Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Viertes Kapitel.

Neue Anstrengungen aus dem Gebiete des »modernen« Dramas.

Auf diese Vorzüge hatte aber leider Sudermann von Jahr zu Jahr mehr verzichtet. Immer weiter war er auf der schiefen Ebene gewandelt, die seine 292 völlig anders geartete Natur hinübergleiten lassen sollte zu der Hauptmanns. Im Jahre 1895 hatte er im Lessing-Theater eine »Komödie« zur Aufführung bringen lassen: »Die Schmetterlingsschlacht«. Das fein ausgepinselte »Milieu« einer Familie steht im Vordergrunde, deren Töchter Schmetterlingsschlachten auf Fächer malen und Schmetterlingsschlachten im Leben ausführen. Hier herrscht völlig der Holz'sche Sekundenstil und die Hauptmann'sche Feinstrichmalerei. Da das Stück in Berlin völlig versagte, so ließ Sudermann sein nächstes Schauspiel »Das Glück im Winkel« erst in aller Welt auswärts aufführen, ehe es am Ende des Winters 1895/96 in Berlin erschien und trotz Mitterwurzers genialem Spiel keine tiefgehende Wirkung auszuüben vermochte. Eine unendlich fein ausgemaserte Ehebruchsgeschichte, die diesmal mit der Verzeihung des Mannes endigte! Wo war der einst so kraftvolle Sudermann geblieben? –

Je mehr die weichlichen Helden des Naturalismus die flüchtige Gunst des Publikums verloren, desto schlimmer schien es dem naturalistischen Theater Brahms zu ergehen. Ludwig Fuldas Lustspiel »Die Kameraden« hatte nur wenig interessiert. Der berühmte Autor des »Talisman« hatte auch mit seinem zweiten Bühnenmärchen »Der Sohn des Kalifen« wenig Glück. Der Grundgedanke war recht hübsch: Ein junger Tyrann bekommt zur Strafe die Eigenschaft auferlegt, daß er jeden Schmerz, den er andern zufügt, an sich selbst erfahren muß. Doch die dramatische Kraft hatte der Gestaltung dieses guten Einfalls nicht entsprochen. Aber auch der berühmteste aller Berühmten war mittlerweile zum »Deutschen Theater« unter Brahms Schutz übergegangen: Max Halbe, der Mann, dessen »Jugend« einen ganzen Winter hindurch die Kosten des »Neuen Theaters« fast ganz allein bestritten hatte. Dies Stück bewies auch außerhalb eine ganz unverwüstliche Kraft. Eben wegen seiner urwüchsigen Frische! Aber leider blieben diese Eigenschaften Halbes Dichtungen nicht treu. Sein allzu eifriges Vorwärtsstreben riß ihn von einer furchtbaren Enttäuschung zur andern. Zunächst hatte er in kritikloser Siegesfreude eine ganz banale Ehebruchsgeschichte, in der das Horn eines Nachtwächters eine komische Rolle spielen sollte, in schrecklich gequälte Knittelverse gebracht. In München hatte er sie im Kreise der »Modernen« unter großer Zustimmung vorgelesen. Bierbaum, der damals Korrespondent eines Berliner Blattes war, hatte diesem Blatte begeistert über diese Vorlesung berichtet. Das Königliche Schauspielhaus hatte den »Amerikafahrer« angenommen, trat ihn aber bald an Direktor Lautenburg ab. Dieser Begründer von Halbes Ruhm brachte das Stück im »Neuen Theater« zur Darstellung und rief damit eine jener fürchterlichen Skandalablehnungen hervor – mit Lachen, Johlen und Mitspielen des Publikums – wie sie jetzt in Berlin seit den Tagen der »Freien Bühne« bekannt geworden waren. Und nun erfuhr (1896) Halbes »Lebenswende« im »Deutschen Theater« ebenfalls eine starke Ablehnung. Erst im folgenden Jahre 1897 hatte seine »Mutter Erde« an derselben Kunststätte wieder einen vorübergehenden Erfolg. Wie in Sudermanns »Heimat« wird hier die Heimkehr ins Vaterhaus einem jungen Menschen verderblich. Aber diesmal ist es ein junger Mann, der Sohn eines Gutsbesitzers, der die Beziehungen zum Elternhause verloren hat, weil er in 293 Berlin ein modern angehauchtes Mädchen zu seiner Lebensgefährtin erwählte. Mit ihr gemeinsam hat er eine Frauenzeitschrift begründet und sich dadurch auf eigene Füße gestellt. Da hat er plötzlich die Kunde vom Tode seines Vaters erhalten und kehrt nun in dessen verödetes Heim zurück, begleitet von seiner stark emanzipierten Frau und einem sehr modernen jungen Hausfreunde. Nun ist es sehr lebenswahr geschildert, wie die Atmosphäre auf der heimischen »Mutter Erde« ihn wieder völlig verwandelt. Die pietätlose Art, wie ihn seine Frau beständig zum Aufbruch treibt, verletzt ihn noch mehr. Bei dem daran sich anschließenden Leichenmahl, das cynischerweise in ein Bacchanal ausartet, lernt er eine einstige Jugendfreundin wieder kennen, die ihm einst sein Vater zur Braut bestimmt hatte. Sie ist jetzt an einen ganz trivialen Landwirt verheiratet, an dessen Seite sie sich völlig unbefriedigt fühlt. In dieselbe weiche Stimmung gleitet allmählich auch der junge Schriftsteller hinein, und in plötzlicher Verzweiflung sucht er gemeinsam mit ihr den Tod. So ist das Ganze eine dialogisierte Novelle von vorübergehender Bühnenwirkung.

