Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Bleibtreus Revolutionsbroschüre.

Einen von Blitzen zerrissenen Himmel stellte das Deckelblatt dar. Karl Bleibtreu war der Verfasser. Der Titel hieß: »Revolution in der Litteratur«. Und wer nun voll Staunens über solch eine ihm noch ganz unbekannte Revolution das Schriftchen kaufte, der fand allerdings nur ein paar ganz zwanglos aneinander gereihte Aufsätze verschiedenen Inhalts; aber trotz der Flüchtigkeit und Sprunghaftigkeit des ganzen Aufbaus trat eine neue Richtung hier klar zu Tage.

Stolz nannte sich das erste Kapitel: »Historische Entwicklung«. Auf etwas mehr als vier Seiten gab es in großen Zügen, geistreich oberflächlich durch die deutsche Litteratur von Anbeginn bis zur Gegenwart tänzelnd, den Gedankengang, daß die Entwicklung seit den Tagen der Klassiker mit ihren »kosmopolitischen und antiken Neigungen«, seit den Romantikern und dem »jungen Deutschland« notgedrungen zum Realismus geführt habe. Das sagte nicht viel mehr als Julian Schmidts nun schon so uraltes Programm, nur daß jener nicht so herausfordernd schrieb und nicht solche Ungereimtheiten einmengte, wie: Grillparzer und Hebbel seien nur schwächliche Nachahmer von Kleist und – Grabbe!

Und neben solchen Knallschoten glänzte natürlich die Verherrlichung des ewigen Heiligen aller angehenden Litteraturlöwen, des wirren Reinhold Lenz, der »jammervollsten aller Litteraturleichen«. Wer sich aber durch dergleichen Barockheiten nicht abschrecken ließ, der fand im zweiten Aufsatze: »Die Poesie und der Zeitgeist« eine geistreiche Verteidigung des alten Satzes, daß die sittlich starken Jahrhunderte auch stets für das betreffende Volk die Blütezeit seiner Litteratur bedeutet hätten; und die kleine Abhandlung gipfelt in der Anklage, daß die Dichtung der Gegenwart ganz den Gedankenkreisen der Gegenwart fernstehe.

»Es ist, als wären die furchtbaren sozialen Fragen für die deutschen Dichter gar nicht vorhanden. Und doch ist unsere Zeit eine wild erregte, gefahrdrohende. Es liegt wie ein Schatten über dem ganzen neuen Reich trotz des kurzen, blendenden Sonnenscheins. Das ist nicht Spleen, nicht das ennui der französischen Romantiker, sondern ein mürrischer Mißmut lastet wie ein farbloser Nebelschleier über allem Weben und Streben. . . . Die Aufklärung und der Zweifel, diese beiden ersten Phasen und Symptome der Besserung, sind bei uns schon bis zur Krisis gelangt; jetzt kommt wieder die Begeisterung an die Reihe. Es ist daher die erste und wichtigste 66 Aufgabe der Poesie, sich der großen Zeitfragen zu bemächtigen. Zugleich gilt es, das alte Thema der Liebe nun im modernen Sinne, losgelöst von den Satzungen konventioneller Moral, zu beleuchten.«

Und nun folgt gelassen das große Wort:

»Von diesen hohen Anforderungen aus wird man natürlich fast die ganze bisherige Litteratur verdammen müssen.«

Die nun folgende Uebersicht über die Zeitdichtung ist sprunghaft und dürftig genug ausgefallen, aber unendlich viel zahmer, als die Ankündigung vermuten ließ. Im »historischen Roman« wird ein annehmbares Urteil über Gustav Freytags »Ahnen« vorgetragen, ohne daß aber seine bahnbrechenden sozialen Romane in Betracht gezogen würden, auf denen doch die ganze Strömung des Realismus am letzten Ende mit beruht. Mit Recht wird Alexis gepriesen, obgleich der Ausdruck »genialste deutsche Romandichter« wohl etwas übertrieben ist; Scheffels »Ekkehard« wird bei anderen großen Vorzügen die eigentliche Größe abgesprochen. Steinhausen, der Irmeladichter, und Felix Dahn werden gegen allzu harte Angriffe sogar in Schutz genommen und desgleichen Ebers. Dann aber heißt es:

»Ich habe nun noch zwei Romane zu erwähnen, welche von zwei jungen Dichtern herrühren, ein Epitheton, das man allen obengenannten nur eingeschränkt und verklausuliert erteilen kann, und diese beiden sind Wilhelm Walloth und Karl Bleibtreu, der letztere mit seinem »Nibelungenroman« und mit seinem »Dies irae«.

