Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Sechstes Buch.

Der Sturz des Naturalismus und das Wiedererwachen von Klang- und Schönheitssehnsucht.

Erstes Kapitel.

Der plötzliche Sieg der Romantik im Drama.

Selten war so lange vorher von einem Stücke gesprochen worden als von der neuesten Arbeit Wildenbruchs, von der man sich zugeflüstert hatte, daß es ein Bühnenmärchen von symbolischem Inhalte sei.

Es war eine vornehme Premièrenversammlung, die in der ersten Hälfte des Februar 1892 sich im Königlichen Opernhause einfand. Kaiser und Kaiserin mit glänzendem Gefolge erschienen in der mittleren Hofloge. Es war als sollte eine offizielle Schlacht geschlagen werden gegen die Weltanschauung des Pessimismus und zu gunsten des »heiligen Lachens«. – Im Wolkenhimmel zeigte sich die große Apotheke, und damit begann die symbolische Handlung des allegorischen Schauspiels.

Ja, so vollständig allegorisch war dieser Märchenschwank gebaut, daß es selbst einem Eingeweihten schwierig war, in diesem Gewirr von Abstraktionen sich auch nur notdürftig zurechtzufinden. Daß man unter dem großen Prinzipal der Apotheke ein Bild des großen Weltleiters zu verstehen habe, das läßt sich freilich leicht deuten; ebenso auch, daß unter den fleißigen Heinzelmännchen die Klasse der Arbeiter zu verstehen ist. Der gute Provisor Optimus weiß mit seiner blondlockigen Freundlichkeit unter allen die Harmonie zu erhalten, so lange, bis sein finsteres Widerspiel, der kohlpechrabenschwarze Pessimus, uns erscheint. Man fühlt sich hier deutlich erinnert an das allerdings weit bedeutungsvollere Erscheinen des Mephistopheles in Goethes Faust. Anders aber wird die Sache, wie die Wahrheit erscheint und gute Botschaft aus der Stadt Terra (die Erde) bringt, deren Bürgermeister Animus (der Geist) so eben sein Hochzeitsfest mit der Schönheit feiert. 274 Der große Prinzipal sendet dazu ein Hochzeitsgeschenk: den jungen freundlichen Knaben Lachegott, der von dem Storche Adebar auf dem Rücken heruntergetragen wird zur Stadt Terra. Auch der große Prinzipal verreist, um sich anderen Welten zuzuwenden, und diesen Augenblick benutzt der böse Pessimus, um mit der Lüge und der Häßlichkeit zusammen einen furchtbaren Gifttrank zu brauen. Unter den scheußlichsten Bestandteilen dieses Trunkes ist der scheußlichste, von dem sich selbst Pessimus voll Entsetzen wegkrümmt – die Feder eines Rezensenten, der an Herzenskälte gestorben ist. Mit diesem schauderhaften Trank vergiftet Pessimus zunächst alle Schätze der großen Apotheke, deren Schlüssel er dem gleichfalls vergifteten Optimus gestohlen hat. So werden nun zunächst die Boten, die Animus aus Terra gesendet hat, durch die verdorbenen Mixturen der Apotheke, von denen sie naschen, in wüste Zänker verwandelt. Dann zieht Pessimus selber in Terra ein und verdirbt mit seinem Zaubertrank sämtliche Gäste auf der Kindtaufe des Animus. Dann ergreift er selbst die Zügel der Regierung, verbannt die Wahrheit und die Schönheit und verlobt sich selbst mit der Häßlichkeit.

