Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Zweites Kapitel.

Die neuen Gegensätze und die neue Jugend auf dem Theater.

Wer aber geglaubt hatte, daß Hauptmann seine naturalistischen Grundsätze aufgegeben hätte, der hatte sich sehr geirrt. Hatte er doch gleichzeitig mit »Hannele« 283 wieder eine naturalistische Komödie veröffentlicht, die noch unter L'Arronge im »Deutschen Theater« gespielt wurde: »Der Biberpelz«.

Hauptmann wollte hier die Zeit, die so dringend nach Linderung der sozialen Notlage verlangte und so viel Interesse auf weit minder wichtige Fragen verwandte, darstellen in den Verhältnissen eines kleinen märkischen Ortes, ähnlich dem, den er selbst so lange bewohnt hatte. Er verkörperte in einem Amtsvorsteher das Strebertum und die damit verbundene Oberflächlichkeit eines gewissen Typus, der im Beamtenleben vorkommt. Sein Amtsvorsteher Wehrhahn ist ein junger, schneidiger Beamter, der gern die allerhöchste Aufmerksamkeit auf sich lenken, gern »Karriere« machen und emporsteigen möchte, und der darum sein ganzes Augenmerk darauf lenkt, politisch links stehende Persönlichkeiten in seinem Amtsbezirk aufzuspüren und ihnen Fallen zu stellen. Dabei aber übersieht er ganz das diebische Treiben der Waschfrau Wolf. Wohl erreicht der zweite Akt einen gewissen Höhepunkt der Satire, während die beiden folgenden Akte in der Idee nur eine Wiederholung der ersten Aufzüge bilden und daher die Wirkung wieder verderben. Und die Diebin selbst ist zu trivial, als daß sie bei der immer gleichbleibenden Situation das Interesse fünf Akte lang wach halten könnte. – Aber der Naturalismus hatte in der »Komödie« ja noch einen eifrigen Verfechter, der allerdings auf der Bühne noch immer keine Erfolge erringen konnte. Das war Hartleben.

Er hatte diesmal seinen neuesten Komödienstoff mitten aus der Zeitgeschichte herausgegriffen. »Hanna Jagert« nennt er eine sozialdemokratische Agitatorin, die von ihrem ersten männlichen Freund tief in die Dogmatik der Partei hineingeführt und vom zweiten aus dieser Einseitigkeit herausgeleitet wird zu den lichten Höhen einer freieren Weltbetrachtung. Aber statt hierdurch sittlich geläutert zu werden, wird sie zur krassen Egoistin. Wie ihr erster sozialistischer Geliebter begnadigt aus dem Gefängnisse kommt, giebt sie ihm den Laufpaß; aber auch den zweiten Seelenerzieher, einen gebildeten Chemiker, entläßt sie, nachdem sie durch sein Geld sich ein eigenes Geschäft hat gründen können, und heiratet dann einen unbedeutenden jungen Grafen. So verkündet also auch sie, wie Angele, nur Hartlebens traurigen Grundsatz: »Verachtet das Weib!« – Aehnlich geht es in der »Erziehung zur Ehe« zu. Da ist eine erziehungsfreudige Mutter die Hauptperson. Sie meint, daß junge Leute austoben müssen vor der Ehe, und sie verlangt nicht, daß ihr Hermann ein Mönchsleben führe. Aber seine Streiche gehen ihr doch zu weit. Vor allen Dingen will sie nicht, daß ihr Sohn sich so weit in ein Verhältnis einläßt, wie mit seiner Meta. Deshalb giebt sie ihm Geld und verlangt, daß er sogleich damit das Verhältnis löse. Gleichzeitig entläßt sie ihr Dienstmädchen, das der Sohn auch liebt, und ruft sich telegraphisch ihren Schwager Otto aus Dresden zu Hilfe: da doch ein Mann in solchen Dingen einem Jüngling gegenüber mehr Autorität habe als eine Frau. Alle ihre Befehle werden pünktlich ausgeführt. Der gute Onkel Otto ist nämlich kreuzvergnügt, daß er auf die Weise einen Vorwand hat, wieder einmal ohne seine Frau nach Berlin kommen zu können. Er verspricht seiner Schwägerin treue Hilfe und macht dann in seinem behaglichen Sächsisch dem Hermann klar, daß ein wohlerzogener junger 284 Mann vor der Ehe – sich nicht einseitig und trotzig an ein Mädchen hängen, sondern jeden Augenblick eine andere nehmen müsse. Und auch die verlassene Meta tröstet sich schnell mit einem andern. – »Verachtet das Weib!!«

Ganz im Gegensatz zu dieser cynischen Auffassung Hartlebens versuchte Sudermann in seiner »Heimat« (1893) wieder einmal die Verteidigung einer Unverstandenen.

