Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Zweites Buch.

Die litterarische Revolution wird proklamiert.

Erstes Kapitel.

Die lyrische Freischar in Berlin.

Mit großen Worten begann die Vorrede zu einer Sammlung neuer Gedichte, deren Verfasser sich in Berlin zu einer Gruppe gemeinsamer Kämpfer zusammengeschart hatten:

»Unsere Litteratur ist überreich an Romanen, Epen, Dramen, an sauber gegossener, feingeistiger, eleganter, geistreicher Lyrik, aber sie hat mit wenig Ausnahmen nichts Großes, Hinreißendes, Imposantes, Majestätisches, nichts Göttliches, das doch zugleich die Spuren reinster, intimster Menschlichkeit an sich trüge. Sie hat nichts Titanisches, nichts Geniales. Sie zeigt den Menschen nicht mehr in seiner konfliktgeschwängerten Gegenstellung zur Natur, zum Fatum, zum Ueberirdischen. Alles Philosophisch-Problematische geht ihr ab. Aber auch alles Hartkantig-Soziale. Alles Urewige und doch zugleich Moderne. Unsere Lyrik spielt, tändelt.«

Und dann werden als wenige Ausnahmen Lingg, Grosse, Schack, Hamerling, aber ganz besonders Dranmor genannt.

»Aber wir brauchen nicht blindlings seiner Spur zu folgen. Der Geist, der uns treibt zu singen und zu sagen, darf sich sein eigen Bett graben. Denn es ist der Geist der wiedererwachten Nationalität. Er ist germanischen Wesens, der all des fremden Flitters und Tandes nicht bedarf. Er ist so reich, so tief, so tongewaltig, daß auf unsrer Leyer alle Laute, alle Weisen anklingen können, wenn er in seiner Unergründlichkeit und Ursprünglichkeit uns ganz beherrscht. Dann werden wir endlich aufhören, lose, leichtsinnige Schelmenlieder und unwahre Spielmannsweisen zum Besten zu geben, dann wird jener selig-unselige, menschlich-göttliche, gewaltige, faustische Drang wieder über uns kommen, der uns all den nichtigen Plunder wieder vergessen läßt, der uns wieder welt- und menschengläubig macht, der uns das lustige Faschingskleid vom Leibe reißt und dafür den Flügelmantel des Poeten, des wahren und großen, des allsehenden und allmächtigen Künstlers um die Glieder schmiegt – den Mantel, der uns aufwärts trägt auf die Bergzinnen, wo das Licht und die Freiheit wohnen, und hinab in die Abgründe, wo die Armen und Heimatlosen kargend und duldend hausen, um sie zu trösten und Balsam auf ihre bluttriefenden Wunden zu legen. Dann werden die Dichter ihrer wahren Mission auch wieder bewußt werden; 49 Hüter und Heger, Führer und Tröster, Pfadfinder und Wegeleiter, Aerzte und Priester der Menschen zu sein, und vor allem die, denen ein echtes Lied von der Lippe springt, – ein Lied, das in die Herzen einschlägt und zündet, das die Schläfer weckt, die Müden stärkt, die Frevler schreckt, die Schwelger und Wollüstlinge von ihren Pfühlen wirft, brandmarkt oder wiedergeboren werden läßt. Vor allem also der Lyriker! . . . In dieser Anthologie eint sich ein solcher Stamm von Lyrikern, die sich das Gelübde auferlegt, stets nur dieser höheren, edleren und tieferen Auffassung ihrer Kunst huldigen zu wollen.«

Diese so großartig angekündigte »Anthologie« nannte sich »Moderne Dichtercharaktere«, und die soeben gehörte verheißungsvolle Stelle steht in der Einführung »Unser Credo« von Hermann Conradi. Aber an dieser einen Einleitung hatten die Herausgeber nicht genug. Es folgte noch eine weitere von Karl Henckell »Die neue Lyrik«. Dieser litteraturgeschichtliche Titel läßt freilich vergebens eine eingehendere Darstellung erwarten. Henckell sagt dasselbe wie Conradi, nur mit weniger Feuer und mit mehr Anmaßung und Rücksichtslosigkeit gegenüber den älteren Zeitgenossen.

»Moderne deutsche Lyrik! Wer nennt mir drei andere Worte unserer Sprache, in denen eine gleich tiefe Kluft gähnt zwischen dem wahren Sinne derselben und dem Dinge, zu dessen Bezeichnung sie herabgesunken sind? In Wahrheit, es ist ein trauriges Bekenntniß; aber wir haben in den letzten Decennien weder eine moderne, noch eine deutsche, noch überhaupt eine Lyrik besessen, die dieses heiligen Namens der ursprünglichsten, elementarsten und reinsten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre.«

Ueberbietet Henckell so seinen maßvolleren Vorgänger in erkünsteltem Löwenton, so übertrumpft er ihn auch am Schlusse noch. Conradi sprach im Namen der Teilhaber seiner Anthologie – Henckell aber thut's gleich im Namen der ganzen neuen Jugend und endet mit der ungeheuren Zukunftsrenommage: 50

»Auf den Dichtern des Kreises, den dies Buch vereint, beruht die Litteratur, die Poesie der Zukunft, und wir meinen eine bedeutsame Litteratur, eine große Poesie« . . . .

