Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Neuntes Kapitel.

Das Suchen nach einer »neuen Lyrik«.

Diese ungeheure Hochflut lyrischer Dichtungen von männlichen und weiblichen Schriftstellern ließ allgemach die deutsche Dichtung wieder in das alte Fahrwasser von Reim und Rhythmus gleiten. Aber nun gab es unter den Lyrikern eine ganze Reihe von ausgesprochenen Versuchen, die sogenannte neue Lyrik zu entdecken.

Der erste, der hier erwähnt zu werden verdient, ist Ferdinand Avenarius (geb. 20. Dezbr. 1856 in Berlin), der mittlerweile in Dresden, wohin ihn früh sein Schicksal geführt, eine vornehme Zeitschrift »Der Kunstwart« geschaffen hatte und sorgfältig redigierte. Nach langem Schweigen trat er jetzt wieder mit einer Dichtung hervor, die den sonderbaren Titel »Lebe!« führte (1893). Man kann diesen Titel nicht besser erklären und den Inhalt nicht besser erzählen, als es der Dichter selbst in seiner Vorrede gethan hat:

»Ich habe den Titel aus sprachlichen Gründen ungern gewählt, konnte ihn aber nicht umgehen, da er den eigentlichen Inhalt andeutet, wie kein anderer. Der Held der Dichtung verliert unerwartet und gerade, da er ein Heim begründen will, seine leidenschaftlich geliebte Braut. Zunächst kann er den Verlust nicht fassen – als er ihn nach und nach begreift, erkennt er auch mehr und mehr, wie sein bisheriges Leben in dieser Gestorbenen gewurzelt hat; haltlos treibt er nun der Verzweiflung, dem Wahnsinn, dem Selbstmord entgegen. Da stellt ihn das Schicksal plötzlich mitten hinein in anderer Menschen Leid, zwingend, zu vergleichen. Und wie er sich sträuben mag, er kann sich der Wirkung so eindringlicher Anschaulichkeit nicht entziehen. Leise 347 zuerst, doch nach und nach anschwellend zu unwiderstehlichem Befehl hallt aus dem Unbewußten seiner Seele das Lebe! Die Wohlthat des Mitleids, des Denkens und Sorgens für andere, der Arbeit überhaupt geht ihm allmählich auf und dazwischen das Bewußtsein davon, wie viel ihm die Geschiedene gegeben hat, was nicht gestorben ist. Die Ahnung erdämmert, die Erkenntnis erlichtet sich ihm, daß gerade der Schmerz alle Kräfte seiner Seele geübt und gestärkt hat zur Empfänglichkeit auch für das Große und Schöne. So geht auch jene Zeit vorüber, da er in Entsagung auf eigenes Glück nur aus Pflichtgefühl weiterzuleben entschlossen ist; als ein Weihegeschenk des tiefsten Schmerzes erkennt er in sich die Fähigkeit auch zu tiefinnerlicher Freude. Den wir als unreifen Jüngling kennen gelernt, verlassen wir als einen zu voller geistiger Mannheit gereiften großen Menschen.«

In der That ist die Art, wie der Dichter Schritt für Schritt diesen Menschen in allen seinen Stimmungen auf dem Werdegang seiner Seele begleitet, geradezu ergreifend. Allen Seelenzuständen wird er gleich gerecht, dem jungen Liebesglück mit der jauchzenden Hoffnung, dem langen, langen Kummer und dem späten lichthellen Trost. Man sagt nicht zu viel, wenn man dies wenig bekannt gewordene Büchlein für eine der schönsten Dichtungen der neuen Litteratur erklärt. Da sie jedoch grade durch den Zusammenhang so vieler einzelner Lieder nur ihre Bedeutung erhält, so vermag eine herausgerissene Probe nur einen schwachen Eindruck zu bieten. In der Zeit kurz nach dem schweren Verlust erlebt der Held u. a. folgende Stimmung.

»Heut' traf ich einen, den auch du gekannt.
In einem Zug ums Auge, sagten sie,
sei er dir ähnlich, ich – ich fand es nie.
Doch wie ich heut' ihn sah und unverwandt
das Bürschlein mir nun sorgsam scharf beschaue –
da seh' auch ich's. Dort zwischen Aug und Braue
die Linie ist der deinen ähnlich – ja!
Und lange stand ich wie verloren da.

