Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Achtes Kapitel.

Der Streit um den Schillerpreis und um die Zukunft der deutschen Dichtung.

Aber die große Schar der ewig Blinden und ewig Kleinen, die vom Siege jeder bedeutenderen Natur nichts anderes ersehnen, als daß sie nun von der Rauchwolke einer neuen Mode ebenfalls möchten emporgetragen werden – sie posaunten den Sieg der »neuen Richtung« aus. Ja, es gab sonderbare Heilige, die jetzt förmlich daran glaubten, daß man nun ein neues Allheilmittel gefunden habe, mit dem die junge Generation eine neue Litteratur heraufbeschwören könne. Aber gerade durch ein derartiges Verschärfen der Gegensätze wurde in Wahrheit die friedliche Entwickelung natürlich nur gestört. So platzten zum ersten Male die beiden Richtungen auf einander bei der Verteilung des Schillerpreises im April 1891. In der vom Kaiser einberufenen Kommission, welche die Vorschläge für die diesmalige Zuerkennung dieser Hohenzoller'schen Hausstiftung zu machen hatte, saßen Männer, die alle im weiteren Sinne des Wortes sich zum Realismus bekannten: so die Dichter Gustav Freytag und Paul Heyse, so die Berliner Universitätsprofessoren Heinrich von Treitschke und Erich Schmidt (der Nachfolger Wilhelm Scherers), Dilthey und Weinhold, der Hoftheaterdirektor Devrient (Nachfolger Annos), 268 der Direktor der Nationalgalerie Max Jordan und als Vorsitzender Graf von Hochberg. Da die Kommission nur Vorschläge zu machen hatte, beim Kaiser aber die Bestätigung lag, so konnte eine Einigung so bald nicht erzielt werden. Endlich beschloß man, diesmal gar keinen Dramatiker auszuzeichnen, sondern zwei bedeutende Lyriker. Und da entschied man sich für zwei siebzigjährige Greise: für den Berliner Theodor Fontane und für den Kieler Claus Groth. Den beiden verdienstvollen Herren gönnte natürlich jeder gerne diese Auszeichnung. Aber man empfand es lebhaft, daß damit über die Dramatiker der letzten Zeit der Stab gebrochen war. Wenn man die Beurteilung dieser Entscheidung in den größeren deutschen Zeitungen von damals verfolgt, so findet man fast überall eine gewisse Entrüstung darüber. So schrieb der »Berliner Börsen-Courier«:

»Der Entschluß, von einer Auszeichnung von Werken dramatischer Litteratur abzusehen, war aber mehr ein praktischer Ausweg aus Verlegenheit, als eine gewollte Verurteilung der gesamten Bühnendichtung der letzten Jahre, die, man mag ihr noch so kühl gegenüberstehen, doch nicht gar so sehr hinter den Schöpfungen der vorangegangenen Preisperiode zurück steht.

Im »Berliner Tageblatt« aber zürnte Sudermanns Herold, Otto Neumann-Hofer, über die Entscheidung der Kommission, die er ein »Angstprodukt« nannte:

»Wie die Akademie auf Molières Büste schrieb, daß nicht sie ihm, sondern er ihr gefehlt habe, so wird nicht der Schillerpreis dem jungen deutschen Drama fehlen, sondern das junge deutsche Drama dem Schillerpreis.«

Noch deutlicher wurde die »Frankfurter Zeitung«:

»Wäre der Schillerpreis dazu bestimmt gewesen, wirkliche Verdienste um die dramatische Litteratur zu belohnen, so hätte vor allem ein Mann in Betracht kommen müssen; Hermann Sudermann. Und hätte man aus Rücksicht auf die Empfindlichkeit gewisser Kreise Anstand genommen, seiner »Ehre« den Preis zu erteilen, so hätte noch immer »Sodoms Ende« diese Auszeichnung verdient.« –

In gleichem Sinne schrieben auch die »Münchener Neuesten Nachrichten« (25. April):

»Man vergaß, daß ein Geschlecht von Geistern aufsteigt, welches etwas Aehnliches durchsetzen will in deutscher Kunst wie der junge Neuerer und litterarische Umstürzler Friedrich Schiller. Es steht jetzt fest, daß Paul Heyse voll Wärme für Sudermanns »Ehre« eingetreten ist. 269 Damit ist der Ton angeschlagen, der im Schoße der Kommission hätte widerklingen sollen. Es war ein Dichter vorgeschlagen, der nicht das Ueberlieferte nachahmen, sondern etwas Eigenes schaffen will. Etwas Neues und Eigenartiges will auch Adolf Wilbrandt mit dem »Meister von Palmyra«, den aus der Dunkelheit hervorgeholt zu haben ein dauerndes Verdienst der Münchener Hofbühne ist; selbst Richard Voß und Ludwig Fulda haben im Laufe der letzten Jahre durch Stücke, die viele Anerkennung gefunden, ein besonderes Streben an den Tag gelegt. Noch mehr aber Gerhart Hauptmann.« –

Auch die »Breslauer Zeitung« meinte (24. April):

