Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Siebentes Kapitel.

Das Wiedererwachen der Lustigkeit.

Mitten aus allem Ernst sollte der Humor wieder erwachen. Gerade die Durchforschung der sozialen Verhältnisse mußte dazu führen, daß man neben den ernsten Figuren auch die komischen wieder sehen lernte. Früher hatte man das nie vergessen. Dickens hat es verstanden wie einer, mit dem Elend und Unglück zu weinen, aber auch verstanden, köstlich und herzlich zu lachen über das, was einmal lächerlich ist; und unübertroffen ist er in der Gabe des echten Humoristen, zu lachen und zu weinen zu gleicher Zeit. Nur ein Deutscher hat ihn darin ganz erreicht, der Schöpfer der »Festungstid« und der »Stromtid«: der einzige Fritz Reuter. Oberflächliche Humoristen hatte es genug gegeben, die alles mit billigem Witz übersprühen, die alles von der leichten Seite auffassen, mit dem Leben tändeln, immer die Schellen ihrer Kappen ertönen lassen und höchstens einmal leicht die Pritsche schwingen. Solche Witzbolde sind ja der Welt nicht nur erfreulich, sondern gewiß notwendig. Mühe und Arbeit des Lebens braucht sie, wie der verdorbene Magen das doppelt kohlensaure Natron. Aber sie sind die Oberflächlichen, die von 253 der eigentlichen Welt nichts sehen: denn in ihren Tiefen ist die Welt ernst und da oft am ernstesten, wo sie am schönsten ist. Aber in diese Tiefen, die den Witzbold erschaudern machen, dringt der Humorist mit leichten Schritten ein und läßt das warme Licht seiner goldechten Poesie scheinen, das der Sonne gleich am köstlichsten wirkt, wenn es durch feuchte Tropfen strahlt: denn dann zaubert es den farbenfreudigen Regenbogen. Es war eine der vielen Einseitigkeiten der jüngsten Richtung, daß sie diese echten Humoristen mit den Witzbolden zugleich ausgewiesen hatte. Sie liebte eben – seitdem philologische Pedanten ihr die Gesetze vorschrieben – den melancholischen Regenbogen so wenig als die heitere Sonne, bis das eintönige Grau sie alle hatte nervös werden lassen. Nun fühlte man, daß man endlich wieder einmal lachen lernen mußte.

Abseits von den Mauern der neuen Schule stand freilich mancher Humorist, namentlich der älteren Generation, und unter ihnen vor allen einer, von dem der Tageslärm wenig wußte und der doch in seiner Art ein Meister war. Hans Hoffmann (geb. in Stettin am 27. Juli 1848) stand damals am Anfange der vierziger Jahre seines kräftigen Lebens und gab 1890 und 1891 zwei seiner Meisterwerke heraus: den »Eisernen Rittmeister«und das »Gymnasium zu Stolpenburg«. Was ist das für eine Novellensammlung, dies »Gymnasium zu Stolpenburg«! Es würde verdienen, daß man es als etwas ganz Besonderes für sich, als einen Vertreter einer ganz besonderen Untergattung des Humors auffaßte: des Schulhumors! Das klingt recht oberflächlich und wenig versprechend. Man denkt unwillkürlich dabei an Ernst Ecksteins berühmten – »Besuch im Karzer« (1875), 254 über den sich jeder Gymnasiast einmal halbtot gelacht hat. Er war 1890 in 85. Auflage erschienen. Hoffmanns »Gymnasium zu Stolpenburg« erlebte im folgenden Jahrzehnt langsam drei Auflagen, gerade weil jenes Werkchen nur eine witzige Schnurre, dieses aber ein Meisterstückchen wirklicher Seelenmalerei ist. Und wieviel natürlicher ist es auch, als der beiden Naturalisten Holz und Schlaf so unnatürlich verzerrte Geschichte vom »ersten Schultag« in der Papa-Hamlet-Sammlung. Ja wieviel moderner Zeitgeist weht durch die Lebensgeschichten der Gymnasiallehrer Hoffmanns! Vom verflucht Lustigen über den trocken Pedantischen hinweg bis zum schwermütig Ahnungsvollen sehen wir sie hier alle typisch vertreten. Der eine seufzt über die Ketten, die seinen hochauffliegenden Geist lebenslang an den Zwang der Schule binden, der andere fühlt sich selig als Monarch auf ragendem Katheder und schwelgt in staubiger Weisheit, ein dritter macht seinen Beruf ab, wie ein lästiges Geschäft und schlägt in den Feierstunden in fröhlicher Jugendkraft dem gelehrten Kram ein Schnippchen. Und dabei klingt das gewaltige Leitmotiv von dem Gegensatz zwischen Schule und Welt. Wie ein Ueberbleibsel aus dem Mittelalter steht das gelehrte Gymnasium, griechische und lateinische Menschenseelen in sich bergend und hütend, mitten in dem draußen brausenden Strom des Lebens, und wenn dieser einmal ein paar Wellen hineinspritzt in den Vorhof der heiligen Mauern, dann fahren auch die Lehrer in zwei Parteien auseinander als die Alten und die Jungen. Da giebt es kurz vor dem Ausbruch des siebziger Krieges noch einen würdigen älteren Lehrer, der nur in der Welt des klassischen Altertums lebt, der in kräftigen Jünglingsjahren in Rom nur alte Handschriften studiert und die Bilder der christlichen Renaissance so wenig eines Blickes gewürdigt hat wie die herrlichen Bauten und die üppig schöne Natur. Ihm war Stolpenburg ebenso recht wie Rom – denn Bücher gab es ja auch hier – und als junger Ehemann begrüßt er die Geburt eines Söhnchens mit einer lateinischen Ode. Welcher Schmerz für ihn aber war es, als der heranwachsende Knabe keine Neigung zur Philologie zeigte, ja als er endlich gar Leutnant wurde. Und nun bricht der Krieg von 1870 aus. Die Jungens in der Schule lachen ihren Oberlehrer aus, der die Kriegserklärung noch nicht gelesen hat, wie er in die Klasse tritt, um über die messenischen Kriege zu sprechen. Die Begeisterung der Jugend macht ihn stutzig, und wie sein eigener Sohn nun mit ins Feld muß und für den Vater dadurch der Krieg ein persönliches hohes Interesse gewinnt, da dämmert dem alten Philologen eine Ahnung davon auf, daß man auch von seinem eigenen Vaterland und seiner Geschichte etwas wissen muß. Heimlich holt er diese vernachlässigten Studien nach, und wie ihn endlich die Todesnachricht seines tapferen Sohnes erreicht, da kämpft sich der wortkarg gewordene Mann zu der Ueberzeugung durch, daß neben dem rückwärtsblickenden Gelehrten auch derjenige zu achten sei an Wert, der Kraft und Leben einsetzt für die Kämpfe der eigenen Zeit.