Zwei Monde sind seit deinem Tod vorbei,
zwei Monde Schlafs und dumpfer Träumerei –
Jetzt muß mich eine Zufallsposse wecken,
ein Zug von dir – im Antlitz eines Gecken. 348

Jetzt äfft mich ein Gespenst mit deinen Zügen,
zwingt mich, statt weg mich in den Traum zu lügen,
hier auf der Welt mit ihrer Nichtigkeit
zu bleiben und zu sehn, wie endlos weit
von allem, was da lebt, zu dir die Kluft –
so wach' ich denn. Am Sarg. In einer Gruft.«

»Von deinem Grab am Meere zu den Stätten
des Alpenlands, die dich und mich gekannt,
Jagt es mich hin und her – 's ist alles tot
und trauert so in Eis und Schnee mit mir.
Doch furchtbar wird die Zeit, die kommen soll,
ach, furchtbar ist der Frühling – wenn die Welt
aufsteht und jubelt, und du bist nicht da;
Ich kann's nicht denken, Gott . . .«

»Im Tannenwalde droben, unsers ersten Glücks
Vertrauten, tote Liebe, such' ich dich.
Wehmütig in den Wipfeln zittert aus
das letzte Abendrot, und weiches Dunkel
versenkt das Irdische. Dann, tote Liebe,
mit leisem Gruße her zu mir trittst du,
dann gehen wir mitsammen. Und der Wind
erwacht hoch droben, und wir lauschen ihm
wie ehedem. Der Wind rauscht in den Buchen
und singt zu uns und rauscht und singt uns zu
von Kommendem.

Siehst du das kleine Haus, das er umsingt?
Von Kinderstimmen mischt sich's in sein Lied,
und durch die Fenster leuchtet goldig her,
mein Weib, das Glück, das reiche, stolze, strahlende,
das große Glück. Die Zukunft, Gertrud, grüßt,
die Zukunft grüßt! . . .

Der Bergwald rauscht, der Bergwald singt und rauscht,
am Arme dich schreit' ich halboff'nen Aug's
den Hang hinab. Was er uns zugesungen,
mit Fäden Lichtes spinnt es in uns fort,
zu deiner alten Wohnung kommen wir.
Ein Kuß, ein Händedruck, im Weggeh'n schon
nochmals ein Gutenacht . . .

Und erst, wenn ich daheim, erfaßt es mich,
und wie ein Geier krallt in mich der Schmerz.«

Statt aber auf das Gelingen einer so vollendeten Dichtung stolz zu sein, war Avenarius nur stolz darauf, die »neue Lyrik« entdeckt zu haben, und meinte schließlich am Schluß der Vorrede, daß diese von ihm entdeckte »große lyrische Form«, die neben die große dramatische und epische Form trete, auch dann »weiterer Bemühungen als würdig« erscheine, »wenn die persönliche Begabung des Verfassers nicht genügt hat, sie hier an einem dichterisch wertvollen Beispiel zu verkörpern.« Als ob das Schaffen eines wirklichen Kunstwerks in noch so alter Form nicht 349 hunderttausendmal mehr wert sei als mißlungene Versuche in einer sogenannten neuen Form. Die Neuheit dieser Form kann auch nicht unbedingt zugegeben werden – Chamisso u. a. haben ähnliche Liedercyklen gedichtet. Aber jedenfalls war diese subjektive Lyrik von Avenarius mehr berechtigt, sich für die Lyrik der Zukunft auszugeben, als einst Harts Theorie von der Objektivität.

Aber zu einer wahren Schultheorie ließ sich wieder einmal Arno Holz fortreißen. Nach siebenjährigem Schweigen kündigte er in Hardens »Zukunft« seine neue Lyrik an.