»Man mag es beklagen oder billigen, die Thatsache ist nicht fortzuleugnen, daß die dramatische Produktion in Deutschland die von Schiller betretenen Bahnen völlig verlassen hat. Die Richtung auf das historische Drama, der fünffüßige Jambus, die Rhetorik der Sprache, sind völlig aufgegeben. Die Poesie geht anderen Zielen nach; sie schildert die bestehende Gesellschaft, sie ringt nach stahlharter Prosa, nach scharfer Charakteristik. Sie hält sich an das Vorbild von Sardou oder an das von Ibsen.« –

Ja auch der grollend aus der »Freien Bühne« ausgeschiedene Maximilian Harden begann unter dem Pseudonym »Kent« in der Zeitschrift »Nation« einen Artikel, der dem Preisrichter im allgemeinen zustimmte, mit den Worten:

»Dramen von weiter reichender litterarischer Bedeutung hat in neuester Zeit bei uns nur der junge Herr Gerhart Hauptmann geschrieben, aber der war wohl nicht hoffähig, so wenig Anstoß der Räuberdichter auch an seinen inzwischen überwundenen Brutalitäten genommen hätte.«

Zu den wenigen Ausnahmen, die noch immer die naturalistische Richtung scharf verurteilten, gehörte z. B. die »Dresdener Zeitung«; sie bezog sich dabei auf ein Gedicht, das unlängst die »Fliegenden Blätter« gebracht hatten:

»Aus einem Schauspielhaus heraus
kopfschüttelnd ging ein Mann nach Haus.
Und wie er grübelnd die Straße zieht,
an einem Kehrichthaufen er sieht
ein hohes Weib in Lumpen gehüllt,
das mit einer Harke im Boden wühlt.
Noch ist am verwitterten Antlitz traun
der einstigen Schönheit Spur zu schaun. 270

Verwundert tritt der Mann herbei,
zu fragen, wer wohl die Alte sei.
»Ich bin«, spricht diese, »die Poesie!
So elend, wie jetzt, erging mir's noch nie.
Einst hab' ich besel'gend, von allen verehrt,
unsterbliche Schönheit die Menschen gelehrt.
Nun grab ich in Lumpen – es ist ein Graus –
aus Kehricht poetische Schätze heraus.« – –

Aber auch dieses Gedicht war ja kein hoffnungsfreudiges Kampflied mehr, sondern nur noch ein wehmütiges Anerkennen des Sieges der Naturalisten. Ja, sie hatten gesiegt auf der ganzen Linie. Und da ihnen dabei die theoretische Bearbeitung der Massen so viel genützt hatte, so war es kein Wunder, daß einer der Jüngsten unter den Jüngsten, Curt Grottewitz (geb. 22. Februar 1866 in Grottewitz) allen Ernstes im »Magazin für Litteratur« eine »Enquete über die Zukunft der deutschen Litteratur« anstellte. Er schickte nämlich an alle erdenklichen ihm den Namen nach bekannten Schriftsteller einen Fragebogen, auf dem er erstens ihre Meinung über die Zukunft der deutschen Litteratur im allgemeinen forderte und ihnen zweitens folgende fünf Unterfragen vorlegte:

1. »Glauben Sie, daß der Einfluß Zolas, Ibsens, Tolstojs auf unsere Litteratur förderlich ist? – 2. Meinen Sie, daß der radikale Naturalismus Gerhart Hauptmanns und Holz-Schlafs von Dauer sein wird? – 3. Welche ist ihre Meinung über Sudermann? – 4. Meinen Sie, daß eine besondere Dichtungsgattung (Epos, Roman u. s. w.) in Zukunft die herrschende sein wird? – 5. Gehen wir einer Blüte oder einem Verfall der deutschen Litteratur entgegen?« –

In der That nahmen sich nicht weniger als vierundsiebzig Dichter und Schriftsteller – darunter die klangvollsten Namen – wirklich Zeit und Mühe, kürzere oder längere Erwiderungen zu schicken, wobei sie jedoch meist auf die Unterfragen nicht näher eingingen. Die eingetroffenen Antworten aber wurden von Curt Grottewitz im »Magazin« veröffentlicht, dann aber sorgfältig gesammelt und nach echter Pedanten-Weise in eine Art von Linnéischem System gebracht. Da wurden erst die drei großen Hauptgruppen geschaffen: die Alten, die Mittelpartei und die Jungen. Diese dritte Hauptklasse wurde dann sorgfältigst wieder gegliedert in folgende Unterordnungen: 1. »Die Vorposten;« 2. »Die gemäßigten Realisten«, 3. »Die Naturalisten«, 4. »Die Impressionisten«, 5. »Symbolisten und neue Romantiker«, 6. »Sozial-Psychologen«, 7. »Nietzscheaner und Neu-Idealisten.« – Nach dem so jedes Dichterpflänzchen fein säuberlich mit seinem schulmeisterlichen Etikett versehen und auf das Löschpapier der Langenweile aufgeklebt worden war, wurde das ganze ordentlich durchgetrocknete Poeten-Herbarium als Buch herausgegeben (Berlin 1892) und in der Vorrede von dieser Enquete geweissagt, »sie bringt wirkliche Resultate – Resultate, wie sie – in größerem Maßstabe natürlich – etwa die internationale Münchener Ausstellung von 1888 oder die letzte Berliner für die bildende Kunst gebracht hat«.

