Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Achtes Kapitel.

Die Verse der modernen Weiblichkeit.

Aber eine der bedeutendsten epischen Dichtungen moderner Art rührt von einer Frau her – von Marie Eugenie delle Grazie (geb. in Unterweißkirchen am 14. Juli 1864). Von jeher hat sie sich die höchsten Ziele gesteckt. Neunzehnjährig trat sie mit einem Epos »Hermann« und ein Jahr später mit einem Drama »Saul« hervor, dem freilich der eigentlich dramatische Zug fehlt. An Novellen und Gedichten reifte sie langsam, bis ihr im dreißigsten Jahre ein gewaltiges Werk gelang: das Epos »Robespierre«. Das einzige in diesem Gedicht Verfehlte ist der Titel. Nicht der eine Mann ist der Held, sondern die ganze französische Revolution entrollt sich in der Mannigfaltigkeit ihrer blendenden Charaktere und in der furchtbaren Blutigkeit ihrer endlichen Entartung vor den Augen des bald staunenden, bald entsetzten Lesers. Immer schrecklicher entfesseln sich die Leidenschaften, und die Szenen im Parlament, auf der Straße, beim Sturm der Rede und der Waffen erreichen die Wirkung eines oft erschreckenden Realismus, der aber durch die lebensvoll gehandhabten fünffüßigen jambischen Blankverse gemildert und mit gewaltiger Faust zu einer kraftvollen Komposition gebändigt wird. Wenn der Realismus jemals berechtigt ist, so ist er es im Dienst eines großen, weltgeschichtlichen Stoffes: wovon wir uns im Kleinrahmen des Alltagslebens mit Widerwillen abwenden, das erscheint als folgerichtige Notwendigkeit, 339 wenn es den Donnergang der Weltgeschichte begleitet. Von der gewaltigen Kraft dieser Dichterin gebe eine Stelle aus ihrem Gedichte Zarenmahl (Musenalmanach 1893) eine Probe:

    Er tafelt . . . . .

    Vor der samtverhang'nen Thüre,
die Hand am Schwerte, stehen die Hartschiere;
gewandt und mit ehrfürchtigem Gekriech
bedienen ihn die schwänzelnden Lakaien – –
Nun speise, Väterchen, und labe dich!
Sieh, ringsum, deinen Gaumen zu erfreuen,
gehäuft, was nur ein Weltreich bieten kann!
Nicht reden darfst du, Großer, nur ein Winken,
schon deiner stolzen Augen herrisch Blinken
genügt, und was du willst, es ist gethan.

    Und näher rückt der Zar die goldnen Teller – –
Da, siehe, bricht es plötzlich wie ein greller
und blut'ger Widerschein daraus hervor;
»Gedenkst du Karas?« tönt es an sein Ohr;
»aus jenem Bergwerk, Zar, sind wir gewonnen,
dort glänzt es wie von unterird'schen Sonnen,
von Gold – und alles, Väterchen, ist dein!
Viel hundert Arme werken in den Minen –
Verbannte sind's, Unschuld'ge unter ihnen,
und täglich, stündlich mehrt sich ihre Zahl –
Schlaff ist ihr Körper und ihr Antlitz fahl . . .
Seit Jahren traf ihr Ohr kein andrer Ton,
als das Gesaus' der Ruten, oder Hohn,
wenn schwächer sie die müden Hände rühren;
und treibt sie der Kosack des Nachts zu Bette,
so klirrt an ihrem Arm und Fuß die Kette,
daß sie im Traum noch deine Macht verspüren.
An jedem Barren klebt ein Tropfen Blut,
ein wilder Fluch und eine Thränenflut –
Wir wissen es – wir, deine Prunkgefäße . . .
Allein, was thut es? Gold und Zarengröße
verrosten nie! Nun iß, und laß dir's munden,
der Himmel schenke dir noch viele Stunden!« . . . .