»Eine Lyrik, die auf jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet, und die, rein formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt. Eine solche Lyrik, die von jedem überlieferten Kunstmittel absieht, nicht, weil es überliefert ist, sondern weil sämtliche Werte dieser Gruppe längst aufgehört haben, Entwickelungswerte zu sein, habe ich in meinem Buche versucht. – Wozu noch der Reim? Der erste, der – vor Jahrhunderten! – auf Sonne Wonne reimte, auf Herz Schmerz und auf Brust Lust, war ein Genie, der Tausendste, vorausgesetzt, daß ihn diese Folge nicht bereits genierte, ein Kretin. Brauche ich denselben Reim, den vor mir schon ein anderer gebraucht hat, so streife ich in neun Fällen von zehn denselben Gedanken . . . . So arm ist unsere Sprache an gleichauslautenden Worten, so wenig liegt dies »Mittel« in ihr ursprünglich, daß man sicher nicht allzusehr übertreibt, wenn man blind behauptet, fünfundsiebzig Prozent ihrer sämtlichen Vokabeln waren für diese Technik von vorn herein unverwendbar, existierten für sie gar nicht. Ist mir aber ein Ausdruck verwehrt, so ist es mir in der Kunst gleichzeitig mit ihm auch sein reales Aequivalent . . . Aehnlich die Strophe. Wie viele prachtvollste Wirkungen haben nicht ungezählte Poeten Jahrhunderte lang mit ihr erzielt! Wir alle, wenn wir Besseres nicht zu thun wissen und alte Erinnerungen locken, wiegen uns noch in ihr. Aber ebensowenig wie die Bedingungen stets dieselben bleiben, unter denen Kunstwerke geschaffen werden, genau so ändern sich auch fortwährend die Bedingungen, unter denen Kunstwerke genossen werden. Unser Ohr hört heute feiner. Durch jede Strophe, auch durch die schönste, klingt, sobald sie wiederholt wird, ein geheimer Leierkasten. Und gerade dieser Leierkasten ist es, der endlich aus unserer Lyrik heraus muß. Was im Anfang Hohes Lied war, ist dadurch, daß es immer wiederholt wurde, heute Bänkelsängerei geworden.«

Und nach diesem neuesten Rezept dichtete er nun seine Liedersammlung »Phantasus« in einem Stil, den er vor Jahren schon einmal in der Freien Bühne angeschlagen hatte und den man nicht mit Unrecht »lyrischen Depeschenstil« taufte. Einige Beispiele!

                  Schmerz.

Vergeben?
Ich?
Dir?
Längst!
Ich that's, noch eh' ich's wußte.

Aber vergessen?
Vergessen??

Ach, wenn ich's könnte!! Oft,
mitten im hellsten Sonnenschein,
wenn ich fröhlich bin,
und »an nichts denke«,
plötzlich,
da:
Grau hockt es vor mir,
wie eine Kröte!
Und alles, alles scheint mir wieder schal!
Schal und trostlos.
Das ganze Leben.

Und ich bin traurig, traurig über dich
und – mich. 350

 

            Herbst.

Eine Düne.
Auf ihr
einsam
ein Haus,
draußen Regen,
ich am Fenster.

Hinter mir
Ticktack
einer Uhr,
meine Stirn
gegen die Scheibe.

Nichts.
Alles vorbei!
Grau ist der Himmel,
Grau ist die See
und grau
das Herz.

Ich bin ein Stern. Ich glänze.
Thränenbleich
hebst du zu mir dein Gesicht;
deine Hände
weinen.

Tröste mich!
Ich glänze.
Alle meine Strahlen
zittern in dein Herz. –

Alles Ernstes glaubt Arno Holz, daß dieser neue Stil von allen Dichtern später angenommen werden müsse, wenn nicht die Lyrik im Dilettantismus der Form vollständig untergehen solle. Nur ein Arno Holz kann verlangen, daß man ihm auf solche Behauptung ernsthaft antwortet – nämlich: daß gerade dieser neue Stil dem Dilettantismus die Pforten sperrweit öffnen würde, denn so kann schließlich jeder – »dichten«. Den besten Beweis dafür hatte der Erfinder darin, daß sogleich eine Anzahl Jünger bei demselben Verleger (Sassenbach in Berlin) in derselben Manier zu dichten anfingen. Ich schlage da von Georg Stolzenberg »Neues Leben« auf und finde darin:

Ein Engel,
hebt mich, reißt mich aus der lieben Erde.
Du warst gut.
Ich verpflanze dich ins Paradies.
Laß mich.
Horch mal,
wie drollig dort der Sperling piepst! –

Ist das nun von Holz oder Stolzenberg? Ja – ist es überhaupt wert, von irgend jemandem zu sein? Ewig schade ist es nur um den Dichter des »Buches der Zeit«!