So weit – also etwa bis zur Mitte des fünften Bildes – ist die Allegorie zwar nicht sonderlich tief, aber durchsichtig und leicht zu verstehen. Es wird hier die Weltanschauung des Pessimismus als die Wurzel all des Uebels aufgefaßt, das die Menschen aus dem Zustand glücklicher Naivität unfreundlich aufrüttelt und ihnen den Glauben an das Gute und die Freude am Schönen nimmt. Von nun an aber verwirrt sich die Allegorie derartig, daß es beim besten Willen nicht mehr möglich ist, die Absichten des Dichters zu erraten. Das erste Verblüffende ist, daß Pessimus sich plötzlich in die Schönheit verliebt. Durch die »Nacht« vor seinen Nachstellungen behütet, flüchtet diese sich in eine Höhle mit ihrem Knäblein Lachegott und trifft dort den aus seiner Betäubung wieder erwachten Optimus. Und nun kommt das zweite noch weit verblüffendere: die beiden Vertreter des Guten erringen jetzt den Sieg durch Lug und Trug. Lachegott stiehlt vom Halse des Pessimus dessen Prinzipienkette. Was kann darin für ein Sinn liegen, daß die Prinzipien der pessimistischen Weltanschauung von der lachenden, reinen, naiven Kinderfreude – hinterlistig gestohlen werden? Noch unverständlicher wird die Sache dadurch, daß der gute Optimus mit dieser entwendeten Prinzipienkette unter dem Volke erscheint und sie als Indizienbeweis dafür braucht, daß Pessimus um die Schönheit gebuhlt hat. Die Menschen empören sich darüber so sehr, daß sie den Pessimus töten wollen, aber Lachegott rettet ihm das Leben. Pessimus wird jetzt nur für ewige Zeiten in eine große Flasche gesperrt, Optimus muß die Schlüssel der Apotheke an die Wahrheit abgeben, die Schönheit zieht wieder ein auf Erden, der große Prinzipal steigt vom Himmel hernieder, und die Menschen jubeln ihm entgegen.

Das Publikum im Theater jubelte aber nicht. Es war vielmehr arg enttäuscht. Ein sonniges Stück voll herrlichen Frohsinns und göttlichen Glückbewußtseins hatte es erwartet bei dem Titel »Das heilige Lachen«. Und nun hatte es nichts gesehen als eine unverständliche Allegorie, die trotz der prächtigen Umrahmung fast eben so viel Peinliches, Häßliches und Widerwärtiges gezeigt hatte, wie die 275 allernaturalistischsten Stücke. Die freundlichen Figuren des Optimus und des Lachegott waren ja nur selten auf der Szene erschienen, aber fast immerwährend herrschte auf der Bühne der kohlschwarze Pessimus mit seiner Teufelsfratze und seinem greulichen Gefolge von Häßlichkeit und Lüge. Die Szenen, wo der Trank gebraut wurde, die Raufereien unter den Boten des Animus und das gestörte Kindtauffest wirkten so abstoßend, wie nur möglich. Und wenn nun wenigstens zum Schluß irgend eine sieghafte Lichtgestalt all dies finstere Nachtgewürm überstrahlt hätte! Aber statt dessen diese sonderbare Art, wie der göttliche Sendbote Lachegott durch kleinliche List den plumpen Finsterling übertölpeln muß. Nein, das war kein heiliges Lachen, und wenn nicht die geniale Paula Conrad mit den Silbertönen ihres menschlichen Lachens diese Szene belebt hätte, – es wäre wenig Erfreuliches an dem Abend gewesen, abgesehen von der geradezu wunderbaren Ausstattung. Der matte Beifall des Publikums erlahmte bald, und die Ablehnenden behielten die Oberhand. Daß dies trotz alles äußeren Glanzes geschehen konnte, und daß die Vorstellungen wegen allzuschwachen Besuchs bald ganz aufhören mußten, das nahm man irrtümlicherweise als ein Zeichen dafür, daß das Publikum keine Freude mehr am Schönen auf der Bühne habe. Aber ganz im Gegenteil! Hätte Wildenbruch statt dieser ausgeklügelten kühlen Allegorie mit seinem alten Dichterfeuer ein schwungvolles Drama geschrieben – er hätte trotz alles herrschenden Schulnaturalismus sein Publikum begeistert. – Er hatte übrigens kurz zuvor einen seiner größten Bühnenerfolge mit dem dritten seiner Hohenzollerndramen, dem 276 »Neuen Herrn« errungen. War das zweite Stück des Cyklus »Der Generalfeldoberst« vom Kaiser verboten worden, so zeigte der Monarch dagegen das lebhafteste Interesse für dieses Schauspiel, das die Jugendzeit des großen Kurfürsten behandelt und Wirkungen von echt Wildenbruch'scher Bühnenkraft aufweist. Ein ganz zufälliges Zusammentreffen politischer Zeitereignisse mit diesem Drama Wildenbruchs ließ eine Zeit lang die irrige Meinung aufkommen, als habe der Dichter eine politische Tendenz in das Schauspiel hineinlegen wollen, während er nur den längst begonnenen Hohenzollern-Cyklus fortsetzen wollte.

