchen, der Behaglichkeit der gefleckten, breitästigen Platanen, den lustgeschwellten Brüstlein der Mütter und Kindermädchen und der Raufseligkeit von Witte Williguth. Onkel Giacomo gebrauchte den Mund zu betulichem Flüstern und die Riesenfaust, um seinem Großneffen den Staub von Höschen und Matrosenbluse zu klopfen. Und oft bettelte der Kleine: »Zeig mir etwas Neues!« Giacomo lächelte das breite, selbstzufriedene Lächeln aller Williguths. Dann wies er Witte allerlei Kniffe, den Armfallgriff und derlei Ringerparaden, daß Witte übermütig krähte und seine kleinen, kurzen Muskeln straffte. Ein gläsernes Sirren und Raunen sang in den Baumkronen. Im Geäst der Linden hielten mit Brummen und Summen die ersten Bienen Kirmes, fanden noch nichts und tanzten wie Goldfünkchen zu dem reichbesetzten Speisetisch der bunten Beete ringsum. Die Damen zierten sich und murmelten geheimnisvoll mit dem eleganten Herrn in den besten Jahren, bis lautes Schreien die Köpfe auseinanderfahren ließ. Witte hatte mit Erfolg den neuesten Kunstgriff an einem Genossen geübt und stand breitbeinig und hochmütig über dem besiegten Gegner, Kinder heulten, Mütter und Bonnen zankten, und der galante Giacomo tröstete nach allen Seiten: »Ach was, lassen Sie das bloß, Frauchen! Was'n richtiges Männchen wird, packt grob zu.« Und er zwinkerte herausfordernd.

Seine Philosophie war rotbackig und gar nicht zimperlich. Manchmal fragte Witte: »War Papa auch so stark wie ich?« Dann brummte Onkel Giacomo vor sich hin und sah schnell in die Sonne, bis er niesen mußte. Und mit Grimm erinnerte er sich, wie sein Bruder den Sohn nicht von der Hand gelassen und mit Weisheit vollgestopft hatte, daß er die Namen der Blumen wußte und ihre Blütezeit und sich doch niemals mitten in der bunten Wiesenpracht wälzen durfte, weil er hart gestraft wurde, wenn er Grasflecken an den Kleidern heimbrachte. Wie Ruten standen die strengen, grauen Augen des Vaters vor aller unbekümmerten Knabentollheit. Da schmunzelte der starke Giacomo nicht mehr, sondern schaute gedankenvoll in die maihelle Welt.

Auch Johann Sebastian im »Blauen Herrgott« rieb alle Wintermüdigkeit aus den mehr als achtzigjährigen Augen und feierte seine musikalische Wiedergeburt. Er sonnte sich im Hausgarten und horchte, wenn der scharfe Ostwind die Zweige bog und vollere Akkorde durchs Astwerk rauschten. Lustige Fähnchen von Apfelblüten und jungem Grün wehten in der lauen Luft. Und Johann Sebastian klopfte an sein Barometer, studierte den Kalender und horchte Abend für Abend in Büsche und Hecken. Dann malte er mit seiner großen, steifen Schrift bunte Kärtchen an alle Williguths und beschied sie zum Nachtigallenkonzert in den Fontainengarten, wie alle Jahre, wenn hellgrüne Blätter und gelbgrüne Knospen das Licht grüßten. Und sie kamen alle, geruhsam und feierlich, hörten den Nachtigallen zu und bestätigten dem lieben Gott, daß sein Frühling ein wundersam fröhliches Geschenk sei, das auch ernsthafte Menschen einen Abend lang wohl zu schätzen wußten.

Tiefblau leuchtete der Nachthimmel, aller Lärm schlief. Der Abendsegen aller Kirchenglocken war verhallt. Liebespärchen strichen durch die Gassen und schmiegten sich in dunkle Winkel. Süßer Duft wehte über verrußte Mauern. Weiße Büsche wiesen den Weg ins Dunkel der Gartenherrlichkeit. Überall wanderten Menschlein, denen der Alltagsstaub von der Seele flog. Selbst Geheimrat Williguth, der Witte an der Hand führte, hatte sein Frühlingsschmunzeln aufgesetzt, wie es die Familientradition verlangte. Heinz hatte helle Augen und hing sich an Jakobes Arm. Die Schirlitz trabte hinterdrein und schleppte Decken und warme Wolljacken, Simon Gottesdank klapperte mit Gläsern und Weinflaschen, denn ohne Trunk feierten die Williguths kein Fest.

Im Schlüsselteich schwammen silberne Flecken auf dem blassen blauen Wasser. Hier und dort schnalzte und schmatzte es, wenn die Karpfen ihrer Maiminne dienten. Ein Fisch schnellte hoch, wirbelte funkelnd um sich selbst und fiel mit einem lauten Platsch in seine Hochzeitskammer zurück. Breite silberne Ringe liefen ans Ufer. Rings knirschte der Kies unter schweren Tritten. Da schritten die aus dem »Blauen Herrgott« mit den Familien ihrer zwölf Kinder.