Aber um dieselbe Zeit hatte sich noch eine andere Gruppe von Dichtern zusammengefunden, die ebenfalls einen neuen Stil schaffen wollte.

Einer von ihnen war bereits früher hervorgetreten: Hugo von Hofmannsthal (geb. 1. Febr. 1874 in Wien). Sehr früh hatte er Dichtungen veröffentlicht, so mit siebzehn Jahren sein »Gestern« (1891), drei Jahre später »Der Thor und der Tod« (1894). Aber das erste Mal hatte er sich »Teofil Morren« und das zweite Mal »Loris« genannt. Damals führte ihn Hermann Bahr, der eben wieder nach Wien gegangen war, mit Begeisterung in die Litteratur ein. Aber Hofmannsthal suchte sich später seinen eigenen Kreis, und so fand sich eine junge Gesellschaft Poeten zusammen, von denen man sagen kann, daß sie jetzt recht geflissentlich 351 das Gegenteil der früheren Jüngstdeutschen darstellten. Hatten zehn Jahre zuvor die jungen Leute nicht früh genug in die Oeffentlichkeit treten können, so machte dieser neue Kreis es sich geradezu zum Gesetz, zunächst völlig vornehm im Verborgenen zu bleiben. Die deutsche Jugend wurde ja unter dem Einflusse Nietzsches »vornehm«. Das war das neueste Schlagwort! Und so sammelten sie sich in einem ausschließenden Kreise und gründeten sich eine Zeitschrift »Blätter für die Kunst«, die keineswegs für Geld bezogen werden konnte, sondern »einen geschlossenen von den Mitgliedern geladenen Leserkreis« sich heranbildete. Und diese Zeitschrift kündigte nun ihre Zwecke – in höchst sonderbarer Orthographie – an mit den Worten:

»Sie will die Geistige Kunst auf grund der neuen fühlweise und mache – eine kunst für die kunst – und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang, sie kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen in denen man gegenwärtig bei uns den keim zu allem neuen sieht, die ja sehr schön sein mögen, aber in ein anderes gebiet gehören als das der dichtung.« –

Den Gegensatz gegen die früheren Bestrebungen drückte man nicht zusammenhängend aus, sondern – da Nietzsche ja aphoristisch geschrieben hatte – so orakelte man auch hier nur in Merksprüchen:

»Zwischen älterer und heutiger kunst giebt es allerdings einige unterschiede: – Wir wollen keine erfindung von geschichten sondern wiedergabe von stimmungen keine betrachtung sondern darstellung keine unterhaltung sondern eindruck. – Die älteren dichter schufen der mehrzahl nach ihre werke oder wollten sie wenigstens angesehen haben als stütze einer meinung; einer weltanschauung – wir sehen in jedem ereignis jedem zeitalter nur ein mittel künstlerischer 352 erregung, auch die freiesten der freien konnten ohne den sittlichen deckmantel nicht auskommen (man denke an die begriffe von schuld u. s. w.) der uns ganz wertlos geworden ist.

Drittens die kürze – rein ellenmäßig – die kürze. – das Gedicht ist der höchste der endgültige ausdruck eines geschehens; nicht wiedergabe eines gedankens sondern einer stimmung. was in der malerei wirkt ist verteilung linie und farbe, in der dichtung: auswahl maß und klang. – Viele die über ein zweckgemälde oder ein zwecktonstück lächeln würden glauben trotz ihres leugnens doch an die zweckdichtung. auf der einen seite haben sie erkannt daß das stoffliche bedeutungslos ist, auf der andern suchen sie es beständig und fremd ist ihnen eine dichtung zu genießen. – Erzählung. Man verwechselt heute kunst (literatur) mit berichterstatterei (reportage) zu welch letzterer gattung die meisten unserer erzählungen (sogen. romane) gehören. Ein gewisser zeitgeschichtlicher wert bleibt ihnen immerhin obgleich er nicht dem der tagesblätter gerichtsverhandlungen behördlichen zählungen u. ä. gleichkommt. – Eine neubelebung der Bühne ist nur durch ein völliges inhintergrundtreten des schauspielers denkbar.«

Versuchen wir diese Orakelsprüche näher zu beleuchten.