Denn daß auch allen Schulmeinungen zum Trotz ein historisches Drama im alten freien Kunst-Stil mitten in jener Zeit des sozialen Naturalismus sein Publikum fand, das erfuhr auch ich kurze Zeit darauf mit meinem Erstlingsdrama »Die Königsbrüder«. Unfähig, meine eigenen künstlerischen Ueberzeugungen der herrschenden Mode zum Opfer zu bringen, und nicht gewillt, auf meine eigene Individualität zu gunsten der Nachahmung einer fremden Eigenart zu verzichten, hatte ich nach meiner Art geschrieben, und mein Drama, das Barnay bei Begründung seines Theaters angenommen hatte, lag nun bereits drei Jahre in seinem Büreau, und mitten in den Höhepunkt des Naturalismus platzte es hinein (5. März 1892). Es machte mir in den nächsten Tagen Vergnügen, zu lesen, wie die berufsmäßigen Kritiker der Schule erstaunten, daß ein Erfolg eines solchen Dramas denkbar sei. Da schrieb Otto Neumann-Hofer im Berliner Tageblatt (7. März 1892 Nr. 121):

»Noch einmal sei es konstatiert: das historische Versdrama eines Anfängers fand am Sonnabend Abend im »Berliner Theater« eine herzliche Aufnahme. Das war nicht etwa nur die hilfreiche Handleistung der wohlgefälligen Schar, die in diesem gut regierten Theater Gerechten und Ungerechten beispringt . . . . nein, das war das Publikum, das ganze Publikum! . . . . Seltsam, sehr seltsam! Das ist dasselbe Publikum, das geholfen hat, den Sieg des Wirklichkeitsdramas herbeizuführen, dasselbe Publikum, das sich selbst als ganz besonders modern, ganz besonders hauptstädtisch schätzt!«

Fritz Mauthner aber gestand im »Magazin« zu:61. Jahrg. Nr. 11, 12. III. 1892 Seite 175. »Darin hat das Publikum einmal recht, daß es sich keiner Schule unterwerfen will, sondern das Gute nimmt, wo es das Gute zu finden glaubt. Das ist ja die einzige Aehnlichkeit zwischen dem Publikum und Molière.« – Das historische Drama ist eben jeder Zeit recht, wenn es ein allgemein menschliches Problem behandelt, gerade weil es nicht in der verengenden Dunstatmosphäre der Gegenwart spielt, wo man das Alltägliche nicht vom Bedeutenden zu unterscheiden vermag, – sondern in der großen befreienden Perspektive der Vergangenheit, wo die Umrisse sich scharf voneinander abheben und alles in der hellen Beleuchtung des Typischen erscheint. Der Streit Ottos des Großen mit seinem Bruder Heinrich war mir keine trockene geschichtliche Thatsache, und an ihrer quellenmäßigen Erforschung lag mir sehr wenig. Sie war mir vielmehr bedeutungsvoll als die typische Wiederspiegelung zweier Brüder: dem 277 einen haben die guten Genien alles in die Wiege gelegt, was Körper und Geist des Menschen schmücken kann, und haben es ihm mit dem hohen Sehnen gepaart, der Ersten und Edelsten einer zu werden. Aber sie haben ihm Eins versagt, was in der rauhen, irdischen Welt allein zum wirklichen Einfluß führt: den klaren nüchternen Blick und die kalte Thatkraft. Und darum ist ihm bei allem Zauber seines Wesens Eins versagt, was doch dem Jüngling einzig die Krone für sein Streben zu sein scheint: der Erfolg. Ihm gegenüber steht der ältere Bruder da, wortarm und unkünstlerisch, aber klar, unbeugsam und zum Herrscher geboren. Er ist dazu fähig, das zu schaffen, was jener sich erträumt. Und den endlichen Ausgleich dieser beiden entgegengesetzten Naturen künstlerisch zu zeigen, war die Aufgabe dieses Schauspiels.