Des Hofzuckerbäckers brauner Bart tauchte auf, der Superintendent Friedemann mit drei starkknochigen Töchtern fütterte die Fische. Steif und starr hielten sie alle die Köpfe, gemessen und feierlich blickten blaue und graue Augen, breite und schmale Lippen lächelten überlegen und selbstgerecht, wenn aus der Dunkelheit ein greller Menschenlaut schlug. Derlei liebten sie nicht. Nur Johann Sebastian schwang lustig den grauen Riesenzylinder vor den Kastanien, die den Schlüsselteich mit weißen und roten Blütenkerzen umkränzten. Er grüßte die gliederstarken, uralten Bäume, weil er selbst war wie sie, knorrig und unverzagt in seinem Greisentum. Giacomo Williguth, dem im Fontainengarten stets allerlei galante Erinnerungen im Kopf spukten, erzählte den vierschrötigen Töchtern seines geistlichen Bruders Friedemann kecke Anekdoten, daß die Mädchen scheue Blicke über die Schulter nach Vater und Mutter warfen und verlegen mit den großen Füßen scharrten, wie sehnsüchtige Elefantenweibchen.

Am großen Schloßteich machte man halt und wartete auf neuen Zuzug. Der Springbrunnen warf weiße Schleier in die Nacht. Pappeln standen scharf und schlank vor dem tiefblauen Himmel, wie mit der Silhouettenschere ausgeschnitten. Steife Hecken umgrenzten das Wasser, das wie ein dunkler Spiegel vor dem gelben Sandsteinschlößchen lag. Schwer und wuchtig hämmerten von fernher die Turmuhren. Johann Sebastian warf sich in die Brust, pries Gesang und Wesen der Nachtigallen und erklärte umständlich ihre Besonderheit. Sein langer, grauer Leibrock wippte auf und nieder wie ein riesiger Vogelschwanz.

Da knirschte und kollerte es über den Kies, Miriam Forcade rauschte heran, hinter ihr Graf Nikolaus, als könne er mit der Leidenschaftlichen niemals Schritt halten. Wie ein silberner Pfau schlug Miriam ihr Rad und grüßte huldvoll im Kreis. Der Geheimrat fragte: »Wo ist Renate?«

»Daheim. Sie hat wieder Strafe.«

Die Williguths nickten befriedigt. So gehörte sich das nach ihrer Meinung. Junges Volk mußte gehorchen oder die Rute kriegen. Nur Philipp Emanuel lächelte boshaft: »Die hat viel von dir, Miriam.«

In Miriams Arger sprang ein Lachen, übermütig und lustig. Runde Schatten fielen über den Kiesweg. Am schweren Tritt erkannte man, daß da Williguths kamen. Aber Bewegung und Lachen war jung und schnell, und die drei starken, blonden Frauen nicht ohne Grazie, als hätte der liebe Gott einmal genug gehabt an den plumpen und starren Trotzgliedern dieser Familie. Stolz schob Gundl Tredenius drei Enkelkinder vor sich her, die aus großen, blauen Augen blitzdumm in die Wunderwelt guckten, zwei Buben und ein Mädel, alle so ungefähr in Wittes Alter. Helle, freundliche Kinderchen waren es, die zierlich knixten und jedem artig die Hand gaben. Vergnügt und eitel blickte Großmutter Gundl und flüsterte schnell den dicken, blonden Töchtern zu: »Küsset dem ›Blauen Herrgott‹ die Hand!«

Johann Sebastian streckte huldvoll die Tatzen aus und nahm die schuldige Ehrerbietung entgegen. Witte zerrte inzwischen das kleine blonde Mädel am Hängezöpfchen und erwischte eine Maulschelle von Gundls schöner, weißer Hand. Aber er heulte nicht, bleckte nur die Zähne und knurrte. Schadenfroh bestellte er dann die artigen Vettern für morgen an den Schlüsselteich zum Boxen. Hinter den zwei jungen Frauen glimmten rote Punkte in bärtigen Gesichtern, Gymnasialoberlehrer Krusemann und Fabrikant Vogel bliesen Zigarrenrauch in den weißen Nacken ihrer Eheliebsten und lachten in schönen Baßtönen. Aus dem Ulmendunkel schlenderte jetzt noch jemand ins Licht. Fein und schlank, mehr nach Heinz Williguths Art, über dem schweren Kinn und dem trotzigen Mund bewegliche Züge, immer zwischen Hell und Dunkel. Braune Augen unter dicken Brauen blickten spöttisch und seelengut, in buntem Wechsel, kleine Falten schnitten zum Mundwinkel und kauerten an den Schläfen. Allzuschnelle Bewegungen trieben ein wenig Gaukelspiel, um die verhuschende Jugend zu halten. Johann Sebastian nickte in freudiger Würde. War ja Karl Maria Tredenius, Gundls Mann, durch seine verstorbene Mutter ein Williguth. Und dann strich er die Geige zu Gottes Lob, und eitel Gold fiel unter jedem Strich. Auch diesem irdischen Klang lieh der Greis ein williges Ohr. Aber als ein Williguth mußte er doch voll schulmeisterlicher Hoheit fragen: »Hast du in Petersburg unseres Bach köstliche Brandenburger reiner gebracht als das letztemal im ›Blauen Herrgott‹? Ich will hoffen, daß es der Fall war.«

