Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Viertes Kapitel.

Das neue Kunstgesetz wird entdeckt.

Während all des eifrigen Strebens ringsumher hatte Arno Holz, wie es schien, sich ganz zurückgezogen in sein Inneres; daß er an dem Wendepunkt seines Schaffens stehe, hatten wir schon vier Jahre zuvor in den Kreisen der jungen Genossen vermutet. Ich hatte ihn damals in seiner Einsiedlerwohnung im Dorfe Niederschönhausen im Norden von Berlin aufgesucht. Doch hatte eine innerliche Annäherung nicht stattgefunden. Dann ging er auf Reisen, und später hörte man, daß er wieder in seiner Dorfwohnung sitze und sich damit beschäftige, den »konsequenten Naturalismus« zu entdecken. Von dieser Entdeckung sollte die Welt bald genug hören. Den ganzen rätselhaften Vorgang aber, wie aus dem für Menschheitsideale glühenden, liederfrohen, in Gedankenfülle und Klangschönheit schwelgenden Dichterjüngling ein grämlicher, spintisierender, tüftelnder Grübler geworden war, – diesen sonderbarsten Entwickelungsgang, den vielleicht jemals die Lebensgeschichte eines hochbegabten Dichters aufzuweisen hatte – er hat ihn selber zwei Jahre später in einem ebenso merkwürdigen Buche niedergelegt, das den 147 trocknen Titel führt: »Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze« (Berlin 1891), das aber in Wahrheit eine Schilderung seines Seelenlebens in diesen Jahren ist – ergreifend, ja rührend für jeden, der da weiß, welche gewaltige Dichterkraft sich hier in schweren inneren Geisteskämpfen nutzlos zerrieben hat. Bedeutungsvoll für die weitere Entwickelung der ganzen litterarischen Revolution aber wurde dieses innere Ringen: denn wir werden bald sehen, wie das, was Arno Holz einsam in seinem Grüblerstübchen sich ertüftelt hatte, wie eine neue Offenbarung in die Seele eines andern jungen Ringers strahlte, der dann bald der letzte und gewaltigste Machthaber der litterarischen Revolution werden sollte. So decken wir denn die geheimsten inneren Zusammenhänge dieses Abschnitts unserer Geistesgeschichte auf, wenn wir uns in die damaligen Seelenqualen von Arno Holz versetzen, die für so viele der Ernsten unter den damaligen Jüngsten typisch waren. Er selbst erzählt uns:

»Es war auf einer Reise in den Hundstagen gewesen nach meiner Heimat, die ich schon seit zehn Jahren nicht gesehen hatte. Die letzte Poststation war erreicht, von da holte mich ein kleines Wägelchen ab, das sehr schön nach Teer und Leder roch und mir noch sehr gut bekannt war. Es hatte uns Jungens früher immer zu den Ferien abgeholt. Und während es sich nun von dem Kruge aus, wo es gehalten hatte, schon in Bewegung setzen wollte, und die beiden Braunen davor gerade anzogen, reichte mir der Wirt, der zugleich der Postmeister des Dörfchens war, noch schnell ein Paketchen nach, das schon mehrere Tage hier in aller Stille auf mich gewartet hatte und nun doch um ein Haar fast vergessen worden wäre. Mein Herz schlug, als ich es zwischen den Fingern fühlte. Ich wußte genau, was in ihm drin war. Schweizer Marken, mit denen es beklebt war, hatten mir bereits alles verraten. Und während es nun stuckernd die Dorfstraße hinunterging und die Hunde aus den Höfen her bellten und die Kinder auf Spitzzehen hinter den Zäunen standen, verbrannt und flachshaarig, und die Finger in den schmutzigen Mäulern und die meisten nur im Hemde und barfuß, und über Allem die Sonne schien; saß ich da, das kleine zierliche Rechteckchen da vor mir auf den Knieen, kreuzvergnügt und dabei doch vor Ungeduld fast vergehend, daß die letzten Strohdächer hinter uns verschwänden und wir erst wieder zwischen den gelben Kornfeldern wären. Denn ich hätte meinen Kopf drauf gelassen; hinter diesem kleinen grauen Pappumschlag verbarg sich absolut nichts andres, als das erste Exemplar meines ersten »Werkchens«! Was ich früher bereits geschrieben hatte, »rechnete« ich nicht. Und es wäre mir geradezu wie eine Art »Entweihung« vorgekommen, wenn ich es nun hier, mitten zwischen den kakelnden Hühnern, enthüllt hätte und nicht draußen, wo der Himmel hoch oben voller Lerchen hing und von den Wegrändern her die roten Klatschrosen grüßten und aus der Ferne die Wälder. Ich war damals eben noch sehr, sehr jung. . . . Endlich! die Bindfaden waren zu fest verknotet, ich zerschnitt sie. Hurra, da lag es, »Das Buch der Zeit! Lieder eines Modernen. Zürich.« Sauber gedruckt, mit rotem Titel und auf schönem, wunderschönem, gelbweißem Papier.«

Doch war später der erhoffte stürmische Erfolg ausgeblieben, wenn gleich die kritische Anerkennung nicht fehlte. Scherr, der »Alte vom Zürichberg«, dem Holz das Werk widmete, hatte zur Antwort geschrieben: »Das Buch steht in Gehalt und Form hoch über den gewöhnlichen Tageserscheinungen.« Und Graf Schack hatte gar geäußert: »Keine andere in den letzten Jahren erschienene lyrische Sammlung hat einen gleich großen Eindruck auf mich gemacht.«Die Urteile sind angedruckt in Holz und Schlaf, Familie Selicke. Berlin, 1890.