Nun zum mindesten war dies Drama eine Schwalbe, die den Sommer der Befreiung vom Naturalismus verkündete. – Nach der Sommerpause traten nun aber im selben Jahre gleichzeitig zwei Dramen ans Tageslicht, die mit einem Schlage einen Umschwung zur Romantik brachten. Mit großer Spannung war das Premièrenpublikum ins »Deutsche Theater« geeilt, um das neueste Schauspiel von Ludwig Fulda »Der Talisman« zu sehen. Kündigte doch der Titel schon an, daß der vielgewandte Autor wieder einmal eine Wandlung durchgemacht hatte. Ein Märchenschauspiel! Sollte man es für möglich halten! Das Märchen war doch verpönt und verboten. Es war ja »Lüge«. Es sollte ja nicht einmal mehr den Kindern aufgetischt werden. Und hier saß nun das ganze Theater voller Erwachsenen, die sich mit geradezu jauchzender Begeisterung ein Märchen vorspielen ließen. Ein altes Märchen! Ein uraltes Märchen! Bekanntlich sind die Märchenstoffe alle uralt und stammen meist aus dem alten Indien. Aber so weit die Spuren von Fuldas Märchenstoff zurückzuverfolgen, kann für uns hier kein Interesse haben. Die Form, in der die neue Welt den Stoff von Fuldas »Talisman« am genauesten kannte, war sicherlich des großen Dänen Andersen meisterliches Märchen »Des Kaisers neue Kleider«. In wie manchen Aeußerlichkeiten Fulda auch vom Gange der Handlung dieses Märchens abgewichen sein mag – der Grundzug ist derselbe: ein Kaiser läßt sich in seinem Cäsarenwahn einreden, es gäbe für ihn ein unsichtbares Gewand – unsichtbar wenigstens für jeden, der nicht reinen Herzens sei. Und da niemand für einen solchen gelten will, so behauptet jeder, daß er das Kleid sehen könne. Daß aber Fulda diese Idee nicht ersonnen, sondern schon vorgefunden hat, dafür trifft ihn gewiß kein Vorwurf. Er könnte sich dafür zur Entschuldigung auf das Beispiel des Größten aller Großen berufen – auf Shakespeare – der nie seine Stoffe selbst erfand. Soweit Fulda hinter diesem großen Vorbilde auch zurückstehen mag, – auch ihm war es diesmal wieder gelungen, sorgfältig und lückenlos den gegebenen Stoff auszugestalten. Da fehlt keine Figur, die typisch sein kann fürs Ganze. Groß steht der junge König im ersten Akte da in seinem Cäsarenwahn, der alles besser zu wissen glaubt, als der beschränkte Unterthan. Aus armseliger Hütte nimmt er einen heraus, um ihn in die Kleider des Hofs zu stecken – von seines Thrones Stufen verjagt er einen anderen, der ihm zu ehrlich ist. Und schließlich übernimmt der 278 Tausendkünstler Omar es, dem verblendeten Herrscher durch List die Augen zu öffnen. Er verspricht ihm als zauberhaften Talisman das Gewand, das kein Lügner zu sehen vermag, und zeigt dann ihm und dem Hofe nach scheinbar emsiger Arbeit einen Kleiderständer, auf dem – nichts hängt. Der König, der nicht als Lügner erscheinen will, muß, sowie sein ganzer Hof, zum Lügner werden: alle behaupten das Gewand zu sehen. Und der König trägt die Lüge hinaus auf die Straße, wo sich Volk an allen Ecken drängt, um des Königs neues herrliches Kleid zu bewundern, das in Wahrheit niemand sieht. Nur ein unschuldiges kleines Mädchen vermag nicht zu lügen und spricht die allverschwiegene Wahrheit aus: Der König hat nichts an! – Wie ein Funke ins Pulverfaß fliegt das zündende Wort in die heuchelnde Menge; plötzlich weiß jeder, daß der König im Hemd dasteht. Nur dieser selbst will es nicht zugeben – und doch friert ihn schon so, daß er nach einem Mantel verlangt: »Mich friert in meiner einsamen Größe.« Was hilft es ihm nun, daß er im letzten Akte gegen die »Staatsverbrecher« mit Schwert und Beil wüten will – vor der siegenden Macht der Wahrheit muß er sich dennoch beugen: er hat erfahren, daß er nicht heller sieht, als alle andern, und er beschließt auf Omars Eingebung von nun an sein Volk zu Rate zu ziehen vor seinen Entschlüssen.