Urgroßmutter Apollonia kam herbei, fragte besorgt, ob Karl Maria keinen Katarrh aus Rußland mitgebracht, und bewunderte Gundls wallende weiße Straußfedern. Fast ehrerbietig berechnete sie den Wert. Lachend zeigte Gundl auf Karl Maria, der gerade Miriam gertenschlank fand: »Von ihm.« Jede Untreue machte er durch ein hübsches Geschenk wett.

Der geschlossene Garten verlor sich in freie Parklandschaft. Hohe dunkle Baumgruppen standen auf weiten Wiesenflächen, wo die ersten wilden Feldblumen dufteten. Schwarz fielen die mächtigen Schatten auf den sternhellen Rasen, daß die Kinder mit scheuen Augen nach der Hand der Mutter haschten. Nur Witte Williguth kannte keine Furcht, mutig trabte er in die vielgewundenen, finsteren Wege hinein, mitten durch tauglänzende, blühende Sträucher und starres, unheimlich drohendes Nadelgehölz. Die drei kleinen Tredeniusenkel liefen ihm bewundernd nach, ließen ihn aber vorsichtig ein gutes Stück allein voraus. Auf Sitzbänken verkürzten sich dann die Würdigen und Feierlichen die Wartezeit durch fröhlichen Rundtrunk, wobei Johann Sebastian es nicht an weisen und würzigen Worten fehlen ließ. Nur Mütterchen Apollonia schlummerte sanft in ihrer Bankecke. Giacomo kniff einen jungen runden Arm, der zu einem weißen Spitzenkleidchen gehörte, und flüsterte lange in ein heißes kleines Ohr. Verirrtes Lachen huschte da und dort, Fabrikant Vogel sprach in knorrigem Baß über Politik. Johann Sebastian schmunzelte spitzbübisch, schürzte die Lippen und ließ einen feinen Pfiff hören, der aus weiter Ferne zu kommen schien. Wie ein »Wi-id« klang es, dem er ein »Karr« kunstgerecht und schnarrend anhängte. Erregtes Flüstern, und dann die Stimme von Gundl Tredenius: »Oh, jetzt kommen sie!«

Unbändig lachte der Alte: »Ach, Gundl, es ist ein rechter Jammer mit dir! Bist ohne Musik bis in die Fingerspitzen.«

Jedes Jahr beim Nachtigallenkonzert machte er den gleichen Scherz, und jedesmal tat seine Tochter, als hielte sie sein Pfeifen für den Ruf der ersten Nachtigall. Das Gegenteil hätte ihn tief gekränkt. Alles mußte in Regel und Gewohnheit bleiben.

Aber jetzt fiel das tiefklingende »Tak« einer wirklichen Nachtigall in die Stille. Und gleich antwortete ein feiner Ton, noch einer, dann drei und vier, wie wenn ein Orchester stimmt. Langsam rückte es näher. Hoch in den Wipfeln geschah ein sanftes Flöten und ein seltsam klagendes Schmettern. Hochzeitsheiligkeit war in dieser Nacht. Kunstgerecht glitt das melancholische Flöten in fröhliche Melodie. Die unsichtbaren Sänger verschwendeten ihr kleines Leben an die Freude. Die Williguths zwischen den Büschen horchten in stiller Andacht. Jakobe aber stahl sich heimlich fort. Arm in Arm mit Heinz. Lautlos, wie im Zwang. Noch rollte das volle Orchester der Vogelkehlen und lockte die Weibchen, die da oben im Dunkel heranzogen, ihrem winzigen Schicksal entgegen. Und dann zerriß die gemeinsame Melodie, jeder suchte den stillen Winkel seines Glücks. Schnalzen und Wirbeln bejubelte die gelungene Werbung. In jedem Busch begann ein Adagio froher Heimlichkeit, schnellte zum kecken Allegro auf und sank trillernd in ein schalkhaft getragenes Larghetto, in der schnellen Stufenleiter der Mailiebe. Der blaue Mantel der Nacht breitete sich darüber, wie die Unendlichkeit Gottes über allem Wohl und Wehe der Kreatur.