Noch ergreifender aber kommt der neueste Gegensatz von alt und jung, ja, der Gegensatz von klassischer und moderner Kunstanschauung selbst zum Ausdruck in der lebensvollen Gestalt eines Lehrers und seines Lieblingsschülers. Nur ein 255 eigenartiger Geist konnte einen Seelenkonflikt gestalten wie diesen: Ein alter Lehrer – diesmal aber kein Pedant, sondern ein Mann mit schönheitstrunkener Seele – hat sein Leben im Gymnasium zu Stolpenburg vertrauern müssen, er hat nicht geliebt und nicht geheiratet, und nur eine heiße Sehnsucht hat ihm über die Enge des Berufs und das öde Zusammenleben mit drei altjungferlichen Schwestern hinweggeleuchtet: Die hoffnungsvolle Sehnsucht, einmal Griechenland zu schauen. Dies Land, das ihm durch Homer und Sophokles heilig ist, dünkt ihm der Inbegriff aller Schönheit, Kunst und Weisheit, und wenn er nur einmal auf der Akropolis stehen, einmal in den Piräus hinabblicken, einmal die Ruinen der geweihten Städte durchpilgern könnte, so würde er gern sterben! Und die Erfüllung dieses Wunsches hat er mit kluger Beharrlichkeit immer näher gerückt. Von seinem mageren Gymnasiallehrergehalt hat er in jedem Jahre die immer gleiche kleine Summe für sich und – gewissenhafterweise auch für jede seiner unverheirateten drei Schwestern in vier Sparkassenbücher eintragen lassen, und in gewissenhafter Treue hatte er sich jeden anderen Wunsch versagt für dieses stille Sparen. Was thut es ihm, daß er darüber zum grauköpfigen Alten geworden ist – nun ist dafür aber auch die Summe voll und rund und verbürgt ihm unwiderruflich eine lange schöne Reise nach dem Lande seiner Sehnsucht. Und was nachher mit ihm geschehen würde, das bleibt ihm gleich. Unter einem harmlosen Vorwande nimmt er einen längeren Urlaub, und erst am Tage vor der festgesetzten Abreise überrascht er seine Schwestern mit der sie entrüstenden Mitteilung, aber gleichzeitig mit den sie tröstenden Sparkassenbüchern. Da taucht plötzlich sein einstiger Lieblingsschüler vor ihm auf. Es ist der einzige, der noch an ihm hängt, Jahr für Jahr hat die Verehrung für ihn unter den Schülern abgenommen, denn die moderne Weltanschauung ist auch unter sie eingedrungen und hat sie zu jungen modernen Realisten gemacht, die sich am liebsten um den jungen Lehrer der Naturwissenschaften im Physikzimmer drängen. Nur dieser eine, eine frische Künstlernatur, dankt dem alten Herrn noch immer dafür, daß er ihn zuerst ins Land der Schönheit eingeführt hat. Und jetzt, der Schule entwachsen, besucht er den väterlichen Freund mit gefüllter Mappe, um ihm voll Stolz seine ersten selbständigen Skizzen vorzulegen. Aber o Schreck und Enttäuschung! Der Jüngling ist in Berlin unter die »Modernen« gegangen! Lauter naturalistischen Alltagskram hat er skizziert! Das giebt dem Alten einen Stich durch die Seele. Daß sein eigenes Leben enden muß, ist ihm nicht so schmerzlich, als die furchtbare Ahnung, daß alle Ideale zu Grunde gehen sollen, für die er gelebt hat. Dieser sein Lieblingsschüler war ihm die letzte Bürgschaft für das Fortleben der alten großen Kunst – und nun sollte dieser im alltäglich Naturalistischen zu Grunde gehen? Nein! Lieber verzichtet er selbst auf sein ersehntes Lebensglück. Mit kühnem plötzlichen Entschluß schenkt er dem freudig überraschten Jüngling das Geld zur Reise nach Griechenland, damit dieser dort aus den Quellen ewiger Schönheit schlürfen und wieder zurückkehren kann zum Idealen!

In solcher Weise spiegeln sich in Hans Hoffmanns Werken die Ideenkämpfe der Zeit. Auch die Geschichte des jungen Philologen, dem der Streit um die 256 echten oder unechten Handschriften des Nibelungenlieds Liebes- und Lebensglück zertrümmert, zeigt, was alle Hoffmannschen Skizzen zeigen, daß ein genialer Humorist auf allen Gebieten des geistigen Lebens Anregung nehmen kann zum Kampf gegen Pedanterie und Engherzigkeit, und daß er die Sonderlinge, denen er künstlerisch tief ins Herz schaut, ausstatten kann mit aller Wahrheit lebensvollen Menschentums.

Doch Hans Hoffmann gehörte keiner Clique und keiner Schule an, und darum stieß niemand für ihn in die Lärmtrompete.

Unter der revolutionären Generation hatte freilich auch Max Kretzer Sinn für Humor gezeigt, und als Hauptmann in seinem »Friedensfest« in der Gestalt des berlinisch redenden Dieners auch etwas von dieser Gabe verriet, da mahnte ihn der humorvolle Fontane in seiner Besprechung dringend, diese Seite in sich weiter auszubilden. Auch Hermann Sudermann hatte sich plötzlich und in glücklicher Weise unter die Humoristen geschlagen mit seiner Novelle »Jolanthes Hochzeit« (Berlin 1892). Mit wirklichem übermütigen Humor wird hier geschildert, wie ein eingefleischter Junggeselle sich sozusagen gegen seinen Willen mit einem jungen hübschen Mädchen verlobt, die ihn eigentlich auch gegen ihren Willen nimmt. Noch im letzten Augenblicke wird natürlich alles gut. Er bekommt seine Freiheit wieder, und sie bekommt ihren Leutnant. Aber die prächtige Charakteristik und die gemütswarme Durchführung stellen den kleinen Scherz in die erste Reihe humoristischer Kunstleistung.