Das Satyrspiel, das diesmal sonderbarerweise der Komödie folgte, bestand darin, daß die schon vorher bekannten Dichter es durchaus ablehnten, mit der Anthologie übereinzustimmen. Sowohl Ernst von Wildenbruch wie Wolfgang Kirchbach und Karl Bleibtreu erklärten sehr bald öffentlich, daß sie durchaus nicht zu dieser »jungen Generation« gerechnet zu werden wünschten. Namentlich die beiden letztgenannten ließen es an Deutlichkeit in ihren Aeußerungen nicht fehlen, und die damals gerade von Joseph Kürschner gegründete »Schriftstellerzeitung« hallte wider von Erklärungen und Gegenerklärungen. – Und so tauchen denn aus der Fülle der Namen zunächst die beiden Steuerleute des jungen Fahrzeuges vor uns auf: Conradi und Henckell. Wie sie sich in ihren Vorreden von einander unterscheiden, so auch in ihren Beiträgen. Conradi zeigt sich schon hier als ein eigenartiger Charakter, als ein Ringer nach hohen Zielen, der die Bleigewichte einer unüberwindlichen Sinnlichkeit an seinen Füßen fühlt. Es ist, als ob er sein Ende vorausahnte, das ihn bestimmte, an diesen Bleigewichten zu straucheln, denn trotz seines sehnsüchtigen Aufstrebens reißen sie ihn willenlos hin.

»Was wir vollbringen, thun wir nach Schablonen,
und unsre Herzen schrein nach Gold und Dirnen,
und keinen giebt's, der tief im Herzen trüge
den Haß, der aufflammt gegen diese Lüge –
wir knieen Alle vor dem Götzen nieder
und singen unsrer Freiheit Sterbelieder

»Wir alle«, sagt er, und nimmt sich selbst wenigstens nicht aus. Das ist der Ehrlichkeitszug in seinem Wesen, der ihn zweifellos vorteilhaft vor manchen seiner Genossen auszeichnet. Durch alle seine Lieder, in freien oder gebundenen Rhythmen, geht der wilde Hauch dieses Kampfes, den er mit sich selbst ringt. Bald jubelt er auf:

»Aufsprang mir der Erkenntnis Freiheitsthor,
entsagt hab' ich jedwedem Tand und Flitter« –

und bald wieder klagt er in echter Katzenjammerstimmung nach durchzechter Nacht, die er mit seinem Leben vergleicht:

»Das war ein keck Erfassen
des Lebens in jauchzender Lust –
Nun liegt's mir vor Augen so tot und so fahl,
aufschreit in der Brust mir Titanenqual –

Als sollte die Welt ich nun hassen,
so ward mir nach all dem Erfassen
des Lebens in jauchzender Lust.«

Und wenn er über eine verlorene Liebe sich trösten will, dann mahnt es ihn:

»Eins aber zieht mich nieder,
das lastet wie ein Fluch,
das lähmt der Seele stolze Kraft,
der Hochgedanken Flug. . . .

Und fragt ihr, was entfesselt
den wirren Qualenstrom?
Die Sehnsucht, die da lechzt nach Glück,
nach Glück, das nur – Phantom!«

51 Und dieser ewige Kampf des Hohen und Niederen in seiner Seele wird bald zum Leitmotiv seiner Dichtung überhaupt. Er sammelte damals gerade seine Erstlinge unter dem halb ehrlich klagenden, halb koketten Titel »Lieder eines Sünders«.

Ganz anders Karl Henckell. In seinen glatten, reimgewandten Versen ahnt man nichts von solchen selbsterlebten Kämpfen. Eingeführt hatte er sich in demselben Jahre durch ein sonderbares Nachtstück »Umsonst« mit seltsam ausgeklügeltem Konflikt: Ein junges Mädchen will für die todkranke Mutter um jeden Preis die Medizin beschaffen und verkauft dafür ihre Mädchenehre. Wie sie aber mit dem so schrecklich erworbenen Gelde heimkehrt, ist die Mutter bereits gestorben. – Schnell folgte im Herbst desselben Jahres ein »Poetisches Skizzenbuch«; und nun gab er eine Auslese dessen, was da und dort veröffentlicht war.

Henckells Verse schmiegen sich leicht jedem Motiv an: von der Gottesverehrung und der Weltallschwärmerei bis zu den Arbeitern an der Esse und bis zum Liebesleid. Immer bleiben sie dabei glatt und sauber, niemals werden sie tief und feurig. Niemals machen sie den Eindruck, daß sie Selbsterlebtes aussprechen.

Von der Größe des neu erstandenen Reiches singt Henckell in herkömmlichen Tönen etwa:

»Hell schmettern die Fanfaren
durch Thal und Bergrevier;
Wer will die Treue wahren
dem deutschen Reichspanier?
Wir heben hoch die Hände
und kreuzen Schwert mit Schwert;
nun hat die Schmach ein Ende;
Wir sind der Väter wert!«

Ein anderes Mal führt er versgewandt, aber ohne besondere Eigenart die bekannten pantheistischen Gedanken aus:

»An den Wassern bin ich hingegangen,
feuchter Windhauch netzte meine Wangen.
Meine Seele, die das Licht verlor,
meine Seele schreit zu Gott empor.
Der im Wolkenkleid am Himmel schreitet,
der im Sturmhut durch die Lüfte reitet,
der aus grünen Wipfeln raunend winkt,
der aus Silberwellen plätschernd blinkt,
der im Grashalm sprießt, als Regen feuchtet,
der im Blitze schießt, als Sonne leuchtet;
Weltengeist, von dem auch ich ein Teil;
Schütte nieder deiner Gnade Heil! . . .«