Der Superintendent Friedemann hatte nasse Augen, so hart und streng er sonst blickte. Als er die Tränen lächelnd fortwischen wollte, konnte er plötzlich den Arm nicht heben. Kopfschüttelnd ließ er die Tropfen fließen und horchte, wie das Vogelvolk ohne Pfaff und Bibel in seine Seligkeit einrückte. Aber das starre Krampfen im Arm blieb. Leise rief er den Geheimrat, doch da war der Arm mit einemmal gelenk, und Philipp Emanuel spottete derb: »Alter Schwarzseher, du säufst zu viel!«

Friedemann schwieg gekränkt. Besorgt lief seine Frau herbei und stammelte: »Nein, Friedemann, nun hast du dich wieder verkühlt. Lindenblütentee und ins Bett!«

Philipp Emanuel wandte sich jäh ab und schlenderte allein den dunklen Pfad entlang. Ein sprungbereiter Ärger war in ihm. Er glaubte nicht, daß ein Williguth krank sein konnte. Immer weiter ging er in die Finsternis, sein grauer Überrock streifte den duftenden Weißdorn, er bückte sich und machte sich frei. Durch das Buschwerk jagten sich zwei Nachtigallenmännchen mit Kreischen und Trillern und kämpften um ein Weibchen. Und mitten in diesem heißen Werben schritt er hoch und aufrecht in seinem grauen Rock und hielt den Blick starr geradeaus, als wäre seinem Ernst dies verliebte Getue zuwider. Die Lippen kräuselten sich geringschätzig, und der Fuß trat hart auf. Eine grämliche Feindseligkeit gegen diese laue, laute Lenznacht erfüllte ihn, ein Groll über diese ewig wiederkehrende Jugend der Dinge, die einst auch über alle Williguths siegen mußte.

Zwischen den dunklen Bäumen schimmerte eine weißblühende Wiese im Sternenlicht. Philipp Emanuel schirmte die Augen mit der Hand. Zwei junge Menschen saßen am Waldrain und küßten sich. Er lachte kurz, als er die beiden erkannte, dann riß er sie voll behaglicher Tücke aus ihrer Versunkenheit: »Kinder, ihr kriegt einen Schnupfen. Das Gras ist ja feucht!«

Wie arme Sünder standen Heinz und Jakobe vor seinen kühlen grauen Augen. Er hielt die ausgestreckten Finger vor sich hin, als wehrte er etwas ab: »Nun geht wieder hübsch zu den anderen. Sonst lacht man euch noch aus.«

Feine Gereiztheit lag über Jakobes schmalem Gesicht, die braunen Augen waren dunkel und groß, ihre Stimme zitterte. »Ich will nicht.«

Einen Augenblick war der Geheimrat verdutzt, dann lächelte er boshaft: »Na, denn nicht, Frauchen, verliebtes!«

Aber schon schritt Jakobe langsam, mit gesenkten Schultern, den finstern Buschpfad zurück. Vater und Sohn maßen sich. Blick in Blick. Grämlich sagte der Geheimrat: »Es ist spät! Vergiß nicht, daß du morgen früh Dienst hast!«

Er nickte kurz und ging.

Heinz Williguth stand allein auf dem Rain, über den der Duft der wilden Blumen strich. Die dufteten und trugen Farben, wie sie wollten. Er stampfte mitten unter ihr Blühen und zertrat rechts und links. Doch es war nur Heftigkeit und keine Kraft.

Der Geheimrat ging mit großen Schritten, wie stets, wenn er bewegt war. Die Hände hatte er auf den Rücken gelegt, die Finger ineinandergekrampft. Der Mund lag fest und streng. In solchen Nächten war er als junger Kerl vor seiner Arbeit gesessen, mochte es draußen locken und rufen mit tausend Stimmen. Halb im Dunkel lag der Schlüsselteich, in weiße und rote Tulpen gerahmt. Das Karpfenvolk gab jetzt Ruhe im spiegelglatten schwarzen Wasser. Aber drüben am Ufer regte es sich. Drei Kinder standen im Gras und hielten sich artig an den Händen. Weiter vorn, mitten durch die Tulpen, kroch ein Knirps auf allen Vieren und beugte sich über den Rand. Dann zog er eine Schnur nach und hängte sie ins Wasser, mahnte mit erhobener Hand die drei andern zur Ruhe und starrte in den Teich. Der Geheimrat lief beinahe über den feuchten Rasen. Die drei kleinen, ängstlichen Zuschauer kreischten erschreckt auf. Der blonde Bub am Wasser drehte nicht einmal den Kopf: »Seid keine Hasenfüße, ihr dummen Kerle!« Und er ließ seine Angelschnur auf und nieder tanzen. Der Geheimrat bückte sich, packte den nächtlichen Angler wie einen jungen Hund beim Genick und hob so Witte Williguth samt Schnur und Köder hoch in die Luft, schüttelte ihn tüchtig und stellte ihn grob auf beide Füße.

»Wie kommst du hierher?« fragte er streng.