Der junge Dichter aber zerbrach sich den Kopf, warum das Buch nicht eingeschlagen und mehrere Auflagen erlebt hätte, und kam endlich auf den Gedanken: 148 »Hatten meine Freunde, die den Vers für die überwundene Form einer überwundenen Epoche erklärten, recht? War ich ins Verkehrte getappt? Hatte ich eine Handvoll Glühwürmer fälschlich für einen Himmel von Sternen angesehen? Hatte ich die Posaunen von Jericho gehört, wo nur ein Grasmückenkonzert war? Und mußte ich nun, um meiner Zeit, die ich liebte und der mein ganzes Herz gehörte, gerecht zu werden, um ihr nicht gar zu sehr hinterdrein zu tappen, von neuem anfangen? Von der Pike wieder auf?«

Damit begann eine Schwäche seines Charakters sich zu zeigen, jene Schwäche, die bald so typisch werden sollte für den größten Teil der jungen Generation. Holz hätte von der ästhetischen Betrachtungsweise, der er sich nun zuwendete, vor allen Dingen lernen sollen, daß alle Großen in der Kunst und im Geistesleben ihrer Zeit trotzig gegenüberstehen und sie in die Bahnen ihres eigenen Denkens zu lenken suchen. Goethe hat mit seinem »Götz von Berlichingen« und mit seinem »Werther« die Epoche der Ritterstücke und Thränenromane für Deutschland geschaffen, und während die andern kamen, um das hundertfach nachzuahmen, eilte er, seinen Zeitgenossen wieder unverständlich, seinen neuen klassischen Zielen zu. Das deutlichste Beispiel dafür, daß der wirklich Große seiner Zeit eben nicht knechtisch dient, hatten gerade vor der jüngstdeutschen Revolution Schopenhauer, der Philosoph, und Wagner, der Tondichter, gegeben, die jahrzehntelang abseits von aller Zeitrichtung auf ihrem eigenen Standpunkte beharrt und das Gegenteil der Mode und des Zeitgeschmacks mit Heldenmut vertraten, bis sie in ihrem Alter die wunderbare Ernte solch überzeugungsvollen Mannestrotzes einheimsten, indem sie als Greise mit dem endlichen Durchbruch ihrer stillen großen Gedanken wie Könige die Welt beherrschten. Wie klein erscheint neben ihnen der Poet, der beim mangelnden äußeren Erfolge seines Liederbuches scheu umherblickt mit der bangen Frage: Ich darf wohl keine Verse mehr machen?

Und nun folgt sehr charakteristisch eine Unterhaltung am Biertisch, wo ihn die Freunde necken:

»Verse thun's heut freilich nicht:
Prosa, Freundchen, platte Prosa.«

Dieser Spott der Freunde wandelte sich aber in der rastlos arbeitenden Seele des jungen Dichters in bittern Ernst. »Alles in mir war in Trümmer gegangen, und doch verrann kaum eine Woche, in der nicht irgend noch etwas nachstürzte. Und was das Sonderbarste dabei war, das Tollste, ich empfand darüber jedesmal noch so eine Art zorniger Freude, etwas wie eine Genugthuung.« Er fing an mit Hohn auf seine frühere Dichterperiode zurückzublicken und schildert sie spöttisch und schon mit merklichem Anstrich von Blasiertheit. Ja, er wandte ironisch auf sich ein Wort an, das er einst für einen geplanten Romanhelden ersonnen hatte: »Die Sonne schien ihm Lieder ins Herz, und der Regen tropfte ihm Melodien ins Ohr.« – Und nun sollte es mit vollen Segeln in das Land der Prosa hineingehen.

Im Winter saß er in jenem Häuschen am Waldrande und begann einen Roman, der »Goldene Zeiten« heißen und mit Kindheitserinnerungen des Helden 149 beginnen sollte, der gern von Holland träumte: »In Holland mußten die Paradiesvögel entschieden schöner pfeifen und die Johannisbrotbäume noch viel, viel wilder wachsen.« – Als Holz diese letzten Worte geschrieben hatte, gefielen sie ihm so besonders gut, daß er aufstand und die Feder weglegte: »Und plötzlich, mir selbst zur Ueberraschung, weil ich mich sonst, in ähnlichen Fällen, noch nie danach gefragt hatte, stutzte ich und fragte ich mich: warum?«

Man merkt deutlich, wie ihm in diesem Augenblicke der letzte Rest von künstlerischer Naivetät verloren ging. Von jetzt an wird er zum Grübler über dieses Warum: »Und ich sagte mir, und das ließ mich auf einen Augenblick meinen ganzen Roman vergessen und meine Pfeife abermals ausgehn, wenn ich dahinter käme, befände ich mich überhaupt erst in vollem Besitze meines Handwerkszeuges . . .«

So legte denn der Dichter seine Dichtung beiseite und wurde zum ästhetischen Grübler:

»Ich wurde Stammgast in der Kgl. Bibliothek. Die Gelehrsamkeit, sagte ich mir, ist der Grützberg, und durch den mußt du dich nun durchfressen. Dann kommst du in das gelobte Schlaraffenland, wo die Knödelbeete und die Leberwurstbäume auch für die Poeten wachsen, und die Weisheiten werden dir immer nur so gebraten in den Mund fliegen.«

Aber natürlich betrog ihn diese Hoffnung. Und so warf er denn mit dem erwachenden Frühling die Bücher wieder beiseite und floh hinaus ins weite Land. Holland, das ihm nun plötzlich so bedeutungsvoll geworden, war sein Ziel. Zu seinem großen Aerger traten ihm auf seiner Fahrt durch die Nordsee schöne Verse über die Lippen:

»Und ich war doch schon so köstlich naiv gewesen, mir einzubilden, ich hätte es mir nachgerade »abgewöhnt«.

Größerer Enttäuschung ging er in Holland entgegen, eilte weiter nach Paris und studierte dort Zolas theoretische Schriften. Aber er fühlte sich auch hier zum Widerspruch gereizt, namentlich, wenn jener behauptet, der Roman müßte dem Experimente eines Chemikers gleichen, der zwei Stoffe sich miteinander vereinigen läßt. Holz meint:

»Jene Vereinigung der beiden Stoffe des Chemikers, wo geht sie vor sich? In seiner Handfläche, in seinem Porzellannäpfchen, in seiner Retorte. Also jedenfalls in der Realität. Und die Vereinigung der beiden Stoffe des Dichters? Doch wohl nur in seinem Hirn, in seiner Phantasie, also jedenfalls nicht in der Realität. Und ist es nicht gerade das Wesen des Experiments, daß es nur in dieser und ausschließlich in dieser vor sich geht?«

Es ließe sich hier Herrn Arno Holz manches entgegnen. Für jemanden, der vollständig auf einem materialistischen Standpunkt steht, ist ja auch die Welt der Gedanken und der Phantasie etwas Materielles. Und schließlich – was ist denn überhaupt nicht in der Realität? Ist doch auch das Eingebildete, ja die bewußte Lüge selbst eine Realität, sonst würde sie doch überhaupt nicht vorhanden sein.