Gern würde er ganz neue Töne anschlagen, aber es gelingt selten. So versucht er in einem Berliner Abendlied das Treiben und Lärmen in einer Großstadtstraße zu schildern, aber nach einem kurzen Anlauf wirklicher Anschauungsmalerei löst 52 sich das Gedicht in ein wirres Aneinanderreihen platter Straßenredensarten auf. Und den arbeitenden Schmieden legt er Verse in den Mund, wie:

»Und wenn ein Gott im Himmel nicht
den bangen Ruf versteht,
dann stürm' herein, du Weltgericht,
wo alles untergeht!
Der Hammer sinkt, die Esse sprüht,
das Eisen in der Flamme glüht!« –

Was aber sind diese glatten Verse – rein künstlerisch betrachtet – neben der bittern Eindringlichkeit etwa des Hoodschen Hemdenliedes, oder neben der warmen Innerlichkeit in Freiligraths »Im schlesischen Gebirge«, oder neben der wilden Kraft von desselben Dichters trotzigem »Proletarier-Maschinisten«?

Henckell beschreibt sogar den Kampf, den er mit seiner Leidenschaft ringt, so als wenn er ihn mit ansähe, und wir durchleben ihn nicht mit ihm; aber er ist voll Bewunderung seiner eigenen Größe:

»Wer bannt mich fest, wer heißt mich rasten träg?
Wer ändert mir den selbst erwählten Weg?
Frei ist die Bahn und niemand darf mich zügeln,
ich stürme fort auf adlerschnellen Flügeln.
Der Welten Räume messe ich zur Stund
von Himmelsfernen bis zum Höllenschlund,
von Pol zu Pol – durch Höhen und durch Gründe,
von Gott zu Bel, von Menschlichkeit zur Sünde« u. s. f.

So halten die beiden Vorredner der Sammlung nicht allzuviel von dem, was sie versprachen. Henckell entpuppt sich als ein formgewandter Wort-Dichter, Conradi als Sänger seines eigenen Unterliegens.

Als eigentlicher »Herausgeber« aber hatte ein anderer gezeichnet, der denn auch den Reigen der Dichtungen eröffnet: Wilhelm Arent, ein verwöhnter Jüngling, dem die Verhältnisse leider früh erlaubten, jeder inneren Ausbildung zu entsagen und nur zu »dichten«. So war er denn erst achtzehn Jahre alt, als er seine erste Liedersammlung herausgab, und doch trug diese schon den Titel »Lieder des Leides«. Auf eigene Kosten hatte er sie drucken lassen, und auf eigene Kosten ließ er sie wieder einstampfen. Aber schon im nächsten Jahre folgte eine zweite Sammlung, die kurz »Gedichte« überschrieben war und nach Angabe des Autors schnell vergriffen war. Jedenfalls ist sie einem heutigen Beurteiler nicht mehr zugänglich. So müssen wir uns denn, als an sein Erstlingswerk, an die dritte Sammlung halten, die den zweifellos schönen Titel trägt »Aus tiefster Seele«. Hermann Conradi hatte auch hier schon das Geleitwort geschrieben und nennt es ein »Büchlein, das eben, weil es ein äußerst zart und fein besaiteter Poet geschaffen, nur solchen verständlich sein kann, die sich trotz Alltagsstaub und Daseinskampf die elementaren Seelengewalten, die natürlichen Triebe und Gefühle in ungeminderter Reinheit, Stärke, Lauterkeit und Fülle zu erhalten gewußt«.

53 Nun das ist wieder viel, sehr viel versprochen; wird hier die Prüfung Stich halten?

Der erste Blick fällt auch hier wieder auf die Ueberschriften und – siehe da! – der Zwanzigjährige überschrieb das erste »Buch« dieser neuen Lieder »Weltmüdigkeit«. Und ein paar willkürlich herausgegriffene Strophen sagen:

»Es ist verklungen,
was ich geliebt,
was ich besungen,
was mich betrübt,

all Drängen und Treiben
empor zur Pracht,
all Haften und Bleiben
im Dunkel der Nacht.«

Und eine andere lautet:

»Was ich gewollt,
war eitel Wahn,
was ich gesollt,
hab' ich nicht gethan.

In ew'gem Schwanken
von Pol zu Pol,
in Sturm ohne Schranken
nur war mir wohl.

So hab ich, zernichtet
vom Quell des Lichts,
mich hinübergedichtet
ins traumlose Nichts.«

Sind das nun wirklich »elementare Seelengewalten«? Sind das »natürliche Triebe und Gefühle in ungeminderter Reinheit, Stärke, Lauterkeit und Fülle?« Oder sind das – im Munde eines Zwanzigjährigen! – nicht Beweise für ein zwar poetisch empfindsames, aber krankes Gemüt? –

Das zweite Buch »Liebe« scheint schon eher für das Alter des Sängers zu passen. Aber darin beginnt gleich das zweite Lied mit altherkömmlichen Bildern von Blüten, Tau und Rosenduft, um dann von Genuß und von heißem Blut zu reden. Ist das ein elementarer Dichter, der seine Rosen- und Gelbveigleingefühle mit der Laterne beleuchtet? –

Das dritte Buch bietet uns »Natur und Stimmung«. Auch eine solche halten wir fest:

»Nacht ist's. Trüb flattert der Ampel Licht,
des Mondes Schein durch die Fenster bricht.

Wir sitzen im Kreis beim festlichen Mahl,
von Hand zu Hand geht der duft'ge Pokal.

Wild üppige Zecher sind wir zumeist,
manches Witzwort sprüht von Geist zu Geist.

Dazwischen tönt der Dirnen Gelach,
das klingt so gell, das klingt so jach. . . .