Freilich, der eigentliche Humorist der neuen Schule war Ernst von Wolzogen gewesen. Längst hatte dieser darnach gestrebt, vom humoristischen Roman zum Lustspiel überzugehen. Und 1890 gelang es ihm auch, unter Mitarbeit von W. Schumann seine »Kinder der Exzellenz« in ein solches umzuwandeln und am »Deutschen Theater« einen großen Erfolg zu erringen. Jedoch entsprach dies Lustspiel nach seiner eigenen Meinung sowie nach Meinung der ganzen Brahm'schen Schule noch zu wenig den jetzt allverehrten Gesetzen des Naturalismus. Und doch fehlte es Wolzogen nicht an Aufmunterung auch aus dem Kreise der »Freien Bühne«, und da er sich ganz im Banne dieser Männer befand, so gab er selbst ein Programm in der Brahm'schen Zeitschrift über »Humor und Naturalismus«. Darin führte er aus, daß diese beiden Kunstprinzipien sich vereinigen müßten. Wie köstlich naiv selbst reichbegabte Schriftsteller werden können, wenn sie – noch dazu geblendet durch die Scheuklappen eines Modedogmas – zu theoretisieren anfangen, das beweisen aus jenem Programmaufsatz Wolzogens die Worte: »Wir sehen gegenwärtig zwei Wege realistischer Bühnenkunst vor uns. Der eine führt von Iffland über l'Arronge zu Holz und Schlaf, der andere von Goethes Götz und Egmont über den neuesten Wildenbruch (also wohl die Haubenlerche!) und Sudermann in eine verheißungsvolle Zukunft.«

Wenn dem eingeschworenen Naturalisten schon der Mode entsprechend verboten war, den Namen Schillers zu nennen, so hätte er wenigstens Iffland und l'Arronge, die kunstfremden Bühnenhandwerker, nicht an die Stelle setzen sollen, wo Lessing und Freytag zu stehen ein wohl verbürgtes Recht haben. Denn der Weg des 257 deutschen Lustspiels geht von »Minna von Barnhelm« über die »Journalisten« in die Gegenwart hinein. Und nicht weniger unbewiesen prahlt der Schlußsatz: »Der reifste und freieste Mensch, zugleich im Ibsen'schen Sinne der stärkste, das ist aber der Humorist!« Dann wäre also sonderbarerweise im Ibsen'schen Sinne Ibsen selbst kein reifer, starker, freier Mensch! Denn Ibsen ist wohl doch nicht etwa Humorist? – Vor allem aber sah sich Wolzogen nun nach einem naturalistischen Lustspielstoff um und fand ihn allerdings mit glücklichem Griff in dem, was man damals – in üblicher Nachahmung eines französischen Wortes – die Berliner Bohême nannte. Murgers im Jahre 1851 erschienene »Scènes de la vie de Bohême« (Bilder aus dem Zigeunerleben) war um die Zeit des Beginnes der Litteratur-Revolution deutsch erschienen (Leipzig 1882). Natürlich handelten sie nicht von wirklichen Zigeunern, sondern von dem haushaltfremden, jugendlich wilden Treiben der Pariser Jugend. Dieses Buch fand in Deutschland ein prächtiges Gegenstück in einem »Berliner Zigeunerleben«. Dies hatte aber nicht einen Dichter, sondern einen wahrheitsgetreuen Sittenschilderer zum Verfasser. Aber nichts kann das vollständige Ineinanderfluten von prosaischer Dichtung und kunstvoll schildernder Abhandlung deutlicher darthun als der Vergleich dieser Fischer'schen Schilderungen mit der damaligen sozialen Novellistik.

Hans R. Fischer (geb. am 15. April 1863 in Jauer) hatte sich aus einer Jugend voll Kampf und Not und ärmlichen Verhältnissen mit staunenswerter Thatkraft emporgearbeitet, war schließlich nach Berlin gekommen und kannte das Elend der Armen und Unglücklichen aus eigenster Anschauung und Beobachtung. Darum lag so etwas außerordentlich Packendes in den Schilderungen, die er hie und da erscheinen ließ und als 24jähriger Jüngling zu einem Bändchen sammelte (Berlin 1887) unter dem Titel »Unter dem Armen und Elenden« Das Buch erregte in ernsten Kreisen großes Aufsehen, ebenso wie das drei Jahre später folgende Büchlein »Was Berlin verschlingt« (Berlin 1890). Hier las man wahrheitsgetreue und sachliche Beschreibungen der Asyle für Obdachlose, der Armenhäuser, der Siechenhäuser, der Arbeitshäuser, der Gefängnisse, der Hospitale, der Leihhäuser, 258 der Singspielhallen und endlich des Leichenschauhauses. Kurz – dieses Mal nicht in Form einer romanhaften Erzählung, sondern in einfachem Ton des Beobachters der Thatsachen lernte man hier alle Oertlichkeiten kennen, wo die versinkenden Existenzen ihre letzten Vergnügungen, ihre armselige Nahrung, ihre Strafe, ihre vorübergehende Genesung oder endlich ihren Tod finden. Und mit einer so schlichten Eindringlichkeit, so warmherzigen Sachlichkeit weiß Fischer alles anschaulich zu machen, daß kein Geringerer als der Berliner Nationalökonom Professor Schmoller in seinem »Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft« seine »lebensvollen und tief empfundenen Schilderungen« rühmte. Dabei war es ganz natürlich, daß in diesen Schilderungen auch wohlbeobachtete Charakterköpfe und Typen auftauchten; und da die naturalistische Novelle oder Skizze vielfach nichts andres war, als die photographische Schilderung eines Straßen- oder Wohnungsbildes, so liest sich manche der leichteren Beschreibungen wie eine novellistische Skizze aus jener Zeit.

In seinem »Berliner Zigeunerleben« (Berlin 1890) ergänzte Fischer eigentlich nur seine vorangegangenen Bände. Wenn er darin eine Tafelrunde junger Schriftsteller und Künstler schildert, so hatte er dazu die Typen aus »jüngsten« Kreisen genommen. So gab es damals freie Zusammenkünfte, die ich auch noch ab und zu besuchte, und die den selbstironischen Namen »Genieklub« führten.