Aber wir wollen den Herren Taine, Zola und Holz gar nicht in dies Gebiet grauester Theorie folgen, wo man vor lauter Nachdenken über die Realität schließlich die Realität selbst unter den Füßen verliert. Genug, daß wir von Arno Holz selbst erfahren, daß seine »schöne Wanderlust ins Blaue« jetzt verblaßte, daß er 150 sich im nächsten Sommer wieder in seinem Dorfhäuschen fand, und daß es mit dem ursprünglichen Dichten bei ihm vorbei war. Und dieser Vorgang in seiner Seele ist so charakteristisch für die damalige Jugend, daß wir ihn selbst deutlich als Studienobjekt ins Auge fassen und in seinen ehrlichen Selbstbekenntnissen eines der allerinteressantesten »documents humains« erblicken müssen:

»Das Problem, dem nachklettern zu wollen ich nun einmal leichtsinnig genug gewesen, zwang mich unerbittlich wieder in meinen Käfig zurück. . . . Und das war mir sehr fatal; denn ich hatte alle Taschen gefüllt mit Plänen zu produktiven Arbeiten, und so oft ich mich nun an eine solche heranmachte, und ich machte mich an eine ganze Reihe, warfen sich mir meine theoretischen Bedenken regelmäßig wie Knüppel zwischen die Beine.«

Und seine neuesten meist naturwissenschaftlichen Studien brachten ihn denn zu der Erkenntnis der großen allgemeinen Gesetzmäßigkeit. Dieser großen allgemeinen Gesetzmäßigkeit mußte ja auch die Kunst untergeordnet sein: »All unser gegenwärtiges Wissen von der Kunst kann sich deshalb noch keine Wissenschaft von der Kunst nennen, weil die Gesetze, die seine einzelnen Thatsachen miteinander verknüpfen, noch samt und sonders auf ein solches letztes, ursächliches zurückweisen . . .« Um dies zu erforschen, geht er aber einen ganz falschen Weg: Wenn nämlich z. B. die Chemiker im Laufe der Zeit Hunderte und Tausende von organischen Körper untersucht und immer und immer wieder bei der verschiedenartigsten Zusammensetzung im übrigen stets auch den Kohlenstoff gefunden haben, so ist es ihnen zur Ueberzeugung geworden, daß hier ein großes Gesetz vorliegt, und so nennt man heute denn die organischen Körper schlechthin die Kohlenstoffverbindungen. Man würde sie aber nicht mehr so nennen von dem Augenblicke an, wo sich nachweislich ein organischer Körper finden würde, in dem sich kein Kohlenstoff nachweisen ließe. Das ist die Art, wie man »empirisch« – erfahrungsmäßig – forscht. Das ist der eigentliche Sinn der naturwissenschaftlichen Methode.

Wie aber forscht Arno Holz? Er will sich nur an einen einzigen Gegenstand halten und schreibt ganz gemütlich:

»Ich brauchte jetzt aus der Masse des Vorhandenen nur die erste beste herauszugreifen, die von mir als notwendig erachtete Analyse an ihr zu vollziehen, das Ergebnis derselben durch ein mehr oder minder großes Material zu bewahrheiten, respektive betreffend zu rektifizieren, und mein Problem war gelöst. Gleichgültig, ob diese Thatsache nun eine indische Pagode, ein Wagner'sches Musikdrama, ein Garten aus der Rokokozeit, oder eine Kielland'sche Novellette gewesen wäre. . . .«

Wie willkürlich solche Wahl ist, braucht gar nicht erst hervorgehoben zu werden. Aber immerhin traf er nicht die schlechteste, und man schöpft Hoffnung, wenn Holz fortfährt: »Ein Bild wie die Sixtinische Madonna mußte mir dieses Gesetz ebensogut liefern wie eine Pompejanische Wandmalerei oder das Menzel'sche »Eisenwalzwerk«. Aber schwer enttäuscht uns schon der Nachsatz: »Nur sah ich mich aber leider bereits nach dem oberflächlichsten Nachdenken über diese Werke zu dem Geständnis gezwungen, daß sie mir durchweg zu kompliziert waren. Eine ausreichende Analyse irgend eines derselben, darüber durfte ich mich gar keinen Augenblick einer leichtsinnigen Hoffnung hingeben, wäre mir schlechterdings unmöglich gewesen.«

151 Nun, dann mußte er die Untersuchung lassen; statt dessen kommt er auf den naivsten aller Einfälle:

»Vor mir auf meinem Tische liegt eine Schiefertafel. Mit einem Steingriffel ist eine Figur auf sie gemalt, aus der ich absolut nicht klug werde. Für ein Dromedar hat sie nicht Beine genug und für ein Vexierbild: »Wo ist die Katz?« kommt sie mir wieder zu primitiv vor. Am ehesten möchte ich sie noch für eine Schlingpflanze oder für den Grundriß einer Landkarte halten. Ich würde sie mir vergeblich zu erklären versuchen, wenn ich nicht wüßte, daß ihr Urheber ein kleiner Junge ist. Ich hole ihn mir also von draußen aus dem Garten her, wo der Bengel eben auf einen Kirschbaum geklettert ist, und frage ihn. »Du, was ist das hier?«

Und der Junge sieht mich ganz verwundert an, daß ich das überhaupt noch fragen kann, und sagt: ›Ein Soldat‹!«

Ungeheuer wortreich entwickelt nun Holz folgende Schlußreihe:

»Der Knabe hat einen Soldaten zeichnen wollen, es ist ihm aber nicht gelungen, weil er erstens kein genügendes Arbeitsmaterial hatte und zweitens es auch nicht gehörig zu handhaben verstand.« Und daraus leitet er nun das so eifrig gesuchte Kunstgesetz ab: »Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung.«