Ist sie die kraftvollste, so ist sie darum natürlich nicht die populärste Dichterin; vielmehr kommt in der Berühmtheit des Tages keine der Bauerdichterin gleich, die der unermüdliche Förderer der Frauendichtung Professor Weiß-Schrattenthal entdeckte. Der Kultus der Johanna Ambrosius stieg in der Reichshauptstadt auf seinen Höhepunkt, als der Verein »Berliner Presse« sie zu einem öffentlichen Vortragsabend einlud und Sudermann sie würdevoll als seine Landsmännin auf die Bühne geleitete. Der erste Band ihrer Gedichte (1894 und 1898) erlebte in vier Jahren sechsunddreißig Auflagen. Die ungeheure Ueberschätzung ihrer liebenswürdigen, aber nicht sonderlich eigenartigen Begabung erklärt sich eben aus der 340 Art ihres Eintritts in die Litteratur. Liebenswürdig und geistreich steht neben ihr auch Frieda Schanz, seit Jahren vermählt mit dem Schriftsteller und Redakteur Soyaux. Aber auch sie ist nicht abhängig von der jüngstdeutschen Bewegung, ebensowenig wie die liederreiche Königin Rumäniens Carmen Sylva oder deren Freundin Miete Kremnitz. Näher steht der modernen Bewegung mit ihren ernsten, tiefen und formvollendeten Gedichten Alberta von Puttkamer, eine Schlesierin aus Glogau, die in ihren »Dichtungen« (1885) »Akkorden und Gesängen« (1889), »Offenbarungen« (1894) und »Aus Vergangenheiten« kraftvolle Anschaulichkeit für wertvolle Gedanken findet.

Eine Probe bietet für ihre warme Stimmungslyrik das Lied:

              Sommernachts.

Wie trunken schläft die Juninacht!
Es ist wie Duft von reifem Korn
weither im Lande aufgewacht –
Die Rose glüht am Heckendorn.
Der Bergwald atmet; manchmal stehen
die Winde aus den Wolken auf
und führen sehnsuchtsschwüles Wehen
der Leidenschaft vom Thal herauf.

Dort blitzt aus dem entschlafnen Land
ein einzig waches Fensterlein,
ich habe bald dein Haus erkannt,
von dort entloht der schwüle Schein . . .
Und aus beglänzten Büschen fragen
mich Nachtigallen, wo du bist,
warum in diesen trunknen
Tagen die Sehnsucht nicht die Liebe küßt. –

Aber mit solchen Empfindungsversen ist ihre Lyrik keineswegs erschöpft. Mit dem feierlich getragenen Tonfall, den ihre Verse meist anschlagen, verbindet sich Kraft und Klarheit. Sie gemahnt in ihren Balladen und Romanzen oft an die besten Zeiten Liliencrons. Hält man Gedichte, wie ihr »Nachts am Lügenfeld«, mit der gewaltig dramatischen Zeichnung der Karolingergeister neben die zerfließende Weichheit Bierbaums oder die Unklarheit Dehmels, so glaubt man, die Geschlechter haben ihre Rollen vertauscht. Dabei ist sie, so fern ihr alle Prüderei bleibt, rein und keusch in ihrem Empfinden. Ja, das Thema der Reinheit im Kampf mit wilder Leidenschaft schlägt sie oft an, am edelsten in dem symbolischen Gedicht: »Der Jüngling von Hüningen«, der auszieht, um den wilden Wolf zu töten, aber siegend von seinem Gifthauch verpestet wird, und sich lieber selbst dem Tode weiht: »Ich gehe zur Gottheit früh und allein, ein Würger des Bösen – und stolz und rein.« Mit ihrer anschaulich lebensvollen Schilderung verklärt sie am liebsten Wald, Berg und Märchenwelt des Elsaß.

341 Mehr noch steht Hermine von Preuschen den Jüngstdeutschen schon äußerlich nahe. Als Malerin war sie der Welt zuerst bekannt geworden durch ihr aufregendes Bild Mors imperator (Kaiser Tod), das den Tod als Umstürzer der Throne darstellte. In gewolltem Anklang an diesen Bildertitel nannte sie wohl ihre erste Liedersammlung »Regina vitae« (Königin des Lebens). Aber unter dieser Königin scheint sie den Schmerz verstanden zu haben. Denn die meisten dieser Lieder sagen von Seelenqualen, von schnell verglühender Lust und von Pein und Reue.