Worauf die neue Schule ausging, – denn als eine solche muß man den Verein dennoch bezeichnen, – das war: die ganze Dichtung in Stimmung aufzulösen. Man kann den Gedanken jener Allerneuesten etwa so nachdenken: Der Mensch wird in Schicksale verwickelt und erlebt ein äußeres Geschehen – diese Erlebnisse zu schildern wäre also Reporterdienst, einfache Berichterstattung. Aber das Ergebnis all des Geschehens ist ein Zustand, in den der Mensch versetzt wird; diesen zu schildern wäre naturalistische Zustandsmalerei. Aber drittens: während der Mensch das äußere Geschehen erlebt und in jenen neuen Zustand eintritt, empfindet er Stimmungen: diese festzuhalten wäre, nach dieser allerneuesten Theorie, die einzige Aufgabe der Dichtung.

So hat das eigentliche Haupt der neuen Schule Stefan George (geb. in Bingen a/Rh. 1865) zwei »Trilogien« herausgegeben, die jede für sich einen sonderbaren lyrischen Niederschlag epischen Geschehens darstellt. Die erste besteht aus den drei Teilen »Hymnen«, »Pilgerfahrten« und »Algabal«. Der Verfasser leitete sie selbst durch folgende Vorbemerkung ein:

»Es steht wol an vorauszuschicken daß in diesen drei werken nirgends das bild eines geschichtlichen – oder entwicklungsabschnittes entworfen werden soll; sie enthalten die spiegelungen einer seele die vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist und sich dort gewiegt hat. dabei kamen ihr begreiflicherweise ererbte vorstellungen ebenso zu hilfe als die jeweilige wirkliche umgebung; einmal unsere noch unentweihten thäler und wälder ein andresmal unsere mittelalterlichen ströme dann wieder die sinnliche luft unserer angebeteten städte. Jede zeit und jeder geist rücken indem sie fremde und vergangenheit nach eigner art gestalten ins reich des persönlichen und heutigen und von unsern drei großen bildungswelten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt.«

Aber diese so komplizierte Dichtungsart des Herrn George bedurfte eines ganz besonderen Erklärers, der dem Publikum gegenüber den Schulmeister spielen mußte. Dieser Rolle hat sich Herr Karl August Klein unterzogen:

»Jedes einzelne Gedicht ist ein Bild, eine Szene. Handelnde Person ist überall die Seele des modernen Künstlers. In den Hymnen sehen wir sie mit noch deutlicher Weltfreude über Gärten und Uferlandschaften schweben, in den Pilgerfahrten tritt sie uns entgegen unter dem Symbol des Wanderers mit sehnsüchtigen, aber unterdrückten Leidenschaften, in Algabal unter dem Symbol des byzantinischen Imperators, der im Rieseln der Metalle und überreichen 353 Gewänder sich zu Tode trauert. Im ersten Buch herrschen Trompete und Pauke vor, im zweiten Leier und Flöte, im dritten lange vibrierende Fiedelstriche, die wie Verzweiflung klingen und den Sinn verwirren.«