Mit Händen ist es zu greifen, wo in dieser Form der unbewußte Selbstbetrug des Verfassers steckt. Was Holz aus diesem sogenannten Kunstwerk des Knaben herleiten könnte, das hätte er doch nur in die Worte fassen dürfen: Die Kunst dieses Knaben hat die Tendenz u. s. w. Statt dessen setzt er, jenem schon oben von mir aufgedeckten Irrtum folgend, dieses eine »Kunstwerk« an Stelle sämtlicher Kunstwerke! Hätte er nur zum Vergleich etwa Goethes Iphigenie, oder wenn es doch ein gemaltes Kunstwerk sein sollte, Raphaels Sixtina, daneben untersucht, so würde er zu dem Resultat gekommen sein: Die Kunst dieses berühmten Meisters hat die Tendenz, von der Natur nur die edelsten Formen zu entnehmen und sie mit heiligem Gefühlsinhalt zu erfüllen. Ja, durch die Gegenüberstellung dieser Tendenz des kritzelnden Knaben und jener Tendenz eines reifen Meisters wäre er vielleicht auf den Gedanken gekommen, ein ganz anderes Gesetz aufzustellen oder wenigstens neu zu begründen. Er hätte vielleicht zwischen jenem stümperhaften Kunstversuch des Kindes und den naturalistischen Kunstanfängen vieler Völker einen Vergleich gezogen und seinen Satz von der Kunst des Knaben so erweitern können: Die Kunst in ihren ersten kindlichen Versuchen hat die Tendenz, Natur zu sein, sie wird sie nach Maßgabe ihre jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung. – Und wenn er dann den Entwickelungsgang der meisten Völker bis zu ihrer klassischen Höhe verfolgt und ihn verglichen hätte mit dem Werdegang eines Shakespeare vom Titus Andronicus bis zum Hamlet, eines Goethe vom ersten jugendlichen Faustentwurf bis zum ausgereiften ersten Teil des Faust, eines Schiller von den Räubern bis zum Wallenstein – so würde er zu jenem ersten Gesetz den Zusatz hinzugefügt haben: Mit der zunehmenden Reife aber wächst bei der Kunst die Tendenz, die Formen der Natur mit Gedankeninhalt zu erfüllen und sie im Sinne des Künstlers umzugestalten.

Natürlich wäre auch dieses Gesetz nicht einwandfrei gewesen; denn selbstredend giebt es auch Künstler genug, auf die es nicht passen würde. Und so 152 ergiebt sich denn, daß die berühmte empirische Methode zur Ergründung eines allgemein gültigen Gesetzes der Kunst gar nicht ausreicht, denn es ist schließlich Geschmacksache, ob jemand diese oder jene Künstler für die größeren hält, und aus welchen von beiden Gruppen man die Kunstgesetze herleiten soll. Und so ergiebt sich denn zweitens, daß es ein solches allgemeines Kunstgesetz gar nicht giebt. Und endlich ergiebt sich drittens, daß es ein solches Gesetz auch gar nicht geben darf – denn wo man ein solches erkannt zu haben glaubte, hat es stets nur zu Ungerechtigkeiten geführt und wie eine Fessel gewirkt. Nicht nur muß jeder Künstler das Recht haben, zu schaffen, wie es seinen Wünschen entspricht, sondern auch jeder Genießende hat das Recht, eine Kunst vorzufinden nach seinem Geschmack. Es ist das unveräußerliche Recht oberflächlicher Menschen, sich an platten Naturnachahmungen genügen zu lassen, während tiefer veranlagte Geister auch vom Kunstwerk in allererster Hinsicht Geist verlangen werden. Es hat eben jeder das Recht, »dem Geist zu gleichen, den er begreift«.

Für Arno Holz aber war das Gesetz nun gefunden. Die »Schmierage« eines Kindes – er selbst braucht in seiner burschikosen Art diesen Ausdruck – hatte ihn dazu veranlaßt, sein ganzes bisheriges Schaffen auszustreichen und von nun an dem sogenannten »konsequenten Naturalismus« zu huldigen, der noch weit über Zola hinausgehen wollte. Vergebens versuchte der einstige Poet zunächst ein theoretisches Buch auf seinem neuen Gesetze aufzubauen, das mit einem Streitbrief gegen Zola beginnen sollte – er bekam es nicht fertig und erinnerte sich noch zur rechten Zeit daran, daß er es nicht zu schreiben brauchte, sondern daß er das Gesetz nur ergrübelt habe, »um der verflixten Praxis besser beizukommen«.

Und nun sollte es also wieder an das Dichten gehen. – Ein beklagenswerter Anblick, zu sehen, wie ein stolzer Adler sich selbst seine Fittiche zernagt hatte, um von nun an die Höhen des Aethers meiden zu müssen, wohin ihm keine Lerche folgen konnte – und jetzt lernbegierig hinter den Fledermäusen herzuflattern.

Die Adler sind einsam, die kleineren Vögel verbringen ihre Lebensarbeit gern mit ihresgleichen, denn sie können sie leichter finden als jene. Und so kettet sich der Name von Arno Holz von jetzt an unzertrennbar an den seines Genossen Johannes Schlaf. Dieser junge Philologe arbeitete damals gerade an einer Promotionsschrift zur Erlangung der Doktorwürde. Nach einem wohlbestandenen Dekanatsexamen war er am Semesterschluß zu Holz hinausgewandert nach 153 Nieder-Schönhausen, um für die Ferien von ihm Abschied zu nehmen, aber statt dessen blieb er, von der neuen Entdeckung des Freundes gefesselt, bei ihm als Hausgenoß und gab sein Studium auf, um mit dem jüngeren Freunde zusammen nach dem neuen Kunstgesetz die ersten neuen Kunstwerke zu schaffen. So schön und beneidenswert dies Zusammenleben der beiden Freunde war, so verhängnisvoll war ihr geistiges Kompaniegeschäft. Goethe und Schiller hatten einst trotz innigsten geistigen Zusammenlebens doch in ihren Schöpfungen stark und frei jeder seine Eigenart herausgearbeitet. Diese beiden modernsten Dioskuren aber wuchsen zusammen zu einer Person und verloren dadurch noch mehr von ihrer geistigen Selbständigkeit, die schon durch die Schnürbrust des engen Gesetzes jedes freien Atemzuges beraubt war. Ihr gemeinsames Idyll aber schildert Holz mit liebevoller Kunst:

»Und nun brach ein Winter für uns an, wie wir ihn allerdings nur einmal erlebten. Unsere Finanzlage war eine mehr als türkische, und doch lachen uns heute, wenn wir in unseren Notizen von damals kramen, Sätze entgegen, wie: »Wir leben in einem köstlichen Idyll. Wir wissen, dies sind die glücklichsten Tage.« – Sie waren es. – Nur ist uns heute noch unbegreiflich, wie wir sie überhaupt noch überstehen konnten! Unsre kleine »Bude« hing luftig wie ein Vogelbauerchen mitten über einer wunderbaren Winterlandschaft. Von unsren Schreibtischen aus, vor denen wir dasaßen bis an die Nasen eingemummelt in große rote Wolldecken, konnten wir fern über ein verschneites Stück Haide weg, das von Krähen wimmelte, allabendlich die märchenfarbensten Sonnenuntergänge studieren, aber die Winde bliesen uns durch die schlechtverkitteten kleinen Fenster von allen Seiten an, und die Finger waren uns trotz der vierzig dicken Preßkohlen, die wir allmorgendlich in den Ofen schoben, oft so frostverklammt, daß wir gezwungen waren, unsre Arbeiten schon aus diesem Grunde zeitweise einzustellen. Denn mitunter mußten wir sie auch noch aus ganz anderen Gründen quittieren. So z. B. wenn wir aus Berlin, wohin wir immer zu Mittag essen gingen – eine ganze Stunde lang, mitten durch Eis und Schnee, weil es dort »billiger« war – wieder gar zu hungrig in unser Vogelbauerchen zurückgekrochen waren, wenn uns ab und zu, um die Dämmerzeit, während draußen die Farben starben und in all der Stille rings die Einsamkeit, in der wir lebten, plötzlich hörbar wurde, hörbar und fühlbar, die Melancholie überfiel, oder wenn, was freilich stets das allerbedenklichste war, uns einmal der »Toback« ausging. Das war denn ein Herzeleid – gar nicht zu beschreiben! Von Cuba waren wir so allmählich auf »Carabella« gesunken, von Carabella auf »Paetum optimum«. Ja einmal, als die Not am größten war, entsinne ich mich, rauchten wir sogar das letzte Stück einer alten Guirlande auf. Honni soit qui mal y pense.... Unsern schönsten runden Tisch mit bunter Veloursdecke, der eigentlich hätte vor dem Sopha stehen sollen – dem »Perserdivan«, wie es offiziell hieß – hatten wir eigens zwischen unsre beiden Schreibtische gerückt, als würdige Unterlage für die lange Stricknadel, mit der wir 154 unsre Pfeifen putzten, eine leere Liebigbüchse diente als Aschbecher. Schließlich, als dann endlich durch unsre Scheiben wieder blau der Frühlingshimmel brach, hatten wir die Genugthuung, konstatieren zu können, daß unser schöner, schneeweißer Hermeskopf, der so lange quer über einem großen, rotgebundenen Don Quixote mitten unter einem Spiegelchen gestanden, aussah wie ein Niggerschädel. Veröffentlicht von uns, als das erste sichtbare Resultat dieser Campagne, wurde dann ein Jahr später im Verlage von Carl Reißner in Leipzig: Bjarne P. Holmsen: Papa Hamlet.

Dieses Buch wäre also zunächst daraufhin zu prüfen, ob es in Wahrheit jenem konsequentesten Naturalismus entspricht:

Es besteht aus drei einzelnen Erzählungen, von denen die erste der ganzen Sammlung den Namen gegeben hat. Papa Hamlet ist ein Schauspieler, der sich viel auf seine Darstellung des Dänenprinzen einbildet, kleinere Engagements abweist und in größenwahnsinniger Faulheit mit seiner Frau – der »reizenden Ophelia« – dem sicheren Elend sinnlos in die Arme läuft. Diese Geschichte, die ja eigentlich gar keine Geschichte ist, wird nun in einzelne Bilder auseinandergelöst, die uns mit großer Umständlichkeit vorgeführt werden. Alle Personen sprechen stets in direkter Rede. Von dem unendlichen Phrasenschwall des Papa Hamlet wird uns nichts geschenkt. Seine ewigen, unpassend verzerrten oder wörtlichen Citate aus Shakespeares Hamlet werden stets in ganzer Ausdehnung angeführt; und bei den sonderbaren Gelagen, die er mit einem gleich verbummelten Freund Maler, mit der Wirtin und einigen anderen sonderbaren weiblichen Wesen des Hauses hält, müssen wir Wort für Wort die geistlose Unterhaltung mit anhören; und eine entsetzliche Abwechselung bringt in die Sache nur der Papa Hamlet hinein, indem er ab und zu aufspringt, um seinem schreienden Flaschenkindchen Fortinbras das Kopfkissen auf das Gesicht zu pressen, was das Mitleid eines jener weiblichen Wesen ebenso sehr erregt, wie das des Lesers. Das Ende vom Liede ist natürlich, daß einmal bei einem solchen Beruhigungsversuche der kleine Fortinbras wirklich erstickt und zwar in derselben Nacht, wo Mama Ophelias Schwindsucht den Höhepunkt erreicht und beide am nächsten Morgen der Ausweisung entgegensehen. Bald darauf findet man den Papa Hamlet erfroren auf der Gasse. –

Schon bei dieser ersten Erzählung merkt man den vollständig veränderten Standpunkt des Dichters. Während ihn bis dahin alles Große und Schöne begeistert hatte, oder das Leid der Menschheit von ihm geschildert wurde, um thatkräftiges Mitleid zu erregen – so hat er jetzt mit dem Streben nach vollster Naturwahrheit merkwürdigerweise auch die freiwillige Verpflichtung auf sich genommen, das Widerwärtige, nein, man möchte sagen, das Gleichgültige zu schildern. Denn was kann es im Grunde genommen Gleichgültigeres geben, als einen eingebildeten Hohlkopf, der durch Aufgeblasenheit und Faulheit sich und die Seinen zu Grunde richtet. Dazu kommt nun die völlige Ausstreichung des Temperaments, das Holz ja in Zolas Kunsterklärung gerade bekämpft. Er steht seinen Geschöpfen noch kühler gegenüber als der Mann des Experimentalromans – die Folge davon ist, daß die völlig interesselos vorgetragene, absichtlich über alle Gebühr ausgesponnene Schilderungsnovelle dasjenige Merkmal an sich trägt, das nach Voltaires 155 berechtigtem Witzwort das Schlimmste in der Kunst ist: das der langen Weile. Außerdem ist der konsequente Naturalismus doch nicht erreicht, denn zwischen den einzelnen ausgemalten Bildern tritt – gleichsam wie in Zwischenakten – der Verfasser hinter den Kulissen hervor und giebt den verbindenden Text.