Neben Halbe war aber jetzt ein zweiter Schüler Hauptmanns erstanden: Georg Hirschfeld (geb. 11. Febr. 1873 in Berlin). In seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre kam er auf der Bühne des »Deutschen Theaters« zum ersten Male zum Wort. »Die Mütter« hieß das Schauspiel, das seinen Namen schnell bekannt machte, und das den Anhängern der Hauptmann-Schule als die Ankündigung eines großen Talents erschien. Schon vorher hatte der junge Autor in der Zeitschrift »Freie Bühne« einen Einakter erscheinen lassen unter dem Titel »Zu Hause«. Es war ein ganz merkwürdiges Stückchen Arbeit. Es wird da eine Gesellschaft geschildert in einem vornehmen Hause in Berlin W. Die Frau erwartet Gäste. Dem Kammermädchen vertraut sie an, daß auch ihr ältester Sohn, der Mediziner, plötzlich aus Straßburg heimkehren wird. Das Kammermädchen macht seine Glossen mit der Köchin darüber. Dann findet sich der jüngere Sohn bei der Mutter ein, ein blasierter, modischer, übersättigter fauler junger Bengel mit altkluger Lässigkeit. Er weigert sich, den älteren Bruder von der Bahn abzuholen. Dann erscheinen die Gäste: ein paar scharfbeobachtete Typen aus den vornehmen Bummler- und Parasitenkreisen. Als nebensächlichste Nebenperson taucht endlich der alte Vater auf. Er hat sich in Geschäften müde gelaufen und kommt beladen mit Paketen. Das bischen Geld, das er sich heute mühsam zusammengearbeitet hat, muß er sogleich der Frau abliefern. Ein draußen wartender Bote aus der 294 feinsten Delikatessenhandlung hat dafür schon eine quittierte Rechnung in Bereitschaft. Der Vater wankt ins Nebenzimmer zu seinem kranken Töchterlein, während die Gesellschaft sich zu Spiel und Schmaus ins Speisezimmer zurückzieht. Da kommt – stracks vom Bahnhof – der älteste Sohn, der in Straßburg soeben seine medizinischen Examina glänzend bestanden hat. Das Telegramm der Mutter, das ihn so plötzlich hergerufen, trägt er noch in der Tasche. Der gutmütig schwache Vater vermag ihm keine Aufklärung zu geben. Da kommt die Mutter herein und erklärt ihrem Erstgeborenen, er müsse seine hochfliegenden akademischen Pläne aufgeben, sich schnell Praxis suchen und für die Familie arbeiten. Der verdutzte Sohn beginnt die Verhältnisse zu durchschauen. Er erklärt sich bereit, den Wünschen der Mutter zu entsprechen, wenn diese und der junge Bruder ihr tolles Leben mäßigen wollen. Bei dem kurzen Gespräch darüber erfährt er plötzlich, daß die Mutter einen Liebhaber hat, der mit Wissen des Vaters allabendlich mit unter den Gästen weilt. Und in sittlicher Entrüstung kehrt der Sohn dem Elternhaus den Rücken.