O tolles Schwelgen im Ueberfluß!
immer süßer berauscht uns der Sinnengenuß,

o noch in nächster Stunde vielleicht
der Tod über unsere Häupter streicht. –

Uns kümmert es nicht, Brust wogend an Brust,
so laßt uns sterben im Taumel der Lust!«

Ich glaube kaum, daß jemand wirklich hier von dämonischen Flammen etwas zu verspüren vermag. Statt mitten darin zu stehen, hingerissen von bachantischem Taumel, steht der Sänger viel mehr mit blasiertem Kritikergesicht daneben und freut sich über sich selbst, daß er so sündhaft sein kann.

Freilich birgt die Sammlung auch Besseres, ja sogar Schönes, namentlich in dem vierten Buche »Pantheismus«:

»Ich kehre zu den Sternen
mein thränend Angesicht;
wie grüßt aus sel'gen Fernen
so mild ihr süßes Licht.

Fortdämmern alle Schranken,
stumm blüht die Seele auf;
ein Meer von Gottgedanken
trägt mich hinauf, hinauf.

Ich schweb' im weiten Raume
urfrei und schmerzenlos,
ich web' in wonnigem Traume
alleins im ewigen Schoß.« –

54 Aber die Schönheit liegt auch hier nur im weichen Verdämmern; alles in allem ist Arent ein traumseliger Jüngling, der sich verausgabt, ehe er etwas Wertvolles in sich aufgenommen, der mit großer Leichtigkeit die poetische Stimmung trifft, aber krankhafte Willenlosigkeit mit jugendlicher Blasiertheit vereinigt und sich dabei so gern als Löwe frisieren lassen möchte! Den Geist seiner inneren Schwächlichkeit aber hat er auf der ersten Seite der Anthologie ausgesprochen in den Strophen auf »Des Jahrhunderts verlorene Kinder«, deren Schluß lautet:

»Chaotische Brandung wirr uns umtost,
verzehrt von dämonischen Gluten;
von keinem Strahl ewigen Lichtes umkost
müssen wir elend verbluten.«

Dies ist also der dritte der Herausgeber. Doch unter den Mitarbeitern treffen wir kräftigere Naturen. Da bietet sich zunächst Oskar Linke als Freund des Griechentums. Er gehörte freilich kaum noch unter die jüngsten Deutschen. Geboren zu Berlin am 15. Juli 1854 war er als ein Mann von dreißig Jahren unter die Schar der Stürmer geraten, aber er selbst war nie ein Stürmer. Als studierter Archäolog ließ er am liebsten die Wunderwelt von Hellas wieder aufleben. Neben seiner Dichtung »Jesus Christus« hatte er durch »Milesische Märchen«, durch ein »Bild des Eros«, durch einen Leukothea-Roman, durch eine der unzähligen Neudichtungen von »Eros und Psyche« sich bekannt gemacht, und nur nebenbei hatte er sich einmal in Berliner Idyllen »Aus dem Paradiese« versucht. Ein Meister der Form, beherrscht er jedes antike Versmaß; oft aber auch kleidet er die alten Stoffe in eine moderne Form.

Eine schöne Probe seines Könnens giebt er in der Anthologie in einer Elegie, die seine Sehnsucht nach alter Griechenschönheit und mittelalterlichem Kaiserglanz gleichmäßig bezeugt:

»Kennst du das Zauberland,
das fern im Süden liegt,
das leis im ew'gen Schlummer
die Meereswelle wiegt?

Hier blüht noch der Orangen-
und Myrtenhain so schön,
hier schimmert noch so blendend weiß
der Schnee auf Bergeshöh'n.

O siehst du, wie die Welle
als wie ein kleines Kind
umkost, umspielt das Eiland
so weich, so schmeichelnd lind?

Wohl liegt der Schnee so blendend
hoch um des Aetna Firn,
und doch wie Trauer still und groß
umweht's der Insel Stirn. . . .

Und hörst du, was die Welle
noch heute traurig singt,
was traurig widerhallend
zum hohen Norden klingt?

Hier schlummert in zwei Särgen
ein goldner Kaisertraum,
der einst umspinnen wollte
den ganzen Erdenraum.«

Gleichfalls finden sich Töne von ursprünglicher Frische bei dem Oesterreicher Friedrich Adler, der – schon siebenunddreißigjährig – damals als Lyriker hervortrat und unter die jüngsten geraten war. Mit warmem volkstümlichen Pathos beginnt er sein Lied für die Deutschen in Oesterreich: 55

»Laßt laut die Töne klingen
wie mächtig dröhnend Erz,
aufschreckend solln sie dringen
in jedes schwankende Herz;

dem Schwerte gleich soll's wettern,
das Wort, gewaltigen Streichs,
das Kampflied soll erschmettern
den Deutschen Oesterreichs!«

Aber schlicht und einfach läßt er die Arbeiter nach mißlungenem Streik sprechen:

»Wir schweigen schon, ihr habt gewonnen,
ihr Männer von Gesetz und Recht,
und sicher seid ihr eingesponnen
in neuer Ordnung eng Geflecht.

Wir schweigen schon. Stolz dürft ihr zeigen,
wie ihr gebeugt, was euch bedroht;
Wir schweigen schon und werden schweigen,
allein uns hungert! Schafft uns Brot!