Etwas Sinnverwirrendes hat diese neue Kunst ganz natürlich. Wer das männliche Bedürfnis hat, zu wissen: was er liest und wovon die Rede ist, dem wird bei dieser ewigen pflaumenweichen Stimmungsträumerei schließlich schlimm und weh zu Mute. Und darin haben George und seine Schar sehr unrecht, wenn sie glauben, sich auf drei frühere deutsche Dichter beziehen zu dürfen: erstens auf Goethe! Freilich, eine so reiche Natur, wie der Altmeister, bietet jedem eine Seite dar, und er hatte auch weiche Augenblicke, wo er von der »Ruh' über allen Wipfeln« träumte; aber wenn er einen Roman oder ein Epos schrieb, dann zerfaserte er seinen Stoff nicht zu inhaltlosen Stimmungen, sondern dann erzählte er Handlungen und schilderte Gestalten – und wenn auch Herr George darum das göttliche Lied von »Hermann und Dorothea« für einen »Reporterbericht« erklären sollte. Zu Unrecht auch beruft man sich auf Jean Paul und Hardenberg-Novalis, als ob nicht der eine seine Zerfahrenheit durch seinen sprühenden Geist gewürzt und der andere für seine gestaltlose Träumerei in einer tiefen und ehrlichen Religiosität den Wurzelboden gefunden hätte. George aber ist ein bloßer Formalist, ein bloßer Wortkünstler, der mit musikalischen Klängen Stimmung zu machen weiß. Gerät doch sein eifrigster Bewunderer Richard M. Meyer z. B. in Entzücken darüber, wie George einmal die bleiche Färbung eines Raumes mit bleichen Vokalen ausmalt:

»Daneben war der raum der blassen helle
der weißes licht und weißen glanz vereint,
das dach ist glas, die streu gebleichter felle
am boden schnee und oben wolke scheint.« –

Ein besseres Beispiel von Georges künstelnder Sprachfertigkeit scheint mir aber folgendes Gedicht zu geben:

                            Weihe.

Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre
im linden winde ihre fahnen schwingen
und wehren junger wellen schmeichelchore,
zum ufermoose kosend vorzudringen.

Im rasen rastend sollst du dich betäuben
an starkem urduft, ohne denkerstörung,
so daß die fremden hauche all zerstäuben.
Das auge schauend harre der erhörung:

Siehst du im takt des strauches laub schon zittern
und auf der glatten fluten dunkelglanz
die dünne nebelmauer sich zersplittern?
Hörst du das elfenlied zum elfentanz?

Schon scheinen durch der zweige zackenrahmen
mit sternenstädten selige gefilde,
der zeiten flug verliert die alten namen
und raum und dasein bleiben nur im bilde. 354

Nun bist du reif, nun schwebt die herrin nieder,
mondfarbene gazeschleier sie umschlingen,
halboffen ihre traumesschweren lider
zu dir geneigt, die segnung zu vollbringen;

Indem ihr mund auf deinem antlitz lebte
und sie dich rein und so geheiligt sah
daß sie im kuß nicht auszuweichen strebte
dem finger stützend deine Lippe nah. –

Die übrigen Dichter, die sich um George scharen, sind: Hugo von Hofmannsthal (geb. 1. Febr. 1894 in Wien), Paul Gerardy, Karl Wolfskehl (geb. 7. Sept. 1869 in Darmstadt), Ludwig Klages, Leopold Andrian, Richard Perls, Max Dauthendey, Oscar Schmitz, Ernst Hardt, Karl Gustav Vollmoeller, August Oehler. Einer weiteren Oeffentlichkeit sind sie zuerst bekannt geworden durch einen Aufsatz des Berliner Universitäts-Dozenten Richard M. Meyer: »Ein neuer Dichterkreis« (Preuß. Jahrb. April 1897). Einen Auszug aus ihrer Zeitschrift mit Beiträgen aller Mitglieder ihres Kreises boten sie zwei Jahr später der Oeffentlichkeit dar unter dem Titel »Blätter für die Kunst, eine Auslese aus den Jahren 1892–1898« (Berlin 1899). Gleichzeitig erschienen bei demselben Verleger Stefan Georges Werke, die vorher nur als Manuskriptdruck an Freunde vergeben worden waren, in einer zweiten, für den Buchhandel bestimmten Ausgabe in drei Bänden.