Gewiß ist es keine abgrundtiefe Weisheit, die dieses Märchen offenbart, – gewiß sind auch keine besonders eigenartige Charaktere darin. Es sind alles bekannte Typen, auch der vielbelachte Habakuk: der arme Bürgersmann, dem das seine Leben bei Hofe mit seinem engbegrenzten Zeremoniell und seinen anstrengenden Vergnügungen nur als eine gräßliche Qual erscheint. Aber gleichviel: alle diese Typen – besonders auch derjenige der unschuldsvoll kleinen mutigen Rita – sind hier mit köstlicher Frische wieder neu geworden. Und über dem Ganzen spielt vor allem der Zauber einer wunderbar anmutigen Verssprache. Die ganze graziöse Schlagfertigkeit von Fuldas früheren Epigrammen ist hier wieder aufgelebt. Er hatte sich selber wiedergefunden.

Der stürmische Jubel, mit dem man in Berlin das Märchenschauspiel begrüßte, bewies so recht, wie man sich in den weitesten Kreisen des Volkes aus dem ewigen Grau in Grau der naturalistischen Trockenheit längst heraussehnte. Und nun geschah, was so oft geschieht: das Glück der Erlösung aus diesem Banne kam gleich in zwiefacher Gestalt. Im Königlichen Schauspielhause erstand ebenfalls ein Märchenspiel. Sonderbarerweise hatte der alte, achtundsechzigjährige Possendichter Emil Pohl (geb. 7. Juni 1824 in Königsberg i./Pr.) ein altes indisches Drama bearbeitet und zur Aufführung gebracht. Es war die »Mritschhakatikâ«, die seit alten Zeiten dem indischen Könige Çûdraka zugeschrieben wird. Aus dem zehnaktigen Stück hatte Pohl ein fünfaktiges gemacht, das nur die Leidensgeschichte der edlen Bajadere »Vasantasena«, ihres scheinbaren Mörders, des Prinzen, und des unschuldig verklagten Cârudatta behandelt. Grade im Gegensatz zum früheren brutalen Naturalismus wirkte die Szene, wo ein buddahistischer Bettelmönch Vasantasenas leises Stöhnen bemerkt und sie befreit: Da er als Buddah-Büßer ein weibliches Wesen auch nicht einmal bei der Hand fassen darf, so reicht er ihr den Zweig eines blühenden Strauches, um sie daran zu geleiten. Gerade die hohe poetische Keuschheit dieser Szene rief stürmischen Beifallsjubel beim Theaterpublikum hervor, das in den vorangegangenen Jahren durch die vielen Kraßheiten und Nuditäten auf der Bühne bis zum Ekel übersättigt worden war. Der einfache, hoheitsvolle Charakter des mutvoll edlen Dulders Cârudatta wirkte ebenso wohlthuend wie der versöhnliche Schluß, wo die lebend wieder erscheinende Vasantasena dem fälschlich Angeklagten die Freiheit und dem prinzlichen Wüstling die Entlarvung bringt, bis sie selbst vom König mit heiligem Schleier aus der Kaste der Bajaderen erhoben und zum ehrlichen Weibe geweiht wird. Daß dieses alte indische Dirnenmärchen so ganz in jedem Zuge das Gegenteil der modernen Dirnenstücke war, das gerade verhalf diesem Schauspiel zu weit über hundert Aufführungen. Seine langsam feierlichen Verse erklangen ebenso lange, wie die des leicht hüpfenden »Talisman«. Das Königliche Schauspielhaus war seit den Tagen der »Quitzows« wieder in den Wettkampf der bedeutenden Bühnen eingetreten, und nun wollte es weit seine Pforten der modernen Dichtung öffnen. Schon hörte man von einem biblischen Schauspiel, das Hermann Sudermann hierfür bearbeite, und im nächsten Winter schon (1893) erschien dort auch von Hauptmann eine