271 Wer nun aber das weisheitsvolle Büchelchen offenbarungshungrig aufschlug, der fand, daß die klügsten unter den Beantwortern auf die Hauptfrage geantwortet hatten, daß man sie eben nicht beantworten könne. Da begann z. B. Paul Heyse mit den Worten: »Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen die Antwort auf Ihre Umfrage schuldig bleiben.« – Da schrieb Rudolf Baumbach: »Wie lebt das deutsche Schrifttum fort? Der Weise schweigt, der Augur hat das Wort.« – Da äußerte Hans Hoffmann: »Ihre wiederholte Anfrage ehrt mich, doch gestehe ich, daß ich mich der Ehre nicht gewachsen fühle.«

Da meinte Julius Stinde: »Was die Zukunft der deutschen Litteratur sein wird, weiß ich wirklich nicht, und wenn Sie mich totprügeln.« – Da schrieb Frau E. Vely: »Die Hauptfrage läßt sich meiner Meinung nach überhaupt nicht beantworten.« – Da sagte Victor Blüthgen: »Dichter sollen zwar Propheten sein – allein was mich betrifft, so habe ich keine Ahnung, was aus der deutschen Litteratur werden soll.« – Da traf Ernst von Wildenbruch den Nagel auf den Kopf mit der Aeußerung: »Keine »Schule«, keine »Anhängerschaft«, keine »Partei«, keine »Clique« oder »Klaque« wird der Litteratur jemals einen Schritt vorwärts helfen, sondern nur die eine, in sich beruhende, aus sich herausgehende schaffenskräftige geniale Persönlichkeit. Ob dieser Eine in der deutschen Litteratur aufstehen wird – wer kann das sagen? Wann er aufstehen wird? Wer kann darüber prophezeien? Vieles kann man, im Wege richtiger Kombination, vorher bestimmen und berechnen, aber das eine nicht: ob und wann man etwas geschenkt bekommen wird – und das Genie ist ein Geschenk, das der Menschheit gebracht wird – von wem –?« –

Jedoch nicht von allen vierundsiebzig Einsendern können hier die Antworten wiederholt werden. Es waren genug darunter, die sich ihre oft geistreichen Köpfe seitenlang darüber zerbrachen, das unlösbare Rätsel zu lösen. Genug, daß auch die Jüngsten keineswegs schnell bei der Hand waren, ihren Altersgenossen Lorbeerkränze aufs Haupt zu setzen. Tovote wollte nicht einmal den »Kollegen Crampton« anerkennen: »Das kann die Zukunft vom Drama auch nicht sein!« Bierbaum wollte gleichfalls keine modernen Dramatiker anerkennen:

»Mich dünkt, es wird einer kommen müssen und auch kommen, der die souveräne Handhabung der naturalistischen Technik mit freischöpferischer Phantasie und mit Leidenschaft verbindet. Hauptmann, Holz, Schlaf, Halbe plus Liliencron etwa, – haben wir den, so dürfen wir fürs Drama rufen: habemus papam!«

Was das wohl für ein Ragout geben würde! – Und Hermann Bahr endlich antwortet aus seiner Heimatstadt Linz a. Donau:

»Was Ihre Enquete betrifft, so antworte ich auf Ihre Frage: »Was hat die deutsche Litteratur für eine Zukunft?« kurz und deutlich;»Gar keine.« –

Von Interesse seien uns noch die Antworten der Matadoren der Revolution. Hermann Sudermann gehörte zu den Klugen. Er schrieb: »Das Einzige, was ich von meinem Standpunkte aus hiezu zu sagen wüßte, wäre: »Bilde, Künstler, rede nicht!« – Hauptmann aber zeichnete folgendes Schema: 272

          Himmel,
          Ideal,
          Metaphysik,
          Abkehr,
          Prophetie,
          Erde,
          Leben,
          Physik,
          Einkehr,
          Dichtung:
zwei Lager;
wird das eine fett, wird das andre mager. –

Ein Blick auf dies Schema zeigt uns, daß Hauptmann sich nicht damit begnügte, von seinen Zeitgenossen als bedeutender Dichter anerkannt zu werden – nein, in seiner Einseitigkeit wollte er keine andern Götter dulden neben sich und seiner Richtung. Dante ist ohne den Himmel, Schiller ohne das Ideal nicht denkbar. Mit keckem Finger weist sie beide der Hauptmann der litterarischen Revolution aus dem »Lager der Dichtung«. Wenn aber die Sieger anfangen, übermütig sich selbst zum Maßstabe der Beurteilung aller anderen zu machen, so beginnt ihr Thron zu wanken. Und so war auch die Alleinherrschaft des Naturalismus in dem Augenblicke, wo er ganz unbestritten das Zepter zu führen schien, – plötzlich und mit einem Schlage zu Ende. 273

 


 


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