Aus diesem »Milieu« – dies Wort kam auch damals auf – nahm auch Wolzogen den Stoff zu seinem neuen Bühnenwerk, natürlich ganz unabhängig von Fischer, der als Redakteur des »Mainzer Anzeigers« nach Mainz ging. Wolzogen aber suchte den Stoff des Zigeunerlebens für die Bühne zu gewinnen, und schon 1891 erschien in der Zeitschrift Freie Bühne sein »Lumpengesindel«, welches er, weil er Ernstes und Heiteres darin mischen wollte, als »Tragikomödie« bezeichnete (Buchausgabe Berlin 1892). Im Vordergrunde stehen zwei Litteratenbrüder: Friedrich und Wilhelm Kern, von denen der ältere verheiratet ist, eigentlich aber mit seinem Bruder ein innigeres Zusammenleben führt als mit seiner Else. Man würde irren, wenn man glauben wollte, daß Wolzogen hier an die alte Geschichte von den beiden gelehrten Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm gedacht habe, die ja schon einmal den Stoff haben hergeben müssen, zu dem altbekannten, leicht geschürzten Einakterschwank »Einer muß heiraten!« Nein, wer das Modell zu diesen Brüdern gewesen ist, kann jeder leicht erraten, der den Gang meiner Darstellung der litterarischen Revolution bis zu diesem Punkt verfolgt hat. Nur darf man nicht vergessen, daß die Modelle von ihren Künstlern frei benutzt werden. Die Geschichte fängt gleich damit an, daß Friedrich seiner Else Vorwürfe macht, sie störe durch ihr Gespräch seinen Bruder Wilhelm bei der Arbeit. Jedoch so zärtlich sich die beiden Brüder auch lieben, so können sie um einer geringen Kleinigkeit willen in Zank geraten, und so schlagen sie sich mit zwei Büchern auf die Köpfe, wie gerade ein reicher Kommerzienrat eintritt, der dem Friedrich Kern bei einer neu zu gründenden Zeitung eine Redakteurstellung mit 6000 Mark Gehalt anbieten will. Da jedoch die Bedingung dabei ist, daß der talentlose Sohn des Kommerzienrats Chefredakteur werden, Friedrich Kern dabei aber seine stark 259 sozialistischen Ansichten verleugnen soll, so werfen beide Brüder nach anfänglicher Liebenswürdigkeit zu guterletzt den Kommerzienrat vor die Thür, und Friedrichs soeben eintretender Schwiegervater, ein Berliner Schutzmann, hilft wacker dabei. Aber der brave Polizeimann schimpft sich darob gleich nachher selbst ein »altes Duseltier«, sobald er den Zweck des kommerzienrätlichen Besuches erfährt. Daß sein Schwiegersohn nicht von seinen oppositionellen Ansichten lassen will, erscheint ihm natürlich nur als kindischer Trotz. Bald aber giebt's neue Vergnüglichkeit in der Gesellschaft, wie ein österreichischer Maler, Franz von Plattner, hereingeschneit kommt, der auf eine wahrscheinliche große Einnahme hin einen sehr guten Pump angelegt hat und nun schleunigst nach Berlin gereist ist, um seinen Freunden sein Glück zu erzählen. In freudiger Begeisterung beschließt man, ein Mahl zu rüsten. Alle stürmen davon, um Punsch, Bücklinge und sonstige Genüsse bescheidener Art zu besorgen, und im Anfang des zweiten Aktes kommen sie damit zurück. Verschiedene andere Gäste haben sich dazu angefunden. Ein gewisser Dippel, ein ganz gefährlicher Strolch allem Anschein nach, der seinen kaffeebraunen Ueberzieher nicht ablegt, weil er keinen Rock darunter hat, taucht plötzlich als alter Jugendfreund auf und wird sogleich eingeladen. Der ewig deklamierende Schauspieler Faßmann stellt sich ebenso unverhofft ein. Da Wilhelm Kerns »Verhältnis«, die kleine Mieze Pickenbach, gerade vor der Hausthür sich zeigt, so wird sie auch herausgerufen, und uneingeladen wie immer erscheint natürlich auch Mutter Schwumbe, die langjährige Wirtin der Brüder aus Friedrichs Junggesellenzeit. Da ihr die Bedienung übertragen wird, bindet sie ihrer Gewohnheit gemäß ihren falschen Zopf ab und schickt sich an, die Stube naß aufzuwischen. Und so beginnt in wildem Durcheinander das Gastmahl des »Lumpengesindels«!

(Der Wachtmeister tritt mit der Punschbowle hinten herein.)

Wachtmeister. Na, na, halb so wild, junger Mann!

Dippel (weicht erschrocken vor ihm zurück). Donnerwetter!

Schwumbe (indem sie ihn mit dem Schrubber von hinten gegen die Hacken stößt). Man bloß nich ängstlich, Herr Kunibold! Der Herr gehört zu de Familie, 't is der Schwiegervater. Wie Se sehn, een höeret Polizeiorjan.

Dippel (verbeugt sich). Mein Name ist Dippel, Nationalökonom.

Wachtmeister (der ihn argwöhnisch gemustert hat, kurz und laut). Polke.

Dippel. Sehr angenehm, Ihre werte Bekanntschaft zu machen! (Wendet sich zu Frau Schwumbe und flüstert dieser eine Frage ins Ohr).

Wachtmeister (leise zu Friedrich). Habt ihr denn den Kerl auch nach seine Papiere jefragt? So en kaffeebraunen Ueberzieher suchen wir eben wieder. (Sie sprechen leise weiter, indem sie den Tisch decken.)

Schwumbe. Na natierlich, son beriemter Mann wie unser Herr Doktor! Erst heite is wieder 'n Kommerzienrat in Jeschäften bei'n jewesen.

Dippel (eifrig). Nein faktisch? Ach, sagen Sie doch . . .

Schwumbe. Ach wat, halten Se mir nich uf! (Sie stößt ihn beim Ausholen mit dem Schrubber mit dem Stiel desselben vor den Bauch.)

Dippel. Au! Das is ja die reine Mördergrube hier! (Weicht bis zur Thür zurück und schnüffelt an der Bowle, die dort während des Deckens auf einen Stuhl gestellt wurde); Ah, das duftet!

Franz. Sö – verbrennen S' sich d' Nasen net, Herr Dipfel! 260

Schwumbe (stößt mit dem Schrubber an die Stiefel des Wachtmeisters). Entschuldgen Sie jietigst, Herr Wachmeester, ick will bloß noch mal unnern Disch fahren.

Wachtmeister. Na, na, na, werden Se nich anstößig! Ubi bene, ibi patria! Diese Beene gehören dem Vaterlande!

Franz, Friedrich, Dippel (schlagen eine laute Lache auf und rufen); Au, weh mir! Hilfe! (u. dgl.).

Schwumbe (richtet sich drohend auf). Wenn Ihnen de Reenlichkeet nich simpatisch is, Herr Wachmeester, so dut es mir ufrichtig leed. Aber uzen laß ick mir dadrum noch lange nich, och nich von de Pollezei! Ick bin 'ne anständige Wittfrau und 'heeße Schwumbe. Wo ick wohnen dhu, det werden Se am Ende woll noch wissen, Herr Wachmeester. (Rafft Eimer und Schrubber auf und geht nach der Hinterthür.) So, nu bin ick fert'ch! (Dreht sich in der Thür nochmals um und droht dem Wachtmeister mit dem Schrubber); Und mit Sie ooch, Herr Wachmeester! (Schlägt die Thür zu. Ab.)