»Ich stieg – im Herzen heiße Sonnensehnsucht –
Wie Ikarus, gebrochen, flügellahm,
stürzt' ich hinab in bodenlose Tiefen,
in die ein Sonnenleuchten nimmer kam.
                      Und ich habe gelitten.

– Doch Jahre schwinden, kommen, schwinden wieder,
was sind sie andres als ein Totentanz
für eines stolzen Herzens Sonnenstreben –
Stumpf seh' ich welken meines Lebens Kranz,
                  denn ich habe vergessen!«

Diese ernste Stimmung hat sich auch nach dem kurzen Eheglück mit Telmann natürlich nicht verloren. Ihre letzte, nicht ohne eine gewisse Gesuchtheit ausgestattete Sammlung mit dem mystischen Titel »Vom Mondberg« zeigt das Bild der Verfasserin – die sich jetzt Hermione nennt – umrahmt mit dem düsteren Spruch: ». . . . und so zerrinnt mit Irrtum, Gram und Zeit ein kurzes Leben in die Ewigkeit; durch Thränen spiegelt's, wie im Prisma wieder all seinen Farbenglanz in Bild und Lieder.« – Die eigentliche Mystikerin unter den modernen dichtenden Frauen aber ist Maria Janitschek. Sie schloß sich früh der jungen Richtung an, und in Bierbaums Musenalmanachen stand sie in Reih und Glied mit der männlichen Schar. Eine eigentümliche Mischung von irdischem Lebensdrang und einer oft religiös gefärbten Sehnsucht nach dem Uebersinnlichen kennzeichnet alle ihre Dichtungen, in denen Vers und Prosa durcheinander fließen wie Welt und Ueberwelt, und in denen das Gewirr der verschiedenen Spannungen häufig den Anschein des Krankhaften hat, während im nächsten Augenblicke die Aeußerung entschiedener Kraft Verwunderung erregt. Eine Probe biete ihre Versskizze: 342

                      Geheimnisse.

Der Wildbach braust, es rauscht die Luft,
schwefelfarbnes Gewölke speit rote Flammen,
zerrissne Zweige treiben im Sturm,
die Tiere stecken die Köpfe zusammen.

Auf schroffem Fels, der senkrecht fällt
in die gähnende Tiefe, steht ein Weib
und jauchzt in die Wolken und herzt einen Mann,
und schlingt ihre Arme um seinen Leib.

»Salve Jehova, brav gewettert,
hier stehen zwei und freuen sich baß
deiner Drommeten und Flammengarben,
rase weiter in deinem Wolkengelaß.

Wir sind sicher vor deinen Feuern,
heißer brennt unsre als ihre Glut,
wir sind sicher vor deinen Strömen,
höher schwillt unser drängendes Blut.
Salve Jehova!«

Die Güsse schweigen,
durch die Wälder geht leises Erzittern hin,
stockende Donner stottert das Echo,
die Wolken schauern und – entfliehen.

.   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .

Monde verstrichen, Jahre vergingen,
Sommer bräunten die Halden an ihren Feuern,
Winter küßten die Tannen, bis sie erblichen.

.   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .

Der Adler ätzte seine Brut,
buhlende Winde streuten Samen
in Felsensprünge, zwischen Geröll,
die Sonne brannte dazu ihr Amen.

Da schleicht inmitten des Festgejubels
ein Schatten über die Hochzeitsstätte,
ein Leichnam, der unbegraben ist,
der sehnt sich nach seinem letzten Bette.

Gierig blicken die Augen nach der Tiefe,
wo der Tod im Finstern sein Messer schleift,
befriedigt messen sie den gähnenden Abgrund,
da – zitternd die Hand nach dem Haupte greift.

Ein schroffer Felsen, der senkrecht fällt
ins leere Dunkel, türmt sich auf,
Edelweißwiesen träumen still,
Tannen raunen aus der Schlucht herauf.