Gewiß eine sonderbare Erstlingsarbeit eines Jünglings. Phantasielos sind die schematischen Verhältnisse aus dem französisierten Berlin W. der neueren Romanschriftsteller herübergenommen. Aber mit außerordentlich klarer Anschauung und außerordentlich schlagfertiger Gestaltungskraft sind diese Typen hier neu belebt. Und doch mit vollster Phantasielosigkeit hört der Verfasser da auf, wo er eigentlich erst anfangen mußte. Das Ganze macht den Eindruck eines fein ausgeführten Holzschnittes, der als Illustration zum ersten Kapitel einer Geschichte dienen könnte und daher erst einen Zweck erhalten würde, wenn die Geschichte weiterginge und noch mehr fortsetzende Holzschnitte brächte. In der That: die Vorzüge und Fehler der Hauptmann'schen Begabung schienen sich hier zum Erschrecken ähnlich zu wiederholen. Die Fehler aber zu überwinden, hatte der Jüngling keine Gelegenheit, denn als Lehrmeister schwebten ihm Holz und Schlaf vor mit ihrer dramenfeindlichen Dramentheorie des Sekundenstils.

Der Einakter war schnell zur Aufführung gelangt, und zwar in München. Dort gab es zwar noch immer keinen Verein »Freie Bühne«, aber aus der Studentenschaft war dort allmählich ein »Akademisch-dramatischer Verein« hervorgegangen. Dieser nahm sich des jungen Autors an, der selbst noch ein Student war und kurz zuvor seine Novelle »Dämon Kleist« in der Zeitschrift »Freie Bühne« herausgegeben hatte. Im Jahre 1894 wurde dort der sonderbare Einakter aufgeführt. »Ein kleiner Hauptmann, hieß es damals in München« – so berichtet Hermann Bahr darüber (Wiener Theater, Berlin 1899, S. 340). Als Hirschfeld im nächsten Winter nach Berlin kam, führte der Verein Freie Bühne »Die Mütter« auf, und da die Probe gut gelang, so übernahm Brahm das Stück für sein Deutsches Theater.

Es besteht aus vier Akten. Der erste zeigt uns bereits zwei Mütter: Frau Munk, deren Sohn Rolf bei ihr lebt und ein tüchtiger Klavierlehrer ist, und Frau Frey, deren Sohn Robert von eben jenem Rolf unterrichtet worden ist: da dieser ihn für ein großes Musik-Genie gehalten hat. Aber Robert lebt nicht bei seiner Mutter, 295 wie Rolf, sondern er ist aus dem Elternhause verstoßen worden von seinem Vater: erstens weil er nicht Kaufmann werden wollte, sondern Komponist; und zweitens, weil er sich an ein armes Mädchen gehängt hatte, das dem Vater nicht würdig schien zur Schwiegertochter. So sehen wir den Robert im ersten Akte nicht bei seiner Mutter, aber wir hören desto mehr von ihm. Der Vater ist gestorben; dem Sohne ist das gar nicht angezeigt worden; aber er hat es aus der Zeitung erfahren und hat deswegen seit Jahren den ersten Brief an seine daheim gebliebene Schwester geschrieben. Den hat die Schwester gelesen und beichtet es dem jungen Rolf Munk, den sie liebt, und der ja der Freund und Lehrer ihres Bruders war. Daß später auch die Mutter den Brief liest und den Sohn herbeiwünscht, bringt die Handlung langsam in Fluß. Rolf wird zu dem Sohn gesandt. Im zweiten Akte sehen wir diesen in seiner Wohnung. Sein liebes Mädchen zeigt sich als eine kleine, prächtige Person: wenig gebildet, aber arbeitsam und thatkräftig. Während sie große Körbe mit silbernen Messern blank macht, und eine dirnenhafte Wohnungsgenossin ihr dabei spielerig hilft, wankt er jammernd umher und klagt darüber, daß er seine großen musikalischen Ideen nicht zu Papier bringen kann, weil ihm die theoretischen Vorkenntnisse fehlen – weil er keine Gelegenheit gehabt hatte, Tüchtiges in seiner Kunst zu lernen. Kurz, man merkt schnell, daß dieser mattherzige Jüngling sein Mädchen nur noch wenig liebt, an seinem eigenen Können verzweifelt und sich nach Mutters weichem Nest zurücksehnt. Daher hat Rolf Munk, wie er nun plötzlich erscheint, leichtes Spiel, den weichen Träumer ins Elternhaus zurück zu locken. Im dritten Akt erscheint er dort. Zwar will er scheinbar gleich wieder fort, aber Mutter und Schwester reden ihm gütig zu und verlangen durchaus nicht, daß er auf sein Mädchen verzichten soll. Im Gegenteil, man wünscht, daß er sie ins Elternhaus einführe. Robert aber weiß, daß das unmöglich ist. Seine treue Gefährtin im Unglück hat ihm schon im zweiten Akte erklärt, daß sie auf diese Weise seine Gefährtin im Glück niemals werden wolle. Stärker als er, ist sie zu stolz, demutvoll das Haus zu betreten, in dem man sie so ungerecht gehaßt hat. So weiß Robert, daß er nur allein im Elternhause bleiben kann. Aber er kämpft nur einen kurzen Kampf. Als die Mutter gar aus dem Keller einen großen schönen Napfkuchen (!) hervorholt, den sie zu Ehren seines Empfanges eigenhändig gebacken hat, – da sinkt der weichherzige Sohn angesichts dieses Zeichens mütterlicher Liebe gerührt in die Knie, und damit hat er die tapfere Gefährtin seiner Unglückstage verraten. – Diese kleine Tapfere hat aber noch den Glauben, daß der Treulose wiederkehren wird, wenn er ihr neuestes Geheimnis erfährt: auch sie ist im Begriff, Mutter zu werden. Um ihm das zu melden, will sie einmal in der Wohnung seiner Mutter erscheinen. Aber ehe sie ihn dort sprechen kann, erfährt sie von seiner Schwester, wie glücklich Robert jetzt ist und welch großer Zukunft er entgegengeführt werden soll. Da beschließt sie zu gehen, ehe sie ihre Meldung erstattet hat – und sich schweigend für ihn zu opfern. – Also ganz wie bei Hauptmann – weichliche Männer neben starken Weibern! – Menschen, die an keinen Sieg mehr glauben, schaffen solche ewig unterliegenden Gestalten, und Sterbende wecken ja beim ersten Anblick das Mitleid und die Thränen des Beschauers.