Traumdichtung »Hannele« in zwei Teilen. Hauptmann hat hier die Frage, die ihn so lange gequält hatte, ganz von der naiven Seite aus erfaßt. Hatte er in seinem sozialen Jugenddrama eine leidende Jungfrau in den Mittelpunkt des Interesses gestellt – die in Wohlhabenheit arme, aus ihrer geistigen Dürre sich heraussehnende Helene, so greift er nun als Vertreterin des Armutjammers ein ungelehrtes, armes, verängstigtes, träumendes, sterbendes Kind heraus. Die ersten Auftritte führen uns lebendig in ein schäbiges, armseliges Armenhaus der schlesischen Berge ein. Mit derselben Deutlichkeit und Lebenswahrheit wie in den »Webern« sind die volkstümlichen Charaktere entworfen. Die Frauen und Männer, die hier ihre Bettelsäcke hereinschleppen und sich die armseligen Schätze ihrer Raub- oder Bettelgänge gegenseitig beneiden, stehlen oder schenken, sind dazu geeignet, daß uns »der Menschheit ganzer Jammer anfasse«. Mitten in diese Treibereien der Ausgestoßenen in ihrem traurigen Heim tritt der Lehrer Gottwald herein, der schöne milde Mann der Nächstenliebe, ein armes, nasses, todkrankes Kind auf dem Arm tragend, das »Hannele«, das eben in rasender Angst vor seinem Stiefvater in den Teich gesprungen ist, an der Stelle, wo er niemals zufriert. Ein braver, 280 barmherziger Waldarbeiter hat es herausgezogen; der Lehrer trägt es ins Armenhaus; der Amtsvorsteher, schneidig und büreaukratisch in seinem Auftreten, kommt herzu und versucht vergebens, es auszufragen. Wie er geht, murmelt man, er sei eigentlich des Kindes Vater. Er geht, um den Stiefvater verhaften zu lassen und um den Arzt zu senden. Der Arzt trifft seine Anordnungen und schickt seine Medikamente, die Diakonissin des Ortes erscheint und beginnt ihre sanftmütig geduldige Pflegearbeit. Hannele hat in wenigen Worten verraten, daß sie ihren Stiefvater maßlos fürchtet und ihn aus lauter Angst nicht einmal anzuklagen wagt; daß sie den guten Lehrer Gottwald abgöttisch verehrt, daß sie sich die frommen Lehren seines Unterrichts tief in ihr Herzchen eingeprägt hat, und daß sie sich sehnlichst wünscht, zu sterben und in den Himmel zu kommen, an den sie so heilig glaubt. Wie sie einschläft, erscheint ihr erst der Vater, vor dem sie in sinnloser Angst aus dem Bette entfliehen will, weil er sie an die Arbeit treibt. Dann, wie die Pflegerin sie mühsam wieder ins Bett gebracht hat, da erscheint ihr die gute Mutter, abgezehrt und geisterhaft, die lange verstorbene, heißgeliebte, und bringt ihr hoffnungsvolle Kunde aus dem Himmelreich. Hannele wird ärgerlich, daß die Pflegerin dies alles für Träume des fiebernden Mädchens hält, und schließlich geht diese auf die Traumwahrheiten ein und giebt vor, das Himmelsschlüsselchen in Hanneles Hand zu sehen, obwohl dies in Wahrheit nur in der Phantasie des armen Kindes existiert, das darin ein zurückgebliebenes Pfand der wieder entschwundenen Mutter sieht. Endlich träumt sich das Kind ganz in den Schlaf hinüber, und nun erscheinen ihm drei schöne Lichtengel. Diese beklagen sie, daß für sie die Flur keine Früchte und der Weinstock keine Reben getragen und das Leben keine Freuden gehabt hat, und verkünden ihr die Erlösung im Himmel. Unter ihrem Gesange senkt sich stimmungsvoll der Vorhang und schließt den ersten Teil.