Vor Jahren. Roter Himmel rings,
auf diesem Fels ein Mann, ein Weib,
er starb ihr jüngst, wer sagt warum?
Was suchet hier ihr müder Leib?

.   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   . 343

Auf schroffem Felsen, der senkrecht fällt
in die gähnende Tiefe, ruht die Sonne,
Tannen raunen aus der Schlucht herauf,
Die Tiere kosen in scheuer Wonne.

Es ist alles wie früher,   .   .   .   .   .   .   .   .   .
                                                                O Jehova!

Zur allerjüngsten Schar der Poetinnen gehörte auch Ricarda Huch, wie sie mit ihrem Geburtsnamen heißt, verehelichte Ceconi. Sie ist in Porto Alegre in Brasilien geboren am 10. Juli 1864. aber sie fühlt sich heimisch in der Schweiz, wo sie studiert und die Würde eines Dr. phil. erlangt hat. Eine Anzahl geschichtlicher Abhandlungen und Forschungen haben ihren Namen der Wissenschaft bekannt gemacht, und auch mit ihren Erzählungen versetzt sie sich gern in frühere Zeiten. Ihre frischen »Gedichte« (1891 und 1894) zeigen lebhafte Empfindung und Naturanschauung:

Hoch über meinem Vaterland . . .

Hoch über meinem Vaterland
auf einem Thron von Stein,
den Strauß von Enzian in der Hand,
sitz' ich im Sonnenschein.

Die Wolken wandern über mir
und unter mir dahin;
neugierig schaut das Murmeltier
und weiß nicht, wer ich bin.

Der Wind um meinen Scheitel zieht
und weht mir Kühlung zu,
o Land, so weit das Auge sieht,
ist nichts so schön wie du!

Und wenn die Sonne westwärts wich,
steig' ich zum Thal hinab
und bitte Gott um Heil für dich,
und hier für mich ein Grab.

Wenn drüber hin die Gemse springt,
und bei der Firne Schein
der Sturm das Lied der Freiheit singt,
dann zittert mein Gebein.

Eine große Reihe der Empfindungen von leidenschaftlicher Liebe bis zum realistischen Lebenshumor durchläuft Thekla Lingen (geb. zu Goldingen in Finland am 18. März 1866) in ihrer Sammlung »Am Scheidewege«. Als Humoristin zeigt sie sich in: 344

            Ganz wie bei uns.

Schusters Lotte, ein frühreifes Kind,
wie sie bei armen Leuten sind,
hatte in ihren dreizehn Jahren
bei Vater und Mutter viel Not erfahren
und so gelernt, daß um glücklich zu sein,
man Geld nur braucht – nur Geld allein.
So kam es denn, daß mit der Zeit
im jungen Herzen nagte der Neid,
und wuchs ein Haß ohnegleichen
gegen die Reichen.

Eines Abends im Dämmerschein
schlendert sie durch die Straßen allein,
im Viertel, wo die Reichen lebten,
die stets in ihren Träumen schwebten.
Oh, das war nun einmal schön,
die hellerleuchteten Fenster zu seh'n;
Mit Spitzen und roten Seidengardinen,
vom elektrischen Licht beschienen,
und seltene Blumen und Palmenbäume,
so recht wie Zaubermärchenträume!
Und gar unten, aus den Küchen,
da strömt es nur so von Wohlgerüchen
zu Lotten hinauf.
Und sie sperrte Mund und Nase auf.

Ach ja! Die hatten es alle gut –
und Lotten wurde neidisch zu Mut. –
Und still war es hier! –
Kein Rädergerassel und kein Geschrei;
und rollte einmal ein Wagen vorbei,
dann sauste er wie im Traume dahin, –
da saßen geputzte Damen drin
mit feinen Kindern – in Samt und Seiden,
– (die mochte sie nun gar nicht leiden) –
aber dafür die noblen Herr'n,
die hatte sie nun wieder gern,
in hohem Hut und geschniegeltem Haar,
und Lackstiefeln – fünfzig Mark das Paar,
das wußte sie ganz genau, – und alles!