Else hat sich gleich anfangs zurückgezogen, da sie in dem Maler Plattner eine verhängnisvolle Jugendbekanntschaft wiedererkennt. Wie sie endlich den Mut hat, wieder herein zu kommen, empört sie sich von neuem über den Anblick der Mieze Pickenbach. Auch Frau Schwumbe, die wiederkommt, um ihren vergessenen Zopf zu holen, ist ihr sehr verhaßt; wie diese aber sich zu Andeutungen über Elses Vorleben hinreißen läßt, wird sie zur Thür hinaus befördert. Das giebt Else Gelegenheit, sich mit Plattner auszusprechen, und der Zuschauer weiß nun genau, daß sie diesem Manne einst in jugendlicher Unbesonnenheit ihre Ehre preisgegeben hat. Friedrich Kern aber weiß dies nicht. Ahnungslos tritt er wieder ein mit den übrigen Gästen. Die Stimmung des Abends ist nun doch einmal verdorben, und so beschließt man, das Mahl zu enden. Da die Gäste aber so leicht nicht loszuwerden sind, so lädt der gutmütige Friedrich sie alle ein, die Nacht in seiner Wohnung zu schlafen. So werden Betten und Sophas mit »Lumpengesindel« gefüllt, bis schließlich für die Frau des Hauses kein vernünftiger Platz übrig bleibt. Betrübt geht daher Else mit ihrem Vater, »dem Wachtmeister«, davon. Am nächsten Morgen erwacht sie krank in dessen Hause; Plattner erscheint wieder, und Friedrich erfährt dort alles von ihm. Sein anfängliches Toben aber weiß Wilhelm zu beruhigen und schließlich endet alles damit, daß Friedrich seiner Frau ihr Vorleben verzeiht, während Else ihrem Manne die rücksichtslose Behandlung vergiebt. Wilhelm aber, der nicht länger der Störenfried in der Ehe des Bruders sein will, beschließt, als Redakteur in die Provinz zu gehen.

Natürlich erscheint dieser Schluß höchst unwahrscheinlich. Wir wissen ja doch, daß Friedrich seine Frau sehr wohl entbehren könnte, seinen Bruder aber nicht eine Stunde missen mag. Und so kann man zwischen den Zeilen einen anderen Schluß herauslesen. Da Else betrübt meint, es würde wohl schon zu spät sein, und so sehnsüchtig nach Wiederherstellung ihrer Gesundheit verlangt, so darf man wohl annehmen, daß sie bald sterben wird und die Brüder wieder allein zusammen hausen werden. Aber das spricht der Dichter nicht deutlich aus. Also auch Herr von Wolzogen, der überzeugte Naturalist, hat hier am Schluß – seinem Publikum zu lieb – ein wenig Schönfärberei getrieben. Mit einer Dissonanz ein Stück zu schließen, wie etwa Ibsen es in seiner »Nora« gethan – dazu fehlte ihm doch der Mut.

261 Das Stück wurde mehrfach stark umgearbeitet und mehrfach aufgeführt – zuerst im »Wallner-Theater« in Berlin. Aber Fuß fassen konnte es nie auf der Bühne, obwohl die Charaktere zweifellos gut aufgefaßte und klar erschaute Typen sind. Das Ausbleiben des Bühnenerfolges aber liegt wohl an zwei Grundfehlern des Stückes. Was Wolzogen in seinem Programmaufsatz mit Recht dem Drama von Holz-Schlaf zum Vorwurf macht, das muß man auch an seinem Stücke aussetzen: Die Zustandsschilderung hemmt viel zu sehr das Fortschreiten der dürftigen Handlung. Zweitens aber wirkt es störend, daß die Vorgeschichte der Else als Beiwerk durch die lustige Handlung sich durchschlingt. Wolzogen nennt zwar diejenigen Naturalisten, die solche Dinge tragisch nehmen, »Moralfatzke« – aber er selbst nimmt die Sache bei Else außerordentlich schwer, noch ganz in echt germanischer Auffassung. Dadurch wird natürlich die heitere Stimmung zerrissen, und die Nebeneinanderstellung wirkt in höchstem Grade unangenehm. Soll dergleichen in ein Lustspiel hinein verflochten werden, dann bleibt nichts übrig, als daß sich der Verfasser auf den leichtherzigen Standpunkt der französischen Dramatiker stellt. Und in der That trat auch jetzt schon langsam der Komödiendichter hervor, der solch einen Umschwung in der lustigen Gattung herbeiführen wollte:

Otto Erich Hartleben war's, der uns schon als Odendichter unter den Autoren der revolutionären Anthologie des Jahres 1884 und als kritischer Mitarbeiter der »Freien Bühne« begegnet ist; er war seitdem einige Male auf dem litterarischen Markte erschienen, aber weder mit seinen »Zwei verschiedenen Geschichten« (Leipzig 1887, später unter 262 dem Namen »Die Serényi«, Leipzig 1891) noch mit seinem »Studententagebuch« (2. Aufl., Zürich 1888) hatte er größeres Aufsehen zu erregen vermocht. Soviel aber ließ sich schon erkennen, daß er die Satire zu seinem eigentlichen Gebiet gewählt hatte. So wurde er neben dem Münchener Gumppenberg der zweite Satiriker der ganzen jungen Schar.

Beide wandten sich damals gegen Ibsen, der unlängst mit seinem Schauspiel»Die Frau vom Meere« sich seiner neuesten mystischen Periode zugewandt hatte. Dies Werk, das zuerst von allen Schöpfungen des Norwegers im Berliner Kgl. Schauspielhaus aufgeführt wurde, ward gelegentlich eines Sommerfestes der Münchner Modernen von Gumppenberg als »Die Frau von der Isar« parodiert, während Hartleben schon die früheren mystischen Neigungen Ibsens in seiner Komödie »Der Frosch« verspottete.

Das geschah, als der Ibsensturm auf die Höhe getrieben. Aber dieser »Frosch« bewies gleichzeitig, daß es dem jungen Satiriker an einem eigenen, festen Standpunkte fehlte – er tummelte seinen satirischen Pegasus mehr aus Lust am Spott, als weil es ihn gelüstet hätte, aus innerer Ueberzeugung eine Lanze einzulegen gegen den großen Geist aus Nordland. Aber freilich, Ibsen und Hartleben sind so weltenweit verschiedene Menschen, daß der junge Spötter den vergrämten alten Idealisten wohl gar nicht verstehen konnte.