Er ist in seiner Art vollendet, ein kleines, herzbewegendes Stück. Aber der zweite Akt weiß weder die Idee noch die Handlung weiter zu führen. Hier träumt das Kind, daß ihr der Todesengel zu sterben befiehlt. Schön gekleidet legt sie sich willig auf ihr Sterbelager. Bei der Annäherung des Todes träumt sie, die Diakonissin lege ihre heilige Hand schützend auf ihr Herz. So bleibt ihre Seele gerettet. Nun träumt sie sich tot. Der Lehrer Gottwald kommt mit seinen Schulkindern und zeigt sie diesen als ein heiliges Kind. Sie träumt, daß ihre Kameraden und Kameradinnen sie um Verzeihung bitten, weil sie das Hannele immer als die Lumpenprinzessin verspottet haben. Sie träumt, daß Lieder für ihr Begräbnis von der Jugend einstudiert werden und daß endlich der Lehrer einsam vor ihrem Lager niederkniet, um ihr seine immerewige Liebe noch im Tode zu bekennen. Dann erscheinen ihr neue Bilder. Die Einwohner des Ortes kommen, um sie in ihrer schönen Todeskleidung zu bewundern. Man munkelt davon, daß sie eine Heilige sei. Das wird zur Gewißheit, als schöne Jünglinge Schneewittchens gläsernen Sarg bringen, um Hannele dahinein zu betten. Nur der immer betrunkene Vater wagt noch, sie zu lästern. Da zeigt sich der Himmelsschlüssel wirklich in der Hand des toten Hannele und verbreitet strahlende Helle. »Ein 281 Wunder!« ruft die Menge, und der Vater rennt zitternd davon, um sich zu erhängen. Vorher hat ihm, demutsvoll gütig, Jesus selbst ins Gewissen geredet; denn der Heiland ist erschienen in der Gestalt des Lehrers Gottwald – so träumt Hannele. Er hat das Wunder gewirkt, er läßt jetzt die Tote auferstehen. Schreiend läuft die Menge davon. Jesus aber ruft seine Engelscharen, preist in nicht endenwollendem Farbenglanz die Wonne des Paradieses, und mit wohlig weichem »Eya Popeya« geleiten die Engel das auferstandene Hannele in den Himmel. Da verschwindet aller Glanz, die Bühne wird leer, nur der Arzt und die Diakonissin stehen am Bett des armen Hannele und konstatieren den Tod. Mitten in die Prosa zurückgerissen, sehen wir Trost und Seligkeit in das Nirgendwo des Traumlandes entschwinden.

So hat der zweite Teil uns nicht in eine neue Stimmung zu führen vermocht. Die hochgespannten Erwartungen, die der erste Teil erregte, blieben ungestillt. Das Ganze ist nichts als ein Fiebertraum – ohne höheres Interesse.