In wenigen Worten läßt sich die Handlung erzählen: Die Tochter eines Offiziers ist jung zur Bühne gegangen und hat dadurch das Elternhaus verloren. Draußen in der Welt ist sie das Opfer eines Herrn von Keller geworden, der ihr Liebe geheuchelt und sie dann verlassen hat. Für ihr Kind hat sie dann weiter gerungen. Als gefeierte Diva kommt sie in die Stadt zurück, in der ihr Vater mit seiner zweiten Gattin lebt, und sie kann der Versuchung nicht widerstehen, die Heimat, den Vater und vor allem das Schwesterlein wieder zu sehen. Zur Versöhnung gestimmt durch einen menschenfreundlichen Pfarrer empfangen die Eltern das heimkehrende Kind mit wohlwollender Güte. Dazu läßt der Vater sich nur dadurch bewegen, daß er wenigstens die sittliche Ehre seiner Tochter für unbefleckt hält. Die seltsamen Gewohnheiten der fahrenden Frau erregen zwar Verwunderung im schlichten Elternhaus, aber zur Katastrophe kommt es erst, wie Herr von Keller dort auftaucht. Kaum hat Martha in ihm ihren einstigen Verführer wiedererkannt, so donnert sie ihn in einer leidenschaftlichen Szene mit gewaltigen Worten nieder. Der Vater Oberst kommt dazu. Er verlangt und erhält Aufklärung von seiner Tochter. Nachdem er versucht hat, den Verräter vor seine Waffe zu bekommen, richtet er in rauher Römertugend den Lauf der Pistole auf die eigene entehrte Tochter – aber ehe der Schuß losgeht, sinkt er vom Schlage getroffen zu Boden.

Die letzten beiden Akte des Stückes verschafften ihm durch ihre starke Szenenwirkung einen sieghaften Erfolg. Es steckte darin etwas vom alten Sudermann mit seinem Streben nach Kraft und rücksichtsloser Energie. In den ersten beiden Akten aber war er ein neuer Sudermann geworden – ein Sudermann, der um jeden Preis ein Hauptmann werden wollte. Hier fand sich die absichtlich handlungslose Ausmalung der Situation nach Holz'schem Rezept. Darum errangen zwar die ersten beiden Akte das Lob des Herrn Schlenther und der übrigen Brahm-Jünger, aber die Zuschauer ließen sie kalt. Es kann eben niemand aus seiner eigenen Haut heraus. Wer nun einmal ein Sudermann ist, soll und muß ein Sudermann bleiben und thut Unrecht, wenn er sich nach der Eigenart eines andern ummodeln will: er verliert nur dabei sein eigenes Bestes, ohne das Gute jenes andern erringen zu können. Hauptmann hatte bewiesen, daß er die Kunst verstand, ein Nichts durch ewige Fortentwicklung der Stimmung durch viele Akte hindurch zu spinnen. Sudermann verstand das nie. Er brauchte von jeher Handlung und kraftvolle Charaktere. War das nicht ebenso gut, ja, war das nicht besser, als die ewige Mattherzigkeit der fein erschauten, aber unendlich weichlichen Gestalten Hauptmanns? – Aber freilich, die litterarischen Machthaber von Berlin hatten sich nicht damit begnügt, Hauptmanns Eigenart anzuerkennen, – denn darin hatten sie recht – sondern sie hatten diese Eigenart Hauptmanns als die allein 285 seligmachende Norm für die Dichtkunst überhaupt hinzustellen versucht – und darin thaten sie schweres Unrecht. Manch jugendliche dichterische Individualität hat sich selber qualvoll daran zu Grunde gemartert, daß sie um jeden Preis ein Abklatsch von Hauptmann werden wollte. Sudermann schien das erste dieser Opfer werden zu sollen. Bis zum Ende des Jahrhunderts hin verlor er immer mehr sich selbst in dem – bewußten oder unbewußten – Streben, jener Norm gerecht zu werden.