Wie Hartleben zu seinem Spötterstandpunkt gekommen ist, darüber hat sein Freund und Biograph Cäsar Flaischlen eine Vermutung ausgesprochen, die psychologisch interessant ist:

»Ob dies in allem auch auf Hartleben zutrifft, weiß ich nicht. Aber ich vermag mir das Ironische und Satirische seiner ganzen Dichtung nur aus solchen Anfängen und Momenten heraus zu erklären. Er eignete es sich zunächst als eine Art Waffe gegen die Ueberlegenheit der Außenwelt an, zum Schutz seines Innenlebens, das um so mehr Kränkungen und Täuschungen ausgesetzt sein mochte, je feingestimmter es war und je lebhafter es darnach drängte, sich zu äußern. Je schärfer sich dann aber sein Verstand entwickelte, um so schärfer empfand er die Trivialität der Wirklichkeit als Ironie auf das, was ihm die Seele bewegte, und um so mehr suchte er sich dagegen zu rüsten, bis er sich mit dieser Waffe gleichsam verwuchs. Es ist der alte, aber ewig neue große Kampf der Jugend um die Illusionen und Ideale, die man sich vom Leben macht und die man erfüllt sehen möchte. Der eine kämpft ihn tragisch, der andere ironisch; der eine auf diesem, der andere auf jenem Gebiet; der eine früher, der andere später. Wer stark ist, siegt; wer schwach ist, fällt!«

Was Ibsen noch im höchsten Greisenalter, ja was er zur Zeit des Einsturzes seiner Ideale nie gewesen ist, das ist Hartleben schon mit sechsundzwanzig Jahren –: gleichgültig! Von ihm gilt das, was in Ibsens »Rosmersholm« Brendel mit ironischer Anerkennung vom Redakteur Mortensgard sagt: »Er ist kapabel, das Leben ohne Ideale zu leben.« Er spottet nicht, wie Aristophanes und Molière es thaten: die Thorheiten und Laster der Menschen an den Pranger zu stellen und zu Tode zu lachen – die Streber, die Geizigen, die Scheinheiligen aus der Welt zu höhnen! – Nein, Hartleben lehnt sich gemütlich in seinen Stuhl zurück, und das gutmütig blasierte Lächeln auf seinem breiten Gesicht sagt gewissermaßen: »Kinder, regt euch doch nicht auf! Macht den Ulk mit und laßt 263 alles Streben nach einem höheren Standpunkt! –« Und so wurzelt denn sein Humor auch in dem, was wir nur mit einem Fremdwort bezeichnen können: im »Mokanten«. Ja, er mokiert sich über alles, was er sieht! Das ist der Anfang seiner satirischen Laufbahn.

Daher auch die Kleinheit seiner ersten Stoffe. In einem kleinen Skizzenbändchen, das allerdings erst 1895 erschienen ist, plaudert er aus seiner Referendarzeit. Wir sehen ihn da ordentlich im kleinen Städtchen Stolberg i/Harz am Stammtisch sitzen und gemeinsam mit dem Oberstabsarzt und dem Amtsanwalt sich mokieren über die kleinstädtischen Leute, von dem Grafen Stolberg angefangen bis hinab zu den Backfischen des Städtchens. Ob diese Humoresken nur Ausschmückungen von Selbsterlebtem sind, oder ob er sie erfunden hat – gleichviel, ihre scherzhaften Motive bestehen immer darin, daß jemand zum Besten gehalten wird. Die anderen »dumm zu machen« ist der Grundzug dieses Witzes. Da wird ein schüchterner naiver Pastor – nach ihm heißt die Sammlung »Vom gastfreien Pastor« – von den drei Neckebolden überredet, ein paar durchreisende zweideutige Damen ins Haus seiner Mutter einzuladen, und wie diese später seine Einladung erwidern, reist er zu ihnen nach Magdeburg und merkt gar nicht, daß er dort in einem verrufenen Hause wohnt; ja er ruft auch einen auf der Straße vorübergehenden Amtsbruder an, kann dessen Entsetzen gar nicht verstehen und glaubt, man habe es ihm übel genommen, daß er sich beim Rauchen aus dem Fenster gelehnt habe. – Noch dümmer als er ist ein kleiner Backfisch, der sich vom Referendar einreden läßt, die Bäume an der Landstraße seien darum beschnitten, weil sie eigentlich jüdischer Abkunft seien, und so fort. Dies beständige »in den April schicken« ist also der Grundzug dieser Humoresken. Doch macht der Verfasser es sich sehr leicht, weil er die Menschen geradezu »verboten« dumm schildert. Darum fehlt auch trotz aller Behaglichkeit des Vortrags die wirkliche Naturwahrheit – am meisten in der Geschichte eines jungen Kaufmanns, dem die Berliner Jüngstdeutschen so lange einreden, daß er ein Dichter sei, bis er an Größenwahn erkrankt und nach einem Mordversuch im Irrenhause endet. – Nun, dies genug der Proben Hartleben'scher Humoresken! Wie gesagt, brachte die »Freie Bühne« 1891 seine Komödie »Angèle« zur Aufführung. Und von nun an versuchte Hartleben sich als Bühnensatiriker. Sehen wir zu, mit welchem Erfolge! –

»Verachte das Weib!« – so steht auf dem Titel der Komödie Angèle zu lesen. So dürfen wir schon von vornherein keine Verherrlichung eines Frauentypus erwarten. Und das läge ja auch nicht im Geiste einer Komödie. Dieser Ausdruck, der hier zum ersten Male nach langem Winterschlaf wieder erweckt wurde, bezeichnet ja seit alter Zeit etwas anderes als das, was wir in der modernen Litteratur ein Lustspiel zu nennen gewöhnt sind. Den Meistern der Komödie – Aristophanes und Molière – hat man stets eine satirische Absicht zuschreiben müssen. Wo liegt diese nun in Hartlebens Komödie? – Folgendes ist ihr Inhalt: Ein Vater und sein Sohn Viktor lieben beide dasselbe Mädchen: Angèle. Viktor hat die älteren Rechte, aber er kann ihr nur 250 Mark im 264 Monat geben, während der Vater ihr erscheint als ein Greis, »dessen Haupt voll Silber und dessen Hände voller Gold« sind. Wie die beiden sich um das Weib streiten, erscheint gar noch ein dritter auf dem Schauplatz: ein junger Kandidat der Theologie, Franz Kerner genannt. Er hat zufällig Angèles Bekanntschaft gemacht, hält sie aber für Viktors rechtliche Braut und bittet diesen, zu seinen Gunsten auf ihre Hand zu verzichten. Beide aber erfahren, daß Angèle gerade im Begriff ist, aus schnöder Berechnung die Frau des reichen Vaters zu werden, und alle drei wissen nun gleichzeitig, daß sie allen Grund haben, das Weib zu verachten. Aber sie thun es nur mit lächelnder Miene, mit demselben blasierten Lächeln, mit dem der Autor herabblickt auf die drei Vertreter des männlichen Geschlechts: den jungen Lebemann und den gutgläubigen Idealisten, von denen jeder auf seine Art genasführt wird von dem Weibe, das nur an sein eigenes Glück denkt und dieses Glück nur in Aeußerlichkeiten sucht. Hartlebens Satire ist eben müde, wie die Tragik Hauptmanns müde ist.