Dies fällt allerdings in der zweiten Geschichte fort: »Der erste Schultag«. Mit ungeheurer Anschaulichkeit wird hier der Leidensgang eines Schulknaben erzählt, mit dessen »Natürlichkeit« es aber doch seine starken Bedenken hat. Der Kleine kommt mit den schönsten Hoffnungen zum ersten Male zur Schule, findet dort aber einen Herrn Rektor, der mit lächelndem Gesicht an jedem Morgen die Beschwerdebriefe über Mißhandlungen von Kindern schmunzelnd mit Nummern versieht und in Fächer ordnet; der die kleine liebe Gesellschaft nur »Schweinzeug« nennt oder »Knubbels« anruft und ihnen mit einem gewaltigen Fuchsschwanz droht, wenn sie nicht beständig schweigend ins Tintenfaß sehen; und der zuletzt einen armen Judenjungen wirklich fast totschlägt, weil dieser durch eine Fliege zum Lachen gebracht worden war, die ihm – unter der Jacke bis zum Nabel kroch! – Mit begreiflichem Entsetzen läuft der kleine Held in der Zwischenstunde davon, und nachdem ihm im bunten Treiben des Jahrmarkts ein älterer Kamerad seine »Doppelkrone« entwendet hat, sucht er draußen im Waldhaus seines Großvaters Schutz, findet diesen aber als Leiche in seinem Sessel sitzen. Der gezähmte Rabe des Toten springt diesem gerade auf den kahlen Kopf und bringt dadurch den weitoffenstehenden Mund zum Zuklappen, wodurch – eine Fliege eingesperrt wird, die gerade hineingeflogen war. – Hu, hu! Ob solche Häufung grausiger Effekte bei noch so eindringlicher Schilderung wohl das Geringste mit Natur und Wirklichkeit zu thun hat, möchte ich doch stark bezweifeln! Wie schlicht und klar und greifbar naturwahr war derselbe Arno Holz in den schönen Versen seines »Samstags-Idylls«! Wie gräßlich gesucht und bei den Haaren herbeigezogen erscheinen diese übertriebenen Mordsgeschichten des »konsequenten Naturalisten«.

Wirklich erreicht hat er sein neues Künstlerideal nur in der letzten der drei Geschichten aus der Hamlet-Sammlung: »Ein Tod«. Hier wird nichts weiter geschildert als die Nacht, die zwei Studenten am Sterbebette ihres Freundes zubringen, der im Duell tödlich verwundet wurde. Hier ist dem Stoffe die Behandlungsweise wirklich angemessen, und von der Vielseitigkeit der Beobachtung und der feinen Stimmungswiedergabe wie von den zahllosen Maniriertheiten und koketten Verrenkungen dieses Kunststils mag eine kleine Probe Zeugnis ablegen:

Im Zimmer wurde es jetzt hell. Die Messingthüren an dem weißen Kachelofen neben der Thür funkelten leise. Draußen fingen die Spatzen an zu zwitschern. Vom Hafen her tutete es.

Unten hatte die Hofthür geklappt. Jemand schlurfte über den Hof. Ein Eimer wurde an die Pumpe gehakt. Jetzt quietschte der Pumpenschwengel. Stoßweise rauschte das Wasser in den Eimer. Langsam kam es über den Hof zurück. Die Thür wurde wieder zugeklappt.

Sie sahen zu dem hellen Fenster hin. Unwillkürlich hatten sie beide tief aufgeatmet.
 

»Du! Olaf! Sieh mal!«

Olaf antwortete nicht. Er hatte nur den Kopf ein wenig zum Bett hingedreht.

»Er liegt wie tot!«

»Ich glaube . . . hm!«

156 Er sah nach der Uhr.

»Wir müssen 'n neuen Verband anlegen! Gieb doch mal den Eisbeutel!«

Jens reichte ihm den frischen Eisbeutel vom Tisch herüber. Behutsam legten sie Martin den neuen Verband an.

Olaf brummelte etwas Unverständliches in seinen langen, strohgelben Schnauzbart.

»Ich glaube, die Wunde ist – nicht sorgfältig genug gereinigt! Es sind sicher noch Stofffäserchen von der Hose dringeblieben! . . . Sieh mal!«

Sie hatten sich Beide auf die Schußwunde niedergebückt, die Martin seitwärts im Unterleibe hatte.

»Du! Sieh doch nur! . . . Er verändert sich ordentlich!«

»Hm!«

»Er liegt so still!«

»Ja! Wir müssen den Arzt holen lassen!«

»Ich will klingeln?«

»Ja.«

Hastig war Jens zur Thür gegangen. Grell tönte die Klingel unten durch das noch stille Haus. . . .
 

Der erste Sonnenstrahl blitzte jetzt goldig über die Dächer weg in das Zimmer. Er legte einen hellen Schein auf die dunkelblaue Tapete über dem Bett und zeichnete die Fensterkreuze schief gegen die Wand. Die Bücherrücken auf dem Regal funkelten, die Gläser und Flaschen auf dem Tisch fingen an zu flinkern. Die Arabesken des blanken Bronzerahmens um die kleine Photographie auf dem Tisch mitten zwischen dem weißen, auseinandergezerrten Verbandzeug und dem Geschirr glitzerten. Auf den Dächern draußen lärmten wie toll die Spatzen. Unten auf dem Hofe unterhielten sich ganz laut ein paar Frauen.