296 Die Todgeweihten – »Morituri« – so nannte sich auch Sudermanns gleichzeitige Schöpfung (1896), und dennoch zeigte sich hier ein langsames Wiedererwachen seiner Kraft – wenigstens mit den beiden ersten der drei Bilder, aus denen sich diese neue Bühnendichtung zusammensetzte. Zuerst der trotzige Gotenkönig Teja, der sich im Angesichte des Todes aus Pflichtgefühl vermählt und nur widerwillig, dann aber auch in großem Sinne das Glück der Liebe erkennt – und in diesem Augenblicke muß er sterben! Und dieser Grundgedanke des Sterbenmüssens verpflanzt sich in die moderne Welt fort im zweiten Einakter »Fritzchen«. Welch ein Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Helden! Fritzchen ist ein junger Leutnant, der ein schlichtes Mädchen geliebt hat; aber der schneidige Vater, Offizier, hat ihn ausgelacht; erst solle er etwas erleben, wie seine Ahnen es alle getrieben hätten. Mit einem Wort: Fritzchen soll sich in kecke, schneidige, unsittliche Liebesabenteuer einlassen. Das versucht das arme Fritzchen nun auch, aber bei der ersten Gelegenheit bekommt er Peitschenhiebe, und es bleibt ihm nichts übrig, als sich im Duell totschießen zu lassen. Wie ihn der schneidige Herr Papa nun im letzten Augenblick zur Rede stellen will, da zeigt der Sohn dem oberflächlichen Alten, daß nur seine Erziehung ihn dahin getrieben habe. Dieser plötzliche Ausblick auf die vernichtende Wirkung einer blasierten Weltanschauung hebt den kurzen Einakter zur Würde einer großen Zeitdichtung empor. Er gehört zu dem Besten, was Sudermann geschrieben hat. Nur hätte er den Versuch unterlassen sollen, den beiden gewaltigen Schilderungen des Sterbenmüssens in alter und neuer Zeit mit den Schellenglocken der Narrenkappe nachläuten zu wollen. Ein dritter Einakter »Das ewig Männliche« sollte nämlich den tragischen Grundgedanken ins Komische wenden. Aber weder die Verse noch die frivole Grundidee dieses Maskenscherzes sind des Schöpfers der beiden ersten Einakter würdig. Alles in allem aber bewies diese sonderbare Einakter-Gruppe mit ihrem Schwanken von geschichtlicher Prosa durch die moderne Welt zu pikanten Versen, daß auch Sudermann sehnsuchtsvoll darnach strebte, sich wieder zu größeren Zielen emporzuringen.

 


 


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