Auch den übrigen Teilhabern der Anthologie läßt sich zum größten Teil mehr oder weniger Talent nicht absprechen. So ist der Berliner Johannes Bohne glücklicher, wenn er in stürmischen Oden-Rhythmen die neue Weltanschauung preist, als wenn er in gut gemeinten, aber allzu blassen Bildern aus dem Leben den »Spielmann« oder den »Bettler« zu schildern versucht, ohne Eigenartiges bieten zu können. Der Hildesheimer Oskar Hansen, der sich damals in Wien dem Buchhandel gewidmet hatte, war mit seinen einundzwanzig Jahren lebenssatt. In glatten Versen bekennt sich auch der Hannoveraner Alfred Hugenberg, damals ein noch ganz ungedruckter Rechtsstudent, zu der modernen Weltanschauung. Eigenartiger zeigt sich Richard Kralik in Wien in seinem nur allzulangen Gedicht von der tanzlustigen Riccionella, die keinen Tänzer finden kann, bis sie allein in der Tarantella rast und nun Sonne, Mond und Sterne über ihr tanzen. Der Wiener Josef Winter ist ein weiches Empfindungstalent, das gerne von Lenz und Liebe singt und sich aus dem »Phäakensonntag« des Wiener Prater heraus flüchtet. Sein Landsmann Fritz Lemmermayer, mit Stolz als Verfasser des historischen Romans »Der Alchymist« genannt, zeigt sich als Lyriker in verzweifelnder Hoffnungslosigkeit. Frisch ist die Begabung Oskar Jerschkes, des Redakteurs der Kyffhäuser-Zeitung, wo er sich religiösen und politischen Stoffen zuwendet, und Karl August Hückinghaus ist ein formgewandter Gedankendichter. Erich Hartleben führt sich als Nachahmer antiker Oden ein, Georg Gradnauer versucht sich in unvollendeten Messiaspsalmen, und H. E. Jahn reimt noch trocken und schwunglos. Aber Einer ist darunter, dessen Dichtername damals schon in die Reihe der Ersten nicht nur seiner Zeit gestellt werden konnte: Arno Holz.

Man kann sagen, daß in seiner Dichtung das That wurde, was die Stürmer und Dränger erstrebt hatten. Seine Form ist so rein, seine moderne Gestaltungskraft so stark wie nur bei besten Dichtern der vorgegangenen Generation; aber er brachte auch alles das mit, was die neue Generation verlangte: tiefes soziales Mitempfinden, klarste Anschaulichkeit und moderne Weltanschauung. Schnell hatte er sich von der ersten Liedersammlung »Klinginsherz« heraufgearbeitet. Deutsche Weisen gab er mit seinem Freunde Jerschke zusammen heraus, und nun lieferte Holz für die Anthologie auserlesene Prachtstücke. Gleich sein humoristisches Frühlingslied zeugt von Eigenart: 56

O wie so anders als die Herren singen,
stellt sich der Lenz hier in der Großstadt ein!
Er weiß sich auch noch anders zu verdingen
als nur als Vogelsang und Mondenschein.

Er heult als Südwind um die morschen Dächer
und wimmert wie ein kranker Komödiant,
bis licht die Sonne ihren goldnen Fächer
durch Wolken lächelnd auseinander spannt.

In ursprünglicher Verquickung von Humor, Satire und Wehmut entrollt er in Versen, die von selber durch alle Hindernisse hüpfen, das unendlich mannigfaltige Bild der Großstadt im Lenz.

Und wie wunderbar natürlich und zart schildert er in seinem »Sonntagsidyll« die junge Liebe zweier anspruchsloser Menschenkinder. Er kommt in das Zimmer der Braut:

Zum Schmaus gedeckt stand schon ein kleiner Tisch,
grau hinterm Spiegel steckt ein Flederwisch.
Doch unbekümmert um die neuste Mode
stand dicht dabei die ältliche Komode,
und unter einem Kreuz von Elfenbein,
das Bild von einem toten Mütterlein. . . .

Drauf, wie ich mich schon oft ließ unterjochen,
sollt' ich auch heute mit Dir Kaffee kochen.
Ich lärmte; doch was half mir mein Protest?
Ein kußersticktes Lachen war der Rest!
Und als ein vielgewandter junger Dichter,
hielt ich gewandt Dir nun den Kaffeetrichter,
natürlich ging das »noch einmal so gut«.
Sieh hier das Lied; »Was man aus Liebe thut«!
Wir schmeckten, wechselnd prüfend mit den Zungen,
und endlich war der große Wurf gelungen.
Zwar war das Tischtuch nur von grobem Zwilch,
doch fehlte weder Zucker drauf noch Milch.
Und dampfend füllten nun die braunen Massen
die goldumränderten Geburtstagstassen.
Des Tränkleins Wirkung aber kommt und geht,
bis sich das Zünglein wie ein Mühlrad dreht;
Was Stift und Tinte, Häkelzeug und Maschen!
Wir waren heut' zwei rechte Plaudertaschen!
Du schwärmtest von dem neusten Ausverkauf,
ich aber schlug ein kleines Büchlein auf
und las Dir Lieder vor von Schack und Keller,
und übersah auch nicht den Kuchenteller.

So saßen wir – zwei große Kinder – da,
bis rot der Abend durch die Scheiben sah,
und tappten dann hinab die dunklen Stiegen
um noch ein Stündlein vor das Thor zu fliegen. . . .