Das Kind schlug die trotzigen grauen Augen auf: »Jetzt ist mein Fisch fort, und er wollte schon anbeißen.«

Vorwurfsvoll wies er auf den Käsebrocken an seinem Angelhaken und wickelte bedächtig und geschickt die Schnur auf, als ließe ihn der Groll seines Großvaters ziemlich kühl. Die drei kleinen Tredeniusenkel standen noch immer Hand in Hand in einer Reihe und schauten hilflos und schuldbewußt. »Die habe ich mitgenommen,« erklärte Witte in edler Gerechtigkeit und wischte die feuchte Erde von seinen nackten Beinen. Den arg beschmutzten weißen Matrosenanzug gab er auf. Philipp Emanuel beobachtete den Knirps halb mit Ärger und halb mit Behagen. Witte hatte keine Angst vor ihm und kehrte den zu Unrecht gekränkten, braven Jungen heraus, dem man nicht einmal dieses bescheidene Vergnügen gönnte. Und Philipp Emanuel war nicht imstande, dieser kleinen, patzigen Wichtigkeit die Kehrseite zu versohlen. Bei Witte half das auch nicht viel.

»Woher hast du die Angel?«

»Von Simon.«

»Wo steckt der Esel?«

»Fortgelaufen, Großer Papa.«

»Ihr kommt sofort mit mir zurück.«

»Ach nein! Geh' lieber du fort. Mit Simon ist es viel lustiger. Er hat sich bloß vor dir versteckt. So geh' doch!« Und er streckte die Faust, als wollte er den lästigen Großvater kurzerhand wegstoßen. Heimlich schielte er dabei nach den drei anderen und sog die Bewunderung der braven Dummköpfe ein.

»Gute Nacht, Großer Papa.«

Philipp Emanuel verbiß das Lachen. Wartend blieb er im Schatten. Da schritt richtig Simon Gottesdank vorsichtig aus den Fliederbüschen. Man hörte ein kurzes Klirren von zerschmettertem Glas, ehe der Alte zum Vorschein kam, mißtrauisch den Kopf vorgestreckt, wie ein Waldschrat, der Menschen wittert. Der Geheimrat schlug die Rockklappe auf. Kalt war die Mainacht. Es mußte auf Mitternacht gehen. Die Kinder gehörten längst ins Bett. Aber die hirnverbrannten Mütter trieben sich ja im dunklen Busch umher und lauschten dem Liebeswerben der Nachtigallen. Sogar Jakobe hatte den Kopf verloren. Freilich, wenn man den Weiberchen das Küssen verdarb. Wie ein bitterer Nachgeschmack saß das im Munde.

Hatte der Frühling sie alle toll gemacht? Nur Philipp Emanuel blieb ein gelassener Beobachter und fror.

Ein schwarzes Etwas schoß über die Wiese, schnellte im Bogen seitwärts und stob über den Kies, daß die Steinchen flogen. Das war ja Boabdil. Und dort, zwischen den breiten, gefleckten Stämmen der Platanen, schimmerte silberweiß ein Hundefell. Wie ein Besessener fuhr der sonst so gemessene Boabdil darauf los.

Ein langgezogenes Brüllen zerriß jetzt die Stille, ein wilder Schrei und dann ein dumpfes Heulen. Im zoologischen Garten wachten die Raubtiere aus dem Schlaf und setzten in nutzlosen Sprüngen durch das Dunkel ihrer Gefängnisse. Philipp Emanuel Williguth stand und horchte. Nebel dampften von den Wiesen und zogen graue Schleier über die Blumenbeete, damit die Morgensonne beim Säubern Arbeit hatte. Er ging heim, allein und aufrecht, die Hände in den Rocktaschen. Weich und berückend neigte sich die Mainacht ihm entgegen, wie eine dunkelsamtene Larve, hinter der scheu und heiß die Augen des Frühlings brannten.

Wie eine fromme und feierliche Wallfahrt lief die Kastanienallee zu Geheimrat Williguths schneeweißem Hause mit den griechischen Säulen. In schweren, grünen Atlasmänteln nickten und schwankten die alten Bäume, über und über besteckt mit roten Räucherkerzen. Ein absonderlich aufreizender Duft verströmte in der Maisonne, wie von unsichtbaren Händen überall zerstäubt. Ein wenig Weihrauch, vermischt mit der letzten Süße welkender Rosen, und mitten darin eine bittere, lenzjunge Herbheit, wie der Saft aus knospenden Birkenblättern. Die Amseln und die kecken Finken wurden davon kirre, die ernsthaften, goldbraunen Bienen kamen ins Taumeln, und selbst von den Menschen, die tagaus, tagein durch die Allee nach ihren Zielen schritten, mußten die Klugen verdrießlich niesen, den Damen aber stand sekundenlang das Herz still, und sie horchten erstaunt, wie ihr Blut sang, weich und voll Sehnsucht. Dann ließen die roten Kastanien die ersten toten Blüten auf den gelben, sonnengefleckten Kies fallen, in einem ungeduldigen, ganz leisen Rieseln, das wie ein kurzer, trockener Seufzer klang. In rotlila Samt stand der Phlox um den Springbrunnen. Gar tugendhaft tat das rote Blumendickicht jetzt am hellen Mittag und verschwieg seine Wünsche, wie Menschen, die alles Süße und Eigene unter Faust und Riegel halten. Die Blüten kühlten sich an den sprühenden Wassertropfen und schienen nichts zu wissen von dem verliebten Treiben der Dämmerungsfalter zwischen dem letzten Amsellied und der ersten Fledermaus. Hinter der biegsamen weißen Garbe des springenden Wassers, das wie ein Schleier in der überheißen Mailuft hing, träumte die langgestreckte, weiße Villa im Schinkelstil, mit den strengen jonischen Säulen und dem nüchternen dreieckigen Giebelfeld.