Zu der Aufführung aber war aus Paris Herr Antoine herübergekommen, eigentlich ein Gas-Ingenieur, der im Jahre 1887 in Paris das »Théâtre libre« begründet hatte, das später in Deutschland zum Vorbild der »Freien Bühne« geworden war. Natürlich hatte er die deutschen Nachahmungen seiner französischen Schöpfung mit reger Anteilnahme verfolgt. Als ein eifriger Anhänger des Naturalismus hatte er sich früh für Gerhart Hauptmann erwärmt und gewissermaßen das Ideal seiner Kunstanschauungen in Hauptmanns »Webern« verkörpert gesehen. Dies Stück war ja gleich bei seinem Erscheinen in Deutschland für die öffentliche 282 Aufführung verboten worden, was natürlich – wie es in solchem Falle immer zu ergehen pflegt – dem Drama nur zu einer ungeheuren Reklame gedient hatte. Die naturalistischen Heerführer hatten dafür gesorgt, die Umstände glücklich auszunutzen. In der »Freien Bühne« und der »Freien Volksbühne« wurde das Stück aufgeführt, im großen Saale der altehrwürdigen Singakademie wurde es von Schauspielern und Schauspielerinnen allerersten Ranges öffentlich vorgelesen. Es fanden sich Recitatoren, die damit von Stadt zu Stadt reisten. Das verbotene Drama eroberte sich die Vortragssäle. Wenn die Urheber des ungeschickten Verbots etwa die Absicht gehabt hätten, ganz Deutschland in fieberhafte Spannung für dies Stück zu versetzen und der Buchausgabe einen Massenabsatz zu verschaffen, so hätten sie diesen Zweck wirklich nicht besser erreichen können, als durch diese lächerliche Maßregel. Reiche Leute, die fünf Mark für einen Parkettplatz im »Deutschen Theater« zahlen konnten, durften das »aufrührerische« Stück nicht sehen – die sozialistischen Arbeiter aber genossen es für fünfzig Pfennig. Lesen konnte es jeder in der Leihbibliothek. Das Unsinnige dieser ganzen Verhältnisse wurde denn auch vom Gerichtshofe erkannt, bei dem Rechtsanwalt Grelling die Freigabe des Stückes zur Aufführung erkämpfte. Direktor L'Arronge verzichtete aber freiwillig auf die Aufführung, denn er war direktionsmüde und hatte sein »Deutsches Theater« schon für das nächste Jahr an den Naturalisten Dr. Otto Brahm verpachtet. Diesem überließ er nun auch die »Weber«. Herr Antoine aber erwarb das Stück für Paris und zwar für sein Théâtre libre. Das war nun fast ein politisches Ereignis von internationaler Bedeutung. Denn der Groll der Franzosen gegen das siegreiche Deutschland war seit 1870 kaum geringer geworden und hatte sich lächerlicherweise auch auf die Kunst erstreckt. Nun ward Hauptmann der erste deutsche Autor, der in Paris aufgeführt wurde. Auch hier war die Spannung auf den Siedegrad gestiegen. Depeschen berichteten den deutschen Zeitungen von dem guten Gelingen der Generalprobe und dem großen Erfolge bei der Aufführung. Und als gar Emile Zola sich anerkennend aussprach und den jungen Poeten zu weiterem Schaffen ermutigte, da verstummte der Widerspruch bei den »tonangebenden« Kreisen in Deutschland, die den wirklichen Wert des Stückes nicht erkannt hatten, aber vor einem Lob aus Frankreich ehrerbietigst in die Knie sanken.

Und Herrn Antoine zu Ehren wurde natürlich ein Festmahl veranstaltet, und bei demselben hielt zu allgemeinem Erstaunen Friedrich Spielhagen die Weiherede, – derselbe Spielhagen, der unlängst in seinem »neuen Pharao« der jüngstdeutschen Richtung das Lebensrecht abgesprochen hatte. Vor Hauptmanns »Hannele« streckte er die Waffen.

 


 


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