Und auch dieser wandte sich im Jahre 1892 der heiteren Dichtung zu mit seiner Komödie Kollege Crampton. Auch hier wieder ein Held, der kein Held ist! – Der Maler Professor Crampton, der eine adelige, aus vornehmer, aber geistig armer Familie stammende Frau geheiratet hat, ist ebenfalls an dieser seiner Frau zu Grunde gegangen. Zwar ist er nicht wie Vockerath ins Wasser gesprungen, aber Wein und Bier haben ihn verlockt. Freilich ist er ein herzlich schwacher Riese, der als anerkannter und schaffenskräftiger Künstler sich dem Trunke ergiebt, weil seine Frau ihn nicht versteht! Er ist also in der That auch nur einer von dem Geschlecht der unverstandenen Ehemänner! Aber wie hat sich der Standpunkt des Autors diesen Weibmännern gegenüber verändert! Wirkten sie früher in den Tragödien stellenweise fast unfreiwillig komisch, so ist Crampton jetzt in das Licht der Komödie gerückt, und hier, ja hier können solche Männer tragisch wirken. Denn die wahre Komödie ist nur das Gegenbild der wahren Tragödie. Sie belächelt, was jene beweint; sie spottet zu Tode, was jene erdolcht. Für den Dolch der Tragödie nun scheinen die Männer der Schwachheit zu geringfügig, unter dem Lächeln des Komikers aber wirken sie rührend. Und darum ist er eine so prächtig herzbewegende Figur geworden, der gute alte Crampton. Im ersten Akt, wo er seine Trinkereigenschaften langsam entfaltet, wo er sich den jungen Akademikern gegenüber aufspielt und sich als den Günstling des Herzogs hinstellt, wirkt er noch wenig sympathisch. Er scheint ein gewöhnlicher Trinkrenommist zu sein. Aber schon das humane Wohlwollen, mit dem er den jungen Strähler tröstet, der von der Akademie seiner Jugendstreiche wegen ausgeschlossen ist, zeigt, daß etwas Besseres in Cramptons Seele schlummert. Wie er, der Herr Professor, dann im nächsten Akt vom Herzog ignoriert und selbst entlassen wird aus seiner Stellung; wie da sein Groll losbricht, und im Augenblick der tiefsten Schande sein lang unterdrückter Stolz auflebt, gewinnt er schnell die Herzen. Und um so klarer ist das Gefühl des Zuschauers für ihn, weil diesmal der Dichter selbst keinen Augenblick schwankt in seiner Stellung gegenüber seinem Helden. In der Figur der liebenswürdig mitleidigen Tochter, die er dem Vater zur Seite gestellt 265 hat, zeigt er, welches Gefühl er für seinen Crampton verlangt: nicht Bewunderung, nicht Entschuldigung, nur Mitleid! Und diese Eigenschaft des menschlichen Herzens ist ja besonders für die Schwächlinge vorhanden. Hauptmann stellt diesmal nämlich eine kerngesunde Familie dem kranken Helden gegenüber, ähnlich wie die Buchners mit den Scholzens kontrastierten. Aber diesmal weht nicht die Luft aus der öden Krankenhalle durch die ganze Dichtung, sondern die Luft der Gesundheit ist es, die in Cramptons einsame Zelle siegreich eindringt. Familie Strähler ist es, die diesmal das Rettungswerk vollführt. Derselbe Jüngling, der um seiner jugendlichen Thorheiten willen aus der Akademie entfernt wurde, hat einen Bruder, reich wie er selbst, seinen Vormund. Es ist ein prächtiger Mensch, der erste und bisher einzige vollsaftige Mann, den Hauptmann gezeichnet hat. Seine breite Gutmütigkeit, sein jovialer Spott, seine Welterfahrung und Menschenkenntnis haben sich bei ihm verbunden mit einem wundervollen humanen Zug. Er läßt seinen Bruder austoben, er will ihn in der freien Entfaltung seiner Kräfte nicht schulmeisterlich hindern. Er läßt sein Talent sich frei entwickeln, ohne sich jemals durch Künstlergrillen oder jeweilige Künstlereitelkeit des Jüngeren imponieren zu lassen. Mit seiner Schwester herrscht er in seinem Heim, das dem jüngeren Bruder zum Elternhaus geworden ist. Und wie der Jüngere die Hilfe des Aelteren anruft, um den brotlos gewordenen Crampton zu retten, da hat er äußerlich wieder seinen hänselnden Spott, dem aber der verletzende Stachel fehlt, innerlich aber ist sein gutes Herz sogleich bereit. Freilich glaubt er nicht an eine Rettung des schon allzutief gesunkenen Mannes, aber er erfreut sich doch an der Naivität des Brüderleins, das die Welt noch mit so rosigen Augen, mit so unverwüstlichem Optimismus ansieht. Und herzerfrischend kommt dieser Optimismus des jüngeren Strähler zum Ausdruck. Wie er den Lehrer liebt, trotz seiner unverbesserlichen Schwäche! Wie er zu ihm aufblickt! Wie er des Lehrers Tochter liebt, seine junge Braut! Wie naiv er in die Ehe hineinspringt, er der Neunzehnjährige! Wie er das Atelier des kranken Künstlers dicht neben dem seinigen aufschlagen läßt, nur um diesem dadurch die Arbeitslust wieder zu erwecken! Das sind Figuren und Szenen, die dem Hörer das Herz aufgehen lassen. Hier quillt es von Hoffnung, von Frische, von Jugendlichkeit! Natürlich wurden gerade diese Figuren um ihrer Gesundheit, um ihrer roten Wangen und heißen Herzen willen, von den eigentlichen, eingeschworenen Hauptmannpropheten verworfen! Das wären nur unwirkliche Schattenbilder, denen die Eigenart und Lebenskraft fehlte. Als ob nur das Kranke eigenartig sein könnte! Als ob sich Gestaltungskraft nur bei der Auspinselung von Originalen zeigte! Als ob es nicht eine viel echtere und in der That auch viel schwerere künstlerische Aufgabe wäre, regelrecht gestaltete Menschen so interessant zu bilden, wie solche, bei denen eine rote Nase oder ein konfuses Wesen schon von selbst die Aufmerksamkeit fesselt. Als ob die ganze Kunst das Erbe des Karikaturenzeichners werden sollte! Nein, als Hauptmann diese Welt der Frische in seine Cramptonkomödie hineinwehen ließ, da ward das Wort seiner Anna Mahr zur Wahrheit. Das war ein Hauch aus dem zwanzigsten Jahrhundert, denn, will's Gott, soll uns das neue Säkulum wieder ganze, starke, 266 frische Menschen bringen! Symbolisch überwindet in diesem Stück dieses zwanzigste Jahrhundert mit seiner Jugendlichkeit die »Fin de siècle«-Menschen des sterbenden neunzehnten! Denn dies Fin de siècle-tum wird so recht verkörpert durch Kollegen Crampton selber! Er ist der Mann mit dem heißen Sehnen im Herzen und dem schlaffen Willen! Was hat ihn in seinen Zustand gebracht? Wirklich bloß seine Frau? – Bedauernswerter Crampton! Wieviel Lot eigene Kraft hast du denn in den Kampf deiner Ehe mitgebracht? Oder war es die ihm innewohnende Trägheit? Ist er eine ältere Entwickelungsstufe des Kollegen Braun aus den »Einsamen Menschen«? Gleichviel, er zeigt in der Zeit seines Freilebens, daß allerdings etwas in ihm war. Er sitzt in einem gräßlichen Kämmerchen dicht neben dem Gastzimmer des Bierwirtes, der sein Hauptgläubiger ist. Beständig lärmt nebenan der widerliche Spektakel der Kneipe, beständig fließt nebenan der Bierhahn, und eine junge Kellnerin, die sich für den alten Sonderling interessiert, bringt ihm so oft frischen Trunk, als er es begehrt. Dabei fühlt er sich groß und frei, er, der doch in Wahrheit von Almosen lebt! denn sein Bier bezahlt er ja nicht, und für das Kämmerlein erhofft der Wirt Entschädigung von des Professors reicher, adeliger Schwägerschaft. Crampton aber, im ewigen Rausch, dünkt sich ein König. Sein Irrtum ist eine krasse Fortsetzung des Irrtums des Johannes, der sich als Verteidiger seiner Unabhängigkeit und seines Selbst fühlte, als er in tiefster, freiwilliger Abhängigkeit von Anna stand. Crampton schilt nach seiner Weise auf die jungen Akademiker, die zu ihm kommen zum Kartenspiel, er sieht in ihnen Ignoranten, weil sie Swift und Smollet, Thackeray und Dickens oder E. T. A. Hoffmann nicht kennen. Weil sie den Boccaccio unmoralisch nennen, spricht er ihnen den Sinn für Grazie ab: »Ihr liebt wie Gorillas!« Der nüchterne Realismus der jungen Künstlerschaft, die nur in ihrer Einseitigkeit aufgeht, ist ihm zuwider, während sein Bildungsstreben unersättlich ist. »Ich brauche nicht essen, aber lesen muß ich« . . . . Er lacht über die Akademie, über die »Drillanstalt!« Er singt in seiner Einsamkeit zur Mandoline die »Santa Lucia«. Den Antrag der eindringenden Stubenmaler, daß er in ihrem Auftrage malen soll, nimmt er mit stolzer Reserviertheit entgegen, aber das Freibier, zu dem sie ihn einladen, nimmt er gern an. Als dann der kleine gute Strähler erscheint und ihn entführen will, geht er erst mit, wie ihm eingeredet wird, er solle dessen Schwägerin Agnes malen; dann giebt er dem Stubenmalermeister auch gleich einen vornehmen Fußtritt. Und an dem Glanz des neuen Ateliers, das Max Strähler für ihn eingerichtet hat, mäkelt er erst gehörig herum. Erst wie man ihm einredet, er solle es teuer bezahlen, ist er einverstanden. Er weiß ja, daß er keinen Heller erlegen wird, aber er will sich das Bewußtsein der Unabhängigkeit vorlügen. Und wie Max Strähler ihm gar seine Gertrud noch wegfischt und Crampton weiß, daß er mit dem jungen Paare zusammen fortleben darf und soll, da verbirgt er seine Rührung, die er um keinen Preis zeigen will, hinter einem immer wiederholten »So'n dummer Kerl.« –