In dem folgenden Abschnitt über »Erotische Epik« wird über Paul Heyse abgeurteilt mit den Worten:

»In seiner kleinen Welt der kleinen Menschen und kleinen Gefühle! Sinnliche Sentimentalität und sentimentale Sinnlichkeit, weder die hohe ideale Liebe, noch die entfesselte sinnliche Leidenschaft, weder Venus Urania, noch die wahre Venus vulgivaga! Die idealistische wie die realistische Richtung muß die Heyse'sche Manier in gleicher Weise verdammen.«

Auch Storm wird als Kleinkünstler zurückgewiesen, an Keller der Mangel an großen Konflikten und Leidenschaften beklagt. Von Spielhagen heißt es:

»Er ist so der rechte Leibautor der Berliner Fortschrittspartei, der geistvollen Klugredner und Räsonneure, die nebenbei in Devotion vor der konventionellen Philistergesellschaft ersterben.«

Als sein besserer Lehrmeister wird Gutzkow hingestellt.

Nun endlich kommt Bleibtreu zu seinem Hauptkapitel: »Der Realismus«.

»Unter diesem Namen versteht man diejenige Richtung der Kunst, welche allem Wolkenkuckucksheim entsagt und den Boden der Realität bei Widerspiegelung des Lebens möglichst hält.«

Nun – in diesem Sinne hat es vor der Revolutionsbroschüre seit Adams Zeiten schon unzählige Realisten gegeben – auch in Deutschland.

Aber Bleibtreu, der seiner ganzen Anlage nach alles eher ist als ein Realist, und der doch brennend gern ein solcher sein möchte, setzt sich immerwährend mit sich selbst in Widerspruch, und jener klaren Begriffsbestimmung, mit der er das Kapitel begonnen hat, stellt er die vollkommen unklare entgegen:

»Der wirkliche Realist wird die Dinge erst recht sub specie aeterni betrachten, und je wahrer und krasser er die Realität schildert, um so tiefer wird er in die Geheimnisse jener wahren Romantik eindringen, welche trotz alledem in den Erscheinungsformen des Lebens schlummert.«

In diesem höheren Sinne werden dann M. G. Conrad, Kirchbach und 67 einige Unbedeutendere als Realisten wenigstens anerkannt, Wildenbruchs novellistisches Streben einigermaßen gewürdigt, und endlich Fontane, Rudolf Lindau und – mit einem Bleibtreu'schen Anachronismus zu allerletzt – der längst verstorbene Auerbach herbeigeholt – aber vor allem mit voller Wärme das Lob Max Kretzers posaunt. Daß Bleibtreu auch hier wieder sich selber nicht vergißt, ist selbstverständlich. – Ueber das Drama glaubt er sich im nächsten Kapitel kurz fassen zu können. Wilbrandt und Voß völlig verurteilend, legt er für Wildenbruchs »männliche Abart« ein gutes Wort ein, lobt Herrig trotz seiner mangelnden Theaterkraft um seiner großen Gedanken willen, und meint schließlich:

»Meine zahlreichen Arbeiten in diesem Fache mag ich natürlich hier nicht betrachten. Betreffs meines jüngsten Dramas »Schicksal« bemerke ich, daß es den großen historischen Stil und die Eleganz der Salonkomödie in gewissem Sinn zu vereinigen strebt.«

Desto mehr redet er von sich selbst in dem kleinen Abschnitt, der von Lyrik handelt. Er wirft Heinrich Heine vor, daß bei ihm noch der »alte Romantikplunder« zu den »notwendigen Coulissenrequisiten« gehöre; er streift den genialen Liliencron als einen »Vertreter pikanter Gelegenheitslyrik, die einer gewissen Junkerlichkeit nicht entbehre«, und stellt dann seine eigene Lyrik als die eigentlich moderne hin, die landschaftliches Lokalkolorit besitze und deren »Erotik von den elektrischen Laternen der Leipziger Straße, nicht von einem nebulosen Wolkenkuckucksheim bestrahlt« werde. Bei den Anthologisten tadelt er merkwürdigerweise gerade ihre metaphysischen Gedichte, obgleich er bei sich selbst die Symbolik lobt, und trifft gerade das Falsche, wenn er in Arent den bedeutendsten Lyriker, in Holz aber einen Reimklingler sieht. Gerade das Gegenteil trifft zu.