»Donnerwetter! Ist das eine wüste Wirtschaft hier!«

Jens, der zum Sopha ging, war über ein paar Stiefel gestolpert, die mitten im Zimmer auf dem verschobenen, staubigen Teppich lagen.

»Mir ist ganz öd' im Schädel!«

Schwer hatte er sich wieder auf das knackende Sopha sinken lassen, Olaf hatte nicht geantwortet.

Jens reckte sich.

»Uebrigens, es war eine schneidige Mensur!«

»Ja, sehr korrekt!«

»Ja, sehr ehrenhaft! – Für Beide!«

»Eversen ist ins Ausland, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich!«

Jens betrachtete nachdenklich die beiden blitzenden Pistolenläufe über dem Sopha. –

»Wenn sie nun kommen?«

»Hm!«

»Ae!«

Jens gähnte nervös.

»Wo bleibt denn dieser alte Ohrwurm?!«

»Wann können sie denn hier sein?«

Olaf hatte sich vom Bett in die Höhe gerichtet.

»Ich denke, nach sechs?«

»Hm!«
 

. . . »Na, endlich!«

Jens war aufgesprungen. Hastig schloß er die Thür auf.

»Guten Morgen, meine Herren!«

»Guten Morgen, Frau Brömme!«

157 Die kleine, dürre Frau Brömme stand mit ihrem vorgestreckten ängstlichen, verrunzelten Gesicht in der Thür. Ihre kleinen grauen Augen hatte sie halb fragend, halb verstimmt gleich auf das Bett gerichtet. Mit ihren dürren Fingern zupfte sie an ihrem Schürzenband.

»Wie steht es, Herr Doktor?«

»Schlecht! Wollen Sie schleunigst zum Arzt schicken!«

Olaf hatte nicht vom Bette aufgesehen.

»Ach, du lieber Gott! . . . Es wird doch . . .«

»Und . . . bringen Sie, bitte, etwas frisches Wasser!«

»Ja! Sofort! Sofort! O du lieber Gott! Du lieber Gott!«

Die letzten Worte waren schon draußen vom Flur gekommen. Im Zimmer nebenan wurde es jetzt lebendig. Ein Fenster wurde geöffnet. Jemand stimmte eine Geige.

»Der Philologe! Er steht jeden Morgen um sechs auf und spielt! Könnten wir nicht das Fenster ein wenig aufmachen? Es ist zum Umkommen!«

»Ja! Etwas!«

Jens öffnete. Tief atmend sog er die frische Morgenluft ein.
 

Weich und klagend klangen die Töne der Geige, auf der der Philologe jetzt nebenan eine alte Volksballade spielte, auf den sonnigen Hof hinaus in das Zwitschern der Spatzen und das Gurren und Flügelklatschen der Tauben. Von fern, durch die klare Morgenluft, deutlich die hellen, zitternden Schläge einer Turmuhr.

Sie lauschten beide. Ihre bleichen, überwachten Gesichter waren tiefernst . . . Vor der Thür hatte es jetzt geklirrt. Jens öffnete. Frau Brömme kam mit dem Wassereimer und Kaffee. Vorsichtig trippelte sie auf den Tisch zu. Sie ließ kein Auge vom Bett. –

So rollt sich die ganze durchwachte Nacht Schritt für Schritt ab, bis man am Morgen findet, daß aus dem Sterbenden ein Toter geworden ist, und gerade in diesem Augenblick treten Mutter und Schwester des Unglücklichen ein:

In der offenen Thür stand eine schmächtige, ältliche Dame in einem einfachen, schwarzen Tunikakleidchen. Noch halb auf dem Flure draußen ein frisches, hübsches Gesichtchen, das ängstlich suchend, schüchtern über ihre Schultern sah.

Leise, mit einem halben Lächeln, war sie jetzt in das dumpfe, unfreundliche Zimmer getreten. Ihre leise zitternde Hand, durch deren lila Zwirnhandschuh ein schmaler Goldreif glitzerte, hatte sie halb wie fragend erhoben . . .

Jetzt hatte sie sich über die Leiche gebeugt . . .

Draußen zwitscherten die Spatzen, die Tauben gurrten in der blendenden Morgensonne. Vom Fenster bis zum Bett zog sich ein lichter Balken wimmelnder Sonnenstäubchen. Nebenan noch immer die weichen Töne der Geige. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

»Mama!!!«
 

Das vermeintliche Kunstgesetz hatte also hier eine neue Technik hervorgerufen, nicht nur eine innere, sondern auch eine äußere. Die innere Technik ist das, was ich als »Sekundenstil« bezeichnen möchte, insofern Sekunde für Sekunde Zeit und Raum geschildert werden. Nichts Keckes, Dreistes ist mehr gestattet, kein kühner Sprung darf mehr über die Wüsten hinwegsetzen, um die Oasen einander näher zu bringen. Nein, ein Sandkorn wird nach dem andern sorgfältig aufgelesen, hin und her gewendet und sorgsam beobachtet und in die tagebuchartige Dichtung eingezeichnet. Solch peinliche Kleinmalerei läßt allerdings einen kleinsten Ausschnitt aus Leben und Wirklichkeit mit absoluter Treue wiedererstehen, aber sie hängt 158 gleichzeitig der Dichterphantasie unerträgliche Bleigewichte an die Füße. Der Pegasus hat nicht nur die Flügel abgelegt – nein, auch die Füße darf er nur noch im Schritt vorwärts setzen. 28 Seiten brauchen Holz und Schlaf, um zu schildern, wie der im Duell Verwundete stirbt. Hätten sie in gleichem Sekundenstil auch die Vorgeschichte des Duells, seine Veranlassung, seine Ausführung und endlich zu guterletzt auch noch den Schmerz von Mutter und Schwester und die Beerdigungsfeierlichkeit mit Schluchzen, Leichenrede und Zuschütten des Grabes geschildert – sie würden mehr als 280 Seiten dazu gebraucht haben und hätten uns doch auf dieser ungeheueren Menge Papier noch nichts berichtet, als nur einen alltäglichen Vorgang, der doch immerhin erst der Abschluß einer nicht ausgeführten Novelle gewesen wäre. Eine ganze Novelle aber – das heißt einen wirklichen Abschnitt aus der Geschichte eines Menschenlebens mit der Entwickelung wirklicher Seelenkämpfe zu schreiben – die Herren Holz und Schlaf hätten dazu mit 2800 Seiten noch nicht ausgereicht – mit andern Worten, es wäre ihnen einfach nicht möglich gewesen.