Und streng und nüchtern war die Stimmung an des Geheimrats Tisch im dunkelgetäfelten Speisezimmer, trotzdem helle Sonnenlichter über die braune Haut des heiligen Christoph tanzten. Philipp Emanuel war gereizt und verstimmt. Ein Patient war unter dem Messer geblieben, und er empfand es wie eine ihm angetane Schmach. Sonst plauderte er sich mit Jakobe über solche Verstimmungen weg, heute aber verboten seine harten, eckigen Bewegungen jedes Trostwort, der Blick war starr und kalt, die Finger lagen als Faust um Messer und Gabel.

Heinz Williguth aber hatte helle Augen und ein sprunghaft lebendiges Wesen. Der Schatten seines Vaters war heute kürzer.

Der Geheimrat ließ stirnrunzelnd eine Platte vorübergehen: »Genug davon!«

Simon Gottesdank fand es nicht nötig, erst bei den andern zu servieren, sondern trug das Gericht ab.

Philipp Emanuel räusperte sich und fragte scharf: »Du warst also bei Geheimrat Alexius und bei Tante Friedemann, liebes Kind?«

»Nein, Papa!«

Die Schirlitz fiel sofort ein, gewohnt zu retten und zu beschwichtigen: »Gnädige Frau war heute mit uns im Bernhardbad. Witte bekam die siebente Schwimmlektion. Er puddelt wie ein Fisch. Der Schwimmlehrer will ihn das nächstemal freilassen. Nein, Herr Geheimrat sollten nur mal sehen! Keiner hat so stramme Beinchen wie unser Witte. Der kleine Berghöfer ist die reine Katze dagegen, und der ist bald achte. Und Frau von Osiander meinte auch ...«

Aber Witte war heute eine schlimme Empfehlung. Der Geheimrat schnappte ins Wort: »Der Bub wird kürzer gehalten. Es ist höchste Zeit.«

Jakobe und Heinz wechselten einen schnellen Blick. Philipp Emanuel formte aus Brot Menschenköpfe, die er dann zerdrückte, nur um die gewalttätige Hand zu beschäftigen. Mit eisiger Kälte sagte er dazwischen: »Danke, Schirlitz. Aber ich wünsche, daß mein Programm eingehalten wird. Verstehst du mich, Jakobe?«

Die Köpfe aus Brotkrume wuchsen und schwanden in unheimlicher Raschheit.

»Hast du mich gehört, Jakobe?«

Das Brot blieb jetzt liegen, die starken weißen Hände sägten an einem imaginären Knochen. Die junge Frau setzte sich aufrecht, um ihren Mund zuckte es wie Trotz.

Der Geheimrat zog unmerklich den Kopf zwischen die Schultern, wie sein Sohn es tat, wenn seine Heftigkeit unsicher um sich griff und keinen Halt fand.

So traf ihn die Antwort: »Schließlich bin ich kein Kind mehr, Papa.«

Fast hochmütig klang es, und das konnte Philipp Emanuel am wenigsten vertragen. Hochmut galt nur für ihn selbst.

»Es liegt dir nicht, Frauchen. Renate, das freche Ding, trifft das viel besser.«

So stellte er das Lob der jüngeren Schwester als Kränkung mitten auf den Tisch. Jakobe schnellte hoch. Einen ganz kurzen Augenblick glichen ihre Augen denen ihrer Mutter. Die Brüste strafften sich, und in den Hüften war ein herausforderndes Wiegen. Die Schirlitz warf als letztes Mittel ein Weinglas um. Aber keiner beachtete es. Wie Stränge lagen die Adern auf des Geheimrats Stirn. Dann ließ er zögernd die Fäuste sinken. Blitzschnell dachte er, wie er in der letzten Nacht allein und einsam über die Wiesen geschritten war. Wieder hatte er das Frösteln im Blut. Da sagte er ganz unerwartet mit einem steifen, grämlichen Nörgeln in der Stimme:

»Ich wünsche nicht, daß du dieses graue Kleid trägst, Jakobe. Es hat einen Fehler an der linken Achsel.«

Sie griff unwillkürlich nach der getadelten Stelle.

Lauernd fuhr Philipp Emanuels Blick von einem zum andern. Dann fragte er pedantisch: »Ich habe recht, nicht wahr?«

Aber Jakobes jähes Aufflackern war schon verglimmt. »Ja, Papa.« Gedehnt und gleichgültig klang es.