Den Schluß der Broschüre bildet endlich noch eine Abhandlung über den »Deutschen Dichter und den Staat«, in der es beklagt wird, daß der Poet in Deutschland als solcher nicht von Staatswegen geehrt und nicht in würdiger freier Weise unterstützt wird. Dann folgt ein Aufsatz über den »Dichter an sich«, der in schöner, an großen Dichtern erlernter Psychologie das Dichterleben in drei Stadien einteilt. Aus »ehrgeiziger Hoffnung«, die den Anfang macht, soll der wahre Poet zur »hoffnungslosen Weltverachtung« und endlich zur »Selbstbefriedigung durch Weltüberwindung im Schmerz« gelangen. Dieser entsagungsvolle Schluß paßt freilich wenig zu dem ungestümen Bethätigen des persönlichen Rechts und zu dem gehäuften Selbstlob, das die ganze Broschüre durchzieht. Oft möchte man dem Dichter-Revolutionär die Worte zurufen, mit denen er in seinem Erstlingswerk den Gunnlaug Schlangenzunge schildert:

Ho! rief Gunnlaug, trotzig tobend,
wie gewohnt, sich selber lobend.

Aber der Schluß deutet an, daß in Bleibtreu genug Elemente einer starken, tüchtigen Persönlichkeit von Anfang an lagen. Auch er war von jeher ein Ringer mit sich selbst, und gerade ihm, dem unbändig Ehrgeizigen, war es beschieden, daß er mehr und mehr sich zum Verzicht auf äußere Anerkennung gedrängt sehen mußte. Doch damals war er davon noch weit entfernt.

68 Alles in allem machte seine Broschüre einen starken Eindruck, weniger weil das zerfahrene, widerspruchsvolle, flüchtig hingeworfene Buch eine wirkliche Wendung hätte hervorbringen können, als vielmehr darum, weil die größere Menge jetzt zum ersten Male von einer Revolution in der Litteratur hörte und allmählich an eine solche zu glauben anfing. Innerhalb eines Jahres erlebte das Schriftchen drei Auflagen. Man lernte aus ihr die jungen Poeten vielfach überhaupt erst kennen.

Und zu einer gewissen litterarischen Machtstellung gelangte der neueste Führer der litterarischen Revolution um dieselbe Zeit auch noch. Seit Jahrzehnten galt nämlich für eine der maßgebendsten Zeitschriften das von Josef Lehmann begründete »Magazin für die Litteratur des Auslandes«, das sich aber längst auch der heimischen Litteratur angenommen hatte und von dem vielseitigen und geistreichen Eduard Engel zuletzt geleitet worden war. Nun hatte der Verleger Wilhelm Friedrich in Leipzig, der die meisten jungen Schriftsteller um sich versammelt hatte, diese Zeitschrift gekauft, um damit ein Organ für seine Partei zu gewinnen; und von all den jungen Autoren seines immer größer anwachsenden Verlages erschien ihm nun Bleibtreu als der geeignetste Mann, um dies altehrwürdige Fahrzeug, das so lange friedlich vermittelnd von Küste zu Küste gekreuzt hatte, mitten in den Sturm des jüngstdeutschen Teifun hineinzusteuern. – So hatte denn die neueste Generation sich bereits zwei Zeitschriften erobert.

Und nachdem nun die »Revolution« gewissermaßen anerkannt war – wenigstens so weit, daß man über sie als etwas wirklich Vorhandenes öffentlich zu spotten anfing – da sollte sie auch bald in Berlin einen Sammelpunkt gewinnen: Eine Zeitschrift mit ernstem, bedeutungsvollem Leserkreise stellte sich ihr zur Verfügung, und die jungen Schriftsteller sammelten sich in einem Vereine, dessen Name schon ein revolutionäres Programm in einem einzigen Wort bedeutete. Aber das hatte auch wieder seine besondere Vorgeschichte.

 


 


 << zurück weiter >>