So stehen dem Dichter Holz für die Kleinmalerei Witz und Ernst zu Gebote, Beobachtungsgabe und ein warmes Herz, das vor allen Dingen nie bei dem kalt Erschauten stehen bleibt, sondern dem Gemüt und den Gedanken Richtung giebt. So stellt er ein andermal lebensvoll zwei »Bilder« einander gegenüber. In dem 57 einen malt er mit seiner ganzen Kunst der feinen Stimmungsgebung das Innere eines Palastes, wo alles auf den Zehen schleicht, der Hausherr – Excellenz und Parlamentarier – die Reichstagssitzung versäumt, und alles bebt und seufzt und nach Himbeer und Limonade läuft, weil, wie der Schluß erst offenbart, die gnädige Frau – Migräne hat; während in dem anderen Bilde eine armselige Dachwohnung, »fünf wurmzernagte Treppen« hoch, ihr ganzes Elend entfaltet, in dem eine Mutter unter weinenden Kindern liegt – tot, weil der Arzt zu spät geholt wurde. Am wärmsten und vollsten aber klingt die Mitleidspoesie des jungen Meisters aus in dem Gedicht: »Meine Nachbarschaft«:

»Mein Fenster schaut auf einen düstern Hof,
auf schmutz'ge Dächer und auf ruß'ge Mauern.
Doch wer, wie ich, ein Stückchen Philosoph,
läßt darum sich noch lange nicht bedauern.
Ein wenig Luft, ein wenig Sonnenlicht
dringt schließlich auch durch seine trüben Scheiben;
zu hungern und zu frieren brauch' ich nicht,
und all mein Thun ist nur ein wenig Schreiben.

Ein wenig Schreiben, wenn ich stundenlang
mich einlas in die Wunderwelt der Alten,
bis endlich, endlich es auch mir gelang,
was ich gefühlt, zum Wohllaut zu gestalten.
Dann fließt es um mich wie ein Heil'genschein,
und mir im Herzen bauen sich Altäre,
so könnt' ich glücklich und zufrieden sein,
wenn, ach, nur meine Nachbarschaft nicht wäre.

Kein Schwärmer ist es, der die Flöte liebt,
und auf ihr nur: »Des Sommers letzte Rose«,
kein Tanzgenie, das ewig Stunden giebt,
auch kein klavierverrückter Virtuose;
Ein armer Schuster nur, der nächtens flickt,
wenn längst aufs Dach herab die Sterne scheinen,
indeß sein Weib daneben sitzt und strickt,
und seine Kinderchen vor Hunger weinen.

O Gott, wie oft nicht schon hat dieser Laut
mich mitten aus dem tiefsten Schlaf gerüttelt,
und wenn ich halbwach dann mich umgeschaut
hat wild es wie ein Fieber mich geschüttelt.
Des Mädchens Schluchzen und des Knaben Schrei
und ganz zuletzt des Säuglings leises Wimmern –
Mir war's, als hörte ich da nebenbei
drei kleine schwarze Bretter zimmern.

Mir war's, als rollte dumpf dann vor das Haus
der nur zu wohl bekannte Armenwagen,
und jene Bretter trugen sie hinaus
und luden sie in seinen düstern Schragen; 58
der Kutscher aber nahm noch einen Schluck
und peitschte fluchend seine magern Schinder,
und übers Pflaster dann ging's Ruck auf Ruck,
und ach – noch immer wimmerten die Kinder!

Und immer, immer noch klang's mir im Ohr,
wenn schon der Morgen durch die Fenster blickte,
und mir ums Auge hing ein Thränenflor,
wenn ich dann stumm mein Tagewerk beschickte.
Was half mir nun mein »Stückchen Philosoph«?
In Trümmer fiel, was ich so lustig baute!
doch that's das Haus nicht, nicht der düst're Hof,
nein, nur die abgebroch'nen Kinderlaute. . . .

Ja, das ist wirklich der Entwickelungsgang des Dichters gewesen. Er, der im kleinen Städtchen Rastenburg geboren war, kam in jungen, eindrucksfähigen Jahren nach Berlin, und wie die ursprüngliche Naturpoesie seiner begeisterungsfähigen Feuerseele hier in der That durch den Anblick des sozialen Elends von einer neuen Art sozialer Poesie abgelöst wurde, das schildert er mit seinem ganzen Schmelz in den Versen seines »Tagebuchblattes«:

Nur manchmal, manchmal noch durchziehen
sein Herz, das nach Erlösung schreit,
die grünen Waldhornmelodien
der längst verrauschten Kinderzeit.

Dann stöhnt er auf und seine Hände
preßt er verzweifelt vors Gesicht,
und rings die weißgetünchten Wände
erzittern, wenn er schluchzend spricht:

»O Poesie, du heilig schöne,
von Thränen ist mein Herz durchnäßt,
weil du den treusten deiner Söhne
in Nacht und Not verkümmern läßt.

Ich war ein Kind und sprach: O schütte
dein Füllhorn golden in mein Lied,
und laß mich knieen in einer Hütte,
auf die der Stern der Liebe sieht.

Ja, laß auf einem weißen Zelter
mich fliegen in den Sonnenschein,
laß aus des Lebens Freudenkelter
mein Herzblut sprüh'n als Liederwein.

Du schwebest segnend durch die Lüfte,
ich hab' dir selig nachgeblickt,
und Lenzgoldlicht und Blütendüfte
hast du mir lächelnd zugenickt.

Und doch! Und doch! Du hast gelogen!
Dein Lächeln war ein schönes Gift!
Du hast mich um mich selbst betrogen!
Dein Herz ist schwarz, wie deine Schrift!