Heinz schnitt eine Fratze: »Bist du auch Damenschneider?« und zerrte mit beiden Fäusten am Tischtuch.

»Hier im Hause muß ich leider Gottes auch das sein. Dieses glatte, eisengraue Kleid paßt nicht für Jakobe.«

Er tat, als spräche er von einer Rüstung, die wider ihn getragen wird. Wieder fuhr sein Blick lauernd in die Runde. Dann lächelte er befriedigt: »Meine Zigarre, bitte, Jakobe!« Und in dem Flackern des Zündholzes bohrten sich die Augen ineinander.

»Du gehst jetzt zu Tante Friedemann. Mein Bruder war gestern nicht wohl. Und sagst ihr, sie soll nicht so ängstlich sein. Diese ewige Hypochondrie taugt nichts, das viele Weintrinken aber noch weniger.«

Gelassen paffte er den Rauch in die Sonnenstäubchen.

»Sie braucht ihn nicht in Watte zu wickeln. Wir Williguths haben Nerven aus Eisendraht.«

Er nickte kurz und ging aus dem Zimmer.

Die drei rührten sich nicht. Heinz sah ihm nach und zog drollige Stirnfalten, halb spöttisch, halb bedrückt: »Na, ja, siehst du, Jakobe –.«

Und sie lachten beide hellauf und küßten sich.

Madame Orlakoffs Kopf zerrte erhitzt und zerzaust das schwarze Tuch beiseite, die fetten Hände mit den vielen Ringen, die hohe und allerhöchste Modelle der photographischen Künstlerin verehrt, zogen die Gedanken in Spiralen und Kreisen durch die Luft, ehe der volle arrogante Mund die richtigen Worte fand. Miriam Forcade lachte, als die alte Schulfreundin, die jetzt als Vollblutrussin gelten wollte, trotzdem sie wie Miriam aus der Judengasse stammte und eines Tempeldieners Tochter war, in Bocksprüngen durchs Zimmer hüpfte, die Röcke zierlich gerafft, den Kopf in den Nacken gelegt, mit kokett verzweifeltem Augenaufschlag. Die Orlakoff war untröstlich, daß Witte Williguth nicht stillhielt. Dicke Tropfen standen auf der gepuderten Stirn. Im Hintergrund biß Renate an ihrem Zopfband und ließ die kurze Oberlippe hochspringen, wenn Madame Witte in hochtönenden Phrasen zusprach. Dann machte sie dem Knirps heimliche Zeichen, über den feisten Rücken der guten Orlakoff weg, und das Spiel begann von neuem.

Miriams Fleisch wuchs prall aus dem tiefausgeschnittenen Kleid, die goldenen Hackenschuhe schlugen eine ungeduldige Melodie. Mit der Miene einer Königin saß sie da, ihre nackten Arme umschlossen das weiße Spitzenbündel, in dem Elias Williguth steckte. Denn die Amme duldete nicht, daß Elias im Adamskostüm auf dem Schoß seiner Großmutter zappelte.

In einer Fensternische, wo die Sonne Rücken und Nacken mit aller Kraft wärmte, in einem roten Fauteuil schier vergraben, saß ein uralter Mann mit kahlem Kopf und grauen Fuchsaugen. Die starke Nase sprang wie ein Erker aus dem gelben, fetten Gesicht, und das Kinn war ein Haken, an den Sir S. Lewis aus Wolverhampton seine hartnäckigen Entschlüsse hängte.

»Na, Miriam, mein Gold, die Englishmen werden sich die Pfoten wundklatschen,« sagte er mit starker, grober Stimme und rieb die haarigen Handrücken widereinander. Madame Orlakoff lächelte und seufzte in einem Atem.

»Ganz genau wie das Portrait der Kronprinzessin mit den kleinen königlichen Hoheiten,« verkündete sie stolz.

»Mama tut, als wären es ihre eigenen Kinder und nicht ihre Enkel,« murmelte Nikolaus Forcade und schmunzelte Jakobe zu. Lewis kommandierte scharf mit der armen Orlakoff: »Mach mir nichts vor, mein Herz. In drei Tagen muß ich die Bilder haben.«

»Ach ja, Sie Grausamer,« flötete das Madamchen.

Miriam dehnte die Arme, kollerte wie ein Pfau durch den Salon und warf einen Sessel nach dem andern mit ihrer Schleppe um: »Eine Hitze ist heute!«

Auf ihrer Brust stand der Schweiß.

Lewis drehte sich im Fauteuil nach dem Grafen um: »Jung bleibt sie, die Miriam. Nicht zu glauben, Marienbad hilft doch noch immer.«

Und er schnalzte mit den dicken Lippen.