So war Gerhart Hauptmann fast gleichzeitig auf den beiden Gebieten des Ernstes und des Humors der unbestritten Erste geworden. Zur Zeit, als das 267 soziale Drama mehr und mehr auf die Stufe des Dirnenschauspiels gesunken war, hatte er sich zu seinen »Webern« aufgeschwungen; und während die Lustigkeit überall in Frivolität überging, gestaltete er gemütswarm seinen »Kollegen Crampton«. Beide Werke zeugten freilich von der Weichheit und inneren Schwäche ihres Verfassers, aber gleichzeitig doch auch von einem wirklich tiefen Erfassen des Lebens in Ernst und Scherz. Ja, der »Kollege Crampton« wurde der erste wirkliche Bühnenerfolg, den außer Sudermann ein Jüngstdeutscher erfochten hatte. Bei der Aufführung der Komödie im »Deutschen Theater« kam es nicht nur zu unbestrittenem, sondern zu stürmischem Beifall. Freilich galt dieser in erster Linie dem großen Komiker Engels, der eine herzbezwingende Gestalt aus dem alten Professor schuf. Als der Vorhang zum letzten Mal gefallen war und Hauptmann sich oft genug der Menge gezeigt hatte, verlangte diese immer stürmischer nach Engels. Da aber das Hausgesetz des »Deutschen Theaters« dem Schauspieler das Erscheinen vor dem Publikum verbot, so mußte endlich – ein wohl selten dagewesener Fall – der Dichter im Namen des Darstellers danken. Aber an der Wirkung des Ganzen hatten die Schauspieler Nissen und Steffens, die Darsteller der beiden Brüder Strähler, gleichfalls großen Anteil; denn diesen beiden Brüdern brachte das Publikum ebenso großes Interesse entgegen, wie dem alten Professor. Sah man doch in jenen zweien seit langer Zeit wieder »gute Menschen« mit einer sonnigen Weltanschauung auf der Bühne. – Dies und nicht der Naturalismus hatte hier gesiegt.

 


 


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