Der bedeutendste von seinen Freunden ist zweifellos Hofmannsthal, der auch weit höher zu stellen ist als der künstelnde George. Ja, er ist wirklich geboren zum Lyriker – und zwar zum Lyriker größten Stils, bei dem Gedanke, Empfindung und Wort in Eins klingen; aber er will als Dramatiker gelten, und gerade das ist ihm versagt, wenigstens – solange er sich nicht von dem, alles Leben tötenden, Dogma der Herren George und Klein befreien kann, die im scharfen Erfassen des Gegenständlichen, in der Handlung und der plastischen Charakteristik das Reportergeschäft erblicken. Uebrigens scheint Hofmannsthal sich auch schon langsam von diesem Dogma zu lösen. – Als die Freie Bühne sein Schauspiel »Die Frau am Fenster« brachte, stand jeder Nichteingeweihte diesem sonderbaren Werke verständnislos gegenüber. Grelle typische Gegensätze in der Charakteristik: Ein schrecklicher grüngekleideter Mann, der ein starkes Pferd ohrfeigt, daß es zittert wie ein Hund; der einen gesetzlich geschützten Gesandten auffordert, den Brief zu »fressen«, den er eben selbst gebracht hat, und den sich Weigernden in die Etsch werfen läßt; und seine Frau, ein ganz verträumtes Wesen, die nachts am Fenster steht und die Strickleiter hinabwirft, auf der das Ideal ihrer Seele hinaufklimmen soll! Und in diesem Augenblick wird die Frau abgefaßt von ihrem grünen Mann und verfällt einer unheimlichen Rache, die man nicht versteht. Ja, man versteht das ganze Stück nicht; aber nach der Ansicht der George-Schule soll man auch ein Kunstwerk nicht verstehen. – Fast das ganze Stück ist ein Monolog der Frau, nur vorübergehend unterbrochen durch ein Gespräch mit ihrer Amme. Alles, was der Mann thut, geschieht hinter den Coulissen. Nur immer steht die Frau am Fenster 355 und thut das, was die Freie Bühne früher als Eselsbrücke verpönt hatte: sie hält reflektierende Monologe und erzählt in direkter Charakteristik sich selbst, was sie erlebt hat und was sie empfindet. Das Ganze ist eben kein Drama, sondern ein gesprochenes Bild: »Die Frau am Fenster«. Auf der Bühne ist es unmöglich; beim Lesen aber entzückt es durch Gedankentiefe und seelenvolle Verssprache. Eine lebendigere Handlung erfand Hofmannsthal in seiner »Hochzeit der Sobeïde«. Aber die Geschichte von der Frau, die ihren geistvoll edlen Mann in der Hochzeitsnacht verläßt, um einen ihr längst untreu gewordenen Geliebten im Hause seines reichen und geizigen Vaters aufzusuchen und sich da so lächerlich zu machen, daß ihr nur noch der Tod übrig bleibt – diese Geschichte an sich ist gewiß ohne Natur, ohne Wahrheit und Reiz. Aber die einzelnen Bilder sind mit Künstlerauge angeschaut, und die Sprache ist stellenweise durchdrungen von Schönheit und Weisheit. Darum möchte ich den Höhepunkt von Hofmannsthals Schaffen in seinem früheren Drama »Der Tod des Tizian« suchen. Hier ist gar kein wirkliches Drama versucht. Der Held betritt die Bühne gar nicht. Die ahnungsvollen Schauer seines Sterbens schweben nur über der harrenden Schar seiner Getreuen, die von ihm schwärmen und in wunderbarer Sprache den Meister der Schönheit feiern:

Gianino. Er hat den regungslosen wald belebt;
Und wo die braunen weiher murmelnd liegen
und epheuranken sich an buchen schmiegen,
da hat er götter in das nichts gewebt:
Den satyr der die syrinx tönend hebt,
bis alle dinge in verlangen schwellen
und hirten sich den hirtinnen gesellen . . .

Batista. Er hat den wolken die vorüberschweben,
den wesenlosen, einen sinn gegeben;
der blassen weißen schleierhaftes dehnen
gedeutet in ein blasses süßes sehnen,
der mächt'gen goldumrundet schwarzes wallen
und runde graue die sich lachend ballen
und rosig silberne die abends ziehn:
Sie haben seele, haben sinn durch ihn.
Er hat aus klippen, nackten, fahlen, bleichen,
aus grüner wogen brandend weißen schäumen,
aus schwarzer haine regungslosen träumen
und aus der trauer blitzgetroffner eichen
ein menschliches gemacht das wir verstehen
und uns gelehrt den geist der nacht zu sehen.

Paris. Er hat uns aufgeweckt aus halber nacht
und unsre seelen licht und reich gemacht . . . 356

 


 


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