Witte stand jetzt vor ihm und fragte sehr nachdenklich: »Wie alt bist du?«

»Sechsundachtzig, mein Bübchen, und wenn es Gott gefällt, mache ich den Hunderter voll.«

»Oh,« sagte Witte und schüttelte enttäuscht den Kopf. Er hatte gedacht, daß nur der ›Blaue Herrgott‹ so alt werden konnte. Dann packte er Renate an der Hand: »Komm zu den Goldfischen!«

Und er zerrte und zog, bis sie ihm den Willen tat.

Lewis strich langsam über die Armstützen und sagte anerkennend: »Rasse hat das Mädel. Aber längere Röcke könnte die Mama schon bewilligen.«

Graf Forcade nickte lustig. Als gütiger und gemessener Zuschauer stand er mitten in der bunten Welt seiner Frau und wollte keinem den Spaß verderben. Wie ein Magnet zog ihn diese unerbittliche Kraft an, trotz aller Lächerlichkeit. Sir Lewis polierte den kahlen Kopf zwischen den plumpen Händen und strich die Weste glatt, wie einer, der immer, im Notfall mit sich selbst, geschäftig sein muß: »Ja, die Miriam. Was wird sie machen, wenn einmal die Stimme futsch ist?«

Kummervoll blinzelte er in die Sonne.

Forcade aber lächelte, wie über eine Freudenbotschaft.

»Vielleicht wird es erst dann bei uns gemütlich, lieber Freund,« sagte er langsam. Der alte Impresario schüttelte verständnislos den Kopf. Trotzdem er englischer Baronet war, verstand er diesen Aristokraten nicht.

Forcade winkte Grüße durchs Fenster. Die Rappen des Geheimrats trabten gerade über den Kiesweg des Vorgartens, den ein schwarzes Gitter mit goldenen Pfeilspitzen von der Straße abschloß. Jakobe grüßte hinauf. Sie brachte den kleinen Elias heim und wollte dann wiederkommen. Langsam blickte sie zurück nach dem kleinen grauen Barockpalais, in dessen hellen, hohen Korridoren sie als Kind gespielt hatte. Und jetzt lag ihr gegenüber im Arm der Amme der winzige Elias Williguth, der so viel Milch trank und am liebsten schrie, wenn er nicht gerade schlief. Wundersam schien Jakobe das eigene Leben. Das lief in Kreisen, die eine fremde Hand zog. Um die Martin Lutherkirche flatterten weiße Tauben und die Sonne warf Goldglanz auf ihre Flügel. Über den schlanken lichtgrünen Türmen der Stadt hingen Rauchschwaden in der schweren überhitzten Luft. Und nur selten kämmte ein Windstoß die Rußschwänze in den durchsichtig blauen Himmel, der auf Goldgrund zu ruhen schien. Jakobe genoß das feine Spiel von Farbe und Licht. Dann nahm sie schnell ihren Blick von dem bunten Glast und besann sich, daß der Geheimrat heute abend zu Hof befohlen war und daß zur bestimmten Stunde alles bereitliegen mußte. Geduldig fuhr sie in ihre Pflicht, die ihr Last und liebe Gewohnheit war, wie Nein und Ja, und doch eins.

Nikolaus Forcade blickte noch immer in das Flimmern des Frühlings und strich den braunen Spitzbart, in den die Sonne Goldfäden webte und auch schon etwas Silber. Es tat ihm stets ein wenig weh, wenn Jakobe von ihm zu den Williguths ging. Ihre schmalen Schultern waren nicht übermäßig stark, und schon als Kind hatte sie das Lachen am schwersten erlernt. Aber er rührte niemals an ihre Geheimnisse. Und wer konnte es auch verantworten, ungebeten zu sagen: »Ich helfe dir« oder »Es sollte anders sein.« Wenn sie kam, war es mehr ein vieldeutiges Schweigen als ein lautes Anklagen. Und niemals noch hatte sie die Haltung verloren unter diesem trotzigen Williguthschen Volk, das von unten nach oben strebte, mit brutalen Kinnbacken, rücksichtslos und gierig, und doch wie Kinder, die das zerbrochene Spielzeug streicheln. Sie paßten schlecht in diese reiche, enge Barockstadt mit ihren fürstlichen Prunkbauten und ihren stillen alten Gärten. Eher noch in die engen Winkelgäßchen um den Alten Markt, mit ihren Hans Sachshäuschen, wo wenig Sonne hinfiel und das kleine Volk in Bescheidenheit lebte. Aber ihre starken Leiber hatten dort nicht Platz. Den Fontainengarten hatten sie schon erobert und drängten von da wagemutig in die alte vornehme Stadt. So holten sie sich Jakobe Forcade und alles andere, was sie begehrten. Wie ein Wunder schien diese Familie dem Grafen, daß er über seinem Grübeln gar nicht sah, daß sein Haus in dies Schicksal hineingerissen wurde. Als nachdenklicher Sammler lächelte er über die Schätze an Menschenwiderspruch und Besonderheit, die da wirkten und wurden. Die schmalen Hände glitten über den Bart, er neigte ganz leicht den Kopf.

 


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