Ach ja, das wär' ein Leben!
Was hätte Lotte nicht drum gegeben!
Und wehmütig schnuppert sie in die Luft
nach dem feinen Zigarrenduft,
und seufzte und dachte;
Schon das wäre schön,
die Herrlichkeiten einmal nahe zu sehn!
Im Nu hing sie am Gitterzaun,
um in die erleuchteten Fenster zu schau'n,
und guckte hinein; 345
War das aber fein!
Und reckte das Hälschen höher hinauf –
und plötzlich riß sie die Augen auf
und sah – und sah es ganz genau,
da stand eine weinende Frau,
und da – und da – nicht fern
einer von den noblen Herrn,
die Hand erhoben zu drohendem Schlag –
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –
Und Lotte vor Schreck auf dem Pflaster lag,
es schien ihr wie ein böser Traum,
und sie faßte es kaum,
was sie geseh'n,
und wie es da drinnen konnte gescheh'n.
Dann plötzlich rief sie erleichtert aus;
»Das ist ja ganz wie bei uns zu Haus!«

Mit ihren »Gedichten« machte Anna Ritter (geb. in Elbing am 23. Febr. 1865) großes Aufsehen. Eine starke dichterische Anschauung ist ihr eigen. So schildert sie folgende Vision:

        Auf dem Goetheweg zum Torfhause.

. . . . Tief liegt der Schnee. Die dunklen Tannen ragen
wie Riesen aus dem stillen Grund herauf,
von fernen Höhen kommt ein seltsam Schimmern,
und tausend winzige Kristalle flimmern
im blassen Schein der Wintersonne auf.
Da tönt ein Schritt . . . aus weiß verbrämten Bogen
trittst du hervor, der dunkle Mantel wallt
um deines Leibes blühende Gestalt,
du hast den Hut tief in die Stirn gezogen,
als wolltest du, ganz in dich selbst versenkt,
von keinem Bild der Erde abgelenkt,
hinuntersteigen in dein eignes Leben,
den Rätselschatz der Tiefe aufzuheben.
Gewölk steigt auf . . . in regellosen Massen
schiebt sich's empor . . . . ein fahles Dämmerlicht
verdrängt die Sonne, rauhe Winde fassen
den zähen Tann
mit wilden, kampferprobten Fäusten an,
daß dir der Schnee in großen, weißen Flocken
ins Antlitz stiebt. Du schreitest fest voran,
den Höhen zu, die dich verheißend locken.
Dein Auge leuchtet, deine Sinne lauschen
geheimen Stimmen, die kein Ohr erfuhr;
Im Wehn des Windes, in der Bäume Rauschen
spricht sie zu dir, die ewige Natur,
und was im Traume wechselvoller Stunden
sich dir entwand, dir unverständlich war,
den Urquell deiner Kraft, der frisch und klar
tief in dir rinnt – du hast ihn neu gefunden.

346 Einer älteren Generation entstammend kam Mia Holm (geb. zu Riga am 14. September 1845) auch erst in den letzten Jahren zu größerer Bekanntschaft. Ihre »Gedichte« erschienen 1882 zur Zeit, da die junge Litteraturrevolution begann, aber größeres Aufsehen erregten erst ihre Mutterlieder (1897) und ihre »Verse« (1899). Sie zeigt sich als geistreiche Versdichterin in den Zeilen:

                Auf falschem Wege.

Den Weg, den er mir wies, bin ich gegangen:
Auf Blumen trat ich, und sie wurden Schlangen.
Die Schlangen haben mich ins Herz gebissen
und meine Seele haben sie zerrissen. –
Da hob ich meine Augen auf zum Licht
und schaute Gott ins Strahlenangesicht,
und hilfeheischend streckte ich die Hände,
daß er, sich neigend, meine Qualen ende –
da ward der Strahlenglanz zu Blitzesschein,
und donnerrollend fuhr herab ein: Nein!
Ich aber ließ nicht ab mit Bitten, Flehn,
ich rang mit Gott, und endlich ist's geschehn:
Er neigte sich erbarmend zu mir nieder,
und selig wandle ich auf Blumen wieder.

 


 


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