Du gabst mir einen wilden Rappen,
Umschnürtest meine Brust mit Erz,
und unter Thränen in mein Wappen
hast du gestickt ein blutend Herz.«

Das ist in der That selbst durchlebter Zeitgeist in wirklicher, ungewollter Poesie. Der Schmerz der Zeit und das Erlebnis des Einzelnen, hier war es in einer ehrlichen Persönlichkeit eins geworden; und wie leuchtende Golddiademe strahlen die Lieder von Arno Holz aus der Anthologie hervor, die unter so viel Mittelmäßigem und Erfreulichem – hier durch einen wirklich Großen im Geisteslande zum Bedeutungsvollen geadelt wurde. Freilich nur wenigen wurde die Anthologie bekannt, und noch weniger Leser hatten die früheren Sammlungen Holz'scher Poesien gelesen. Noch fehlte der große Sturm der Massen, der einzig die Welt aufzurütteln vermag aus ihrer Gleichgültigkeit gegen stille, große, echte Kunst – und später, als 59 dieser Sturm kam, da zersetzte er die schönen jungen Frühlingstriebe dieses kraftschwellendsten unter den jüngsten Dichterstämmen, und der kalte Reif erstarrender Theorie senkte sich frostig und vernichtend auf seine Blüten.

Vorderhand war der Eindruck der Anthologie nicht der gewünschte. Auf die Kritiker in den Tageszeitungen mußten mit Recht die Henckell'schen Renommistereien verstimmend wirken. Ein Herausgeber, der alle werdenden Talente zu kennen meint und die Zukunftslitteratur auf zwei Dutzend ihm mehr oder weniger zufällig bekannte Namen einschränken will! – Trotzdem fehlte es auch nicht an wohlwollenden Beurtheilern, und namentlich der Redakteur der Romanzeitung Otto von Leixner, der ja schon so manches Gedicht aus diesem Kreise veröffentlicht hatte, bemühte sich, vorurteilslos zu sein. Auffallend war es aber, daß innerhalb dieses Kreises selbst das gegenseitige Anklagen alsbald begann – in den schon erwähnten Erklärungen und Gegenerklärungen.

So hatte die Anthologie wohl Staub aufgewirbelt, aber doch nur in den engsten litterarischen Kreisen. Auf ein weiteres Publikum wirkte sie gar nicht. Und doch war sie wirklich der erste Anstoß gewesen zu einer revolutionären Bewegung, die nun schnell ihren Fortgang nahm.

Kurz vor dem Weihnachtsfeste des Jahres 1884 waren die »Modernen Dichtercharaktere« mit Hochdruck herausgebracht worden. Die Herausgeber entschuldigten etwaige Lücken mit dieser Eile. Schon ein Vierteljahr später sammelten sich die Teilnehmer unter dem Banner eines älteren Genossen zu gemeinsamer Arbeit an einer Zeitschrift; es waren die »Berliner Monatshefte für Litteratur, Kritik und Theater«, die Heinrich Hart am 1. April 1885 eröffnete und in üblicher Weise mit volltönendem Pathos ankündigte. »Ein Blatt, das in umfassender Weise die deutsche Litteratur der Gegenwart berücksichtigt, besteht in Deutschland nicht.« Nun sollte es geschaffen werden durch Herrn Heinrich Hart und die Seinen. Aber als Cliquenblatt war es doch nicht gedacht:

»In der Wahl unserer Mitarbeiter lassen wir nur eine Schranke gelten, die Schranke des Talentes gegen die Mittelmäßigkeit. Eine Schule zu bilden, liegt uns fern; Realismus, Naturalismus, Idealismus und alle sonstigen Ismen haben als Embleme keinen andern Wert als den für die Persönlichkeit. Wir unsrerseits kennen nur eine Poesie; die Poesie des Genies, des Talentes, und nur einen Feind; die Mittelmäßigkeit, den sich vordrängenden Dilettantismus. Die Poesie des Genies war zu allen Zeiten realistisch und doch auch idealistisch; sie atmete von jeher Wahrheit, Quellfrische und Natur, sie wandte sich stets an den ganzen, gesunden, ringenden Menschen, an alles das, was in uns zur Höhe, was in die Tiefe strebt. Die Arbeit der Mittelmäßigkeit aber sucht heute wie früher den Tagesbeifall der Unreifen und Verlebten, des Kaffeekränzchens; sie war immer Spielerei, Mache und Lüge, von außen geleckt, zierlich, moralisirend; im Innern faul, unsittlich, kraftlos und hohl. – Es giebt daher nur einen Kampf, der der Mühe wert wäre, den Kampf für das Genie, für das echte Talent . . . .«

Treffender und besser kann man gewiß nicht von der Poesie reden. Aber gerade darum konnte die Zeitschrift nicht das werden, was sie werden wollte: ein lebenfähiges Organ der jungen Geisteswelt. Denn in der modernen Welt dringt in die Oeffentlichkeit nur, was Aufsehen erregt, und Aufsehen erregt nur das Einseitige oder das Barocke. Wer in gärenden Zeiten vorurteillos alles Werdende prüft, der gewinnt keinen Anhang in der Gegenwart, sei er nun Kritiker oder 60 Dichter. Dazu kam nun freilich auch, daß niemand persönlich ungeeigneter zur Herausgabe dieses Blattes sein konnte, als Hart, der als Dichter reich begabt, in seiner wirtschaftlichen Position aber damals so wenig gefestigt war, daß er nicht die Fähigkeit besaß, mit dem nötigen Takt und der nötigen Unabhängigkeit der ihn umgebenden jungen Schar der Korybanten oder seinen andern Mitarbeitern gegenübertreten zu können. So lebten denn die Monatshefte nur ein halbes Jahr. Daß sie in dieser kurzen Zeit von künstlerischem Standpunkte aus nicht ohne Geschick geleitet waren, darf man nicht verkennen. Unter den Mitarbeitern waren wirklich viele Talente aus der jüngeren und älteren Generation vereinigt. Ja, ein Greis, der sein Lebenlang allem Cliquenwesen ferngestanden hatte, der formbeherrschende, gedankenreiche Graf Schack, wurde an seinem siebzigsten Geburtstage in dieser Zeitschrift gefeiert.