Einem anderen jungaufstrebenden Talent war das gelungen. Der erste Schüler Hauptmanns hatte sich langsam entwickelt in Max Halbe (geb. in Guettland am 4. Okt. 1865). »Der Emporkömmling« (1889) hieß sein erstes Schauspiel, das als eine harmlose Familiengeschichte begann, um dann – nach altem Tragödienstil – in Blut und Mord zu enden. Aufgeführt wurde es ebensowenig wie »Freie Liebe« (1890), das später umgetauft wurde in »Ein Verhältnis«. Hier hat sich ein Schriftsteller, Namens Winter, mit einer früheren sogenannten »Stütze«, Namens Luise, zusammengethan; und in dem peinigend einförmigen Sekundenstil der Familie Selicke, noch kleinlicher als in Hauptmanns »Einsamen Menschen«, wird Strich für Strich gezeigt, wie er sein Schätzchen liebt und neckt, ärgert und sich mit ihr herum nörgelt; wie er gegen Stimmungen, die von innen und von außen kommen, sein Verhältnis zu verteidigen hat; und wie er endlich beschließt, mit ihr nach Amerika davon zu gehen. – Mit dem dritten Schauspiel »Der Eisgang« (1892) erreichte Halbe schon eine Aufführung auf der »Freien Volksbühne«. In dem Schauspiel, das im Dialekt geschrieben ist und eine nicht leicht zu verstehende Symbolik mit der Sozialdemokratie in das Natur-Ereignis des Eisgangs hineinlegt – wollten die meisten der Hauptmannianer nur eine originallose Nachahmung des jungen Meisters erblicken. Aber nun kam im nächsten Jahre plötzlich der Erfolg, und er kam stürmisch und urgewaltig. In demselben Jahre 1893, wo Hauptmann die Wendung zur Mystik des Märchens gemacht hatte, schien der Gesellschafts-Realismus auf der Bühne noch einmal siegreich aus dem Grabe hervorzusteigen mit dem Doppelerfolg von Sudermanns »Heimat« und Halbes »Jugend«. An einem sommerlichen Vormittage wurde im »Residenztheater« der Versuch gemacht mit Halbes neuester Schöpfung. – Im deutschen Polenlande spielt das Stück. Ein alter katholischer Pfarrer von duldsamer Gesinnung in Hinsicht der Lehre, von liebevollem Wohlwollen in Hinsicht des Lebens, sieht neben sich eine 286 junge Nichte erblühen, auf deren Leben die Schuld der toten Mutter einen Schatten wirft, denn sie ist ein uneheliches Kind; sein Kaplan, ein junger Fanatiker des Dogmas, der seine eigene Liebe zu dem Kinde mühsam verbirgt, will Aennchen bereden, den Schleier zu nehmen. Als Beichtvater ängstigt er sie namenlos, während der gute Onkel immer wieder ihren Lebensmut erweckt. Da kommt plötzlich ein junger Vetter ins Haus: ein werdender Studio, der eben sein Abiturientenexamen bestanden hat. Er hat noch nie ein so junges Mädchen, sie noch nie einen so jungen Mann in so nahem Umgange gekannt. Ihr eigener Bruder ist ein scheuer Idiot, der den jungen Ankömmling mit finsterem Haß empfängt. Der fanatische Kaplan bringt dem Neuling keine bessere Gesinnung entgegen, während der alte Onkel die beiden vertrauensselig und allzuoft allein läßt. Schnell entzündet sich die erste unverstandene Jugendliebe in den beiden, und sie sehen sich beide im seligen Drange ihrer Unerfahrenheit hingerissen zu dem, was sie noch gar nicht kennen. Nun ist das arme Aennchen derselben Schande bloß, die ihrer Mutter das Leben verdorben hat. Dennoch würde der humane Sinn des alten Pfarrers alles zum Guten wenden, wenn nicht der idiotische Bruder sinnlos eingreifen würde. Mit dem Instinkt des Tieres haßt er den Verführer seiner Schwester, obgleich er die Sache gar nicht zu beurteilen vermag. Dem davongehenden jungen Studio will er die tödliche Kugel nachsenden, aber – sie trifft das Herz der Schwester.

Was diesem Stücke zu solch stürmischem Erfolge verhalf, das war die wirkliche Jugendlichkeit, die es durchdrang. Hier waren einmal nicht die ewigen stöhnenden jungen Jammergreise! Nicht die immerwährend über die erdrückenden Einflüsse ihrer Umgebung ächzenden Mädchen! Hier waren Jüngling und Jungfrau in frischer Lebenslust! Zwei junge Wesen, denen der Zukunftshimmel voll leuchtender Hoffnungssterne glänzte! Freilich war auch hier die Liebe wieder nach der naturalistisch-sexuellen Seite gewendet, aber die Katastrophe ergab sich doch diesmal, wie bei Goethes Gretchen, aus frischfröhlichem Naturdrange. Hier war nichts »fin de siècle« und décadent. Und wenn hier gesündigt ward, so geschah es nicht aus Krankheit, sondern aus schlecht überwachter Gesundheit. So war in dem Stück nichts modern im damaligen Sinne des Wortes. Und selbst der Schluß unterschied sich von dem, was man modern nannte. Nach den urältesten Gesetzen der Tragik folgte hier auf die Schuld sogleich die Sühne. Die einst reine Heldin des Stückes schwindet dahin, wie sie kaum unrein geworden ist. Und daß das Todesurteil an ihr gar durch einen Idioten vollstreckt wird, dessen Kugel obendrein ein anderes Ziel erreicht, als der Schütze wählte, – das könnte gar für ein unmittelbares Eingreifen höherer Mächte angesehen werden, denen die Strenge des Sittengesetzes heiliger gilt, als die Naturtriebe. – Aus all diesen Gründen wirkte das Stück nicht niederdrückend oder verstimmend, wie die naturalistischen Werke, sondern teils erfrischend, teils mit jener eigentümlichen ernsten Weihe des Tragischen. Der Erfolg war so groß, daß Direktor Lautenburg für den nächsten Winter neben seinem »Residenztheater« ein ganzes neues Bühnenhaus, das unlängst ziemlich zwecklos erbaute »Neue Theater«, eigens für dieses Halbesche Stück pachten konnte, 287 und Hunderte von Aufführungen der »Jugend« machten den Namen des Verfassers schnell berühmt. Max Halbe, der Schöpfer der »Jugend«, galt von nun auch für den Anführer einer neuen Jugend. Denn, so wenig modern sein Schauspiel auch in Wirklichkeit war, wenn man von den Aeußerlichkeiten absieht – er selbst galt sich und seinen Anhängern für einen echt »modernen« Reformator.

 


 


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