Pedantisch war der Grundcharakter dieser sogenannten neuen Kunstform der Herren Holz und Schlaf. Sie hatten den Zola »überzolat«. Den gleichen Raum, auf dem Zola in seinem »Germinal« mit unglaublicher Ausführlichkeit das Leben und Treiben in einem Bergwerk, die Schachte, Stollen und Gänge, die Maschinen, die Fahrvorrichtungen, die Wohnungen und das Familienleben der Arbeiter, den Streik und seine Niederwerfung schildert – denselben Raum würden Holz und Schlaf gebraucht haben, um einen einzigen Rundgang durchs Bergwerk wiederzugeben. – In der That, sie hatten den »konsequenten« Naturalismus entdeckt und damit den alten Satz bewiesen: daß man das Falsche mancher Anschauung erst dann erkennt, wenn man ihre äußerste Konsequenz zieht.

Und diese Konsequenz hatte nicht nur zu jener inneren, sondern wie gesagt, auch zu einer äußeren Technik geführt – ja, zu einer neuen Technik der Schrift. Holz hatte von jeher eine große Sorgfalt schon auf das Aeußere seiner Manuskripte verwendet. Schon bei meinem Besuch in Schönhausen erstaunte ich, zu sehen, daß er seine wunderbar schöne und klare Handschrift nicht mit Tinte, sondern mit chinesischer Tusche ausführte. Das »tiefe, schöne Schwarz« erfreute ihn bei dieser Schrift. Kann es da Wunder nehmen, daß er seinen neu entdeckten Sekundenstil auch äußerlich zum Ausdruck bringen wollte? Aneinandergereihte Punkte und Gedankenstriche sind ein uraltes Hilfsmittel, kleinere und größere Seelenpausen ohne Worte darzustellen. Holz und Schlaf brachten ein System auch hier hinein. Wem war es bis dato eingefallen, solche Punkte oder Striche zu zählen, deren größere oder geringere Häufigkeit lediglich von dem Temperament ihres Urhebers abhängt! Aber das Temperament war ja durch das neue Kunstgesetz verbannt, und die beiden Gesetzgeber scheuten die Mühe nicht, auch ihre Gedankenpunkte zu zählen und von einzelnen bis zu ganzen Reihen, ja bis zu mehreren Zeilen hin auszudehnen, so daß sich eine Art von seelischer Notenschrift herausbildet.

Nachdem so alles in diesem Buche so funkelnagelneu gestaltet war, sannen die Verfasser auch auf eine funkelnagelneue Einführung. Einfach als deutsches Buch 159 von Arno Holz und Johannes Schlaf – nein, so sollte es nicht erscheinen! Die damals angeregte Hochflut der Ibsen-Begeisterung brachte die Verfasser auf den Gedanken, ein gemeinsames norwegisches Pseudonym zu wählen, und so ersannen denn die beiden Wahrheitsapostel in der Kunst eine recht faustdicke Unwahrheit. Als Verfasser wurde ein Herr Bjarne P. Holmsen erfunden und als Uebersetzer ein Dr. Bruno Franzius dazu phantasiert. Diesem Dr. Bruno Franzius wurde nun eine erfundene Lebensgeschichte des Holmsen in den Mund gelegt, und da die Uebersetzer ja ihre Helden loben dürfen, so wurde auch damit nicht allzusehr gespart. In dieser ganz neumodischen Vermummung trat nun Papa Hamlet mit seinen Genossen in die Welt hinaus, und es wurde allerdings erreicht, daß sogar skandinavische Kritiker an den Norweger Holmsen glaubten. Im übrigen ward das Buch teils gelobt, teils getadelt, aber nur eines wollte man nirgends herausfinden: daß es sich um die Bewahrheitung eines neuen Kunstgesetzes handeln sollte. Und so wäre denn das Buch trotz seiner merkwürdigen Entstehungsgeschichte und trotz der ebenso merkwürdigen Art seiner Veröffentlichung der Welt im allgemeinen so ziemlich unbekannt geblieben, wenn die beiden Verfasser nicht endlich einen Jünger gefunden hätten, dem es vorbehalten war, urplötzlich aus der tiefsten Verborgenheit hervorzutreten, mit einem Schlage an die Spitze der »Revolution« zu gelangen und als Führer der neuen Jugend die Litteratur von ganz Deutschland mächtig zu beeinflussen. – Und das that er im Namen von Holz und Schlaf.

Denn auf dem schon erwähnten Schauspiel, das damals der freien Bühne eingereicht und als das einzige Werk eines jungen Deutschen angenommen ward, stand mit großen Buchstaben geschrieben: »Bjarne P. Holmsen, dem konsequentesten Realisten, Verfasser von »Papa Hamlet«, zugeeignet in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung. Erkner, d. 8. Juli 1889. Gerhart Hauptmann. –«

Da Hauptmann also eingestandenermaßen die »entscheidende Anregung« von Holz und Schlaf empfing, da ein flüchtiger Blick auf sein Buch lehrt, daß er ihre ganze Technik und sogar ihre sonderbare Notenschrift der Gedankenpunkte zu der seinen gemacht hat, so war es nötig, in so ausführlicher Weise die Enstehungsgeschichte des Kunstgesetzes von Holz und Schlaf zu verfolgen. Um so mehr gebot dies die Gerechtigkeit, als Hauptmann, von einer fast unerhörten Gunst des Schicksals getragen, schnell zur Höhe seines Könnens und zum Sonnenglanze des Tagesruhms emporstieg, während jene beiden nach kurzem Bestrahltwerden vom Licht schnell wieder ins Dunkel zurücktauchten. Und doch hatten sie in Wahrheit in emsiger Arbeit das zu Tage gefördert, was jenem zur Wünschelrute ward, um die Pforten seines Lebensschicksals zu sprengen.

Und nun also von den beiden Lehrmeistern zu ihrem Jünger. 160

 


 


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