Auch unter den Mitarbeitern stehen die damals bei der Jugend beliebten älteren: Heiberg, Bulthaupt, Wildenbruch, Hamerling, Lingg und Roquette, Richard Voß neben den mittleren Bleibtreu, J. Hart, Kirchbach und neben den Jüngsten aus der Anthologie: Linke, Hartleben, Hugenberg, Henckell, Kralik, Conradi u. s. w., zu denen sich noch Ferdinand Avenarius gesellte, der Verfasser der formschönen Gedichte »Wandern und Werden« (1881) und einer vortrefflichen Anthologie: Deutsche Lyrik (1884), sowie Richard von Hartwig, der namentlich durch seine geistreichen Weltmärchen (1886) bekannt wurde, ferner: Mackay, Johannes Proelß, Graf Stadion, Conrad Telmann, Ludwig Fulda und eine Kollegin Alberta von Puttkamer. Lemmermayer hat schon die Wandlung durchgemacht, die ihn aus einem mit der Form allzusehr ringenden Poeten in einen klaren, geistreichen Kritiker umwandelt, wie sein »Theaterbericht aus Wien« und namentlich die meisterhafte Beleuchtung von Paul Heyses, damals Aufsehen erregender Tragödie »Don Juans Ende« zeigte.

Solche Theaterbriefe wurden aus Berlin, Budapest, Dresden, Frankfurt a./M., Görlitz, Hannover, Kassel, Leipzig, München, Oldenburg, Prag, Stettin, Stuttgart und, wie gesagt, aus Wien geliefert und zeigen allerdings ein erstes thatkräftiges Inangriffnehmen der Ideen einer »Theaterrundschau«. Näherte sich hier das Programm des Gründers der Verwirklichung, so mußte der von vornherein unmögliche Gedanke im Keime ersticken, durch die Kritik aller in guter und schlechter Hinsicht hervorstechenden Schöpfungen »einen Ueberblick zu bieten über das gesamte Gebiet des heutigen nationallitterarischen Schaffens«. Es blieb natürlich bei einzelnen Aufsätzen und Kritiken, die im allgemeinen Wohlwollen und Anstand zeigen. So geht durch die ganze Zeitschrift kein eigentlich revolutionärer Zug, sondern der Gedanke ruhig klarer Fortentwicklung. – In einem Aufsatz über historische Romane weist Oskar Linke die bei der Jugend herrschende Anschauung zurück, als sei diese Litteraturgattung eine Modekrankheit, und Heinrich Hart bekämpft eine briefliche Aeußerung des alternden Ibsen, als sei der Vers nicht mehr zeitgemäß; aber Hart kommt zu keiner klaren Auffassung dessen, was er im Gegensatz zur alternden Generation anstrebt. Er will etwas Neues und scheut sich vor dem, was sich ihm als neu darbietet:

61 »Nicht das schlechteste Kennzeichen unserer Zeit ist das Ringen um eine neue Gesellschaftsordnung, ein Ringen, das alles Herrliche und alles Gemeine im Menschen entfesselt. Wie könnte der Dichter diesem Kampfe fernbleiben? . . . Ist es seine Sache, den Brand zu schüren, den Materialismus zu stärken, der hüben und drüben alles Heil in der Häufung der leiblichen Genüsse erblickt? Ist es seine Sache, in den Schrei Brot, Brot! einzustimmen, und wäre der Schrei auch noch so berechtigt? Nein! und dreimal nein; mit Gedichten schafft man kein Brot, und deshalb soll der Dichter als Dichter weder Sozialdemokrat noch Aristokrat sein, sondern Sozial-Idealist; wieder und immer wieder soll er die Kämpfenden darauf hinweisen, daß der Mensch nicht allein vom Brot lebt, daß er nur ein Tier bleibt, auch wenn er nur eine Stunde des Tages zu arbeiten hat und nichts von den lebendigen Quellen des Idealen weiß, daß die leuchtende Sonne des Glückes am Himmel steht und nicht von irdischen Lämpchen ausstrahlt . . .«

Sehr gut! – aber sind diese Gedanken neu? Was ist darin revolutionär? Sind sie nicht der beste Beweis dafür, daß der Geist der Poesie, wenn er idealistisch erfaßt wird, zu allen Zeiten derselbe war? Sind Harts Worte nicht nur eine Umschreibung für Schillers: »Und die Sonne Homers, siehe, sie leuchtet auch uns«?

So stellten sich denn die »Berliner Monatshefte« zwischen die Parteien. Die große Menge der Leser beleidigte die Anmaßung, und die Durstigen fanden keine Befriedigung. Der kaum erwählte Führer der jungen Rebellen mußte erfahren, was noch jeder in seiner Lage erfuhr, daß nämlich in jeder Revolution nur die radikalste Partei steigen kann, um sogleich selbst wieder zu weichen, sobald eine noch radikalere ihr Haupt erhebt. So ging es auch hier. Schon im Oktober desselben Jahres, da Heinrich Hart seinen Feldherrnstab ergriffen, mußte er ihn niederlegen. Er überwies seine Leser und Mitarbeiter in einem Nachwort der »Gesellschaft«. Diese Zeitschrift aber, die gleichfalls eben erst gegründet war, führt uns nach München.

 


 


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