Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Siebentes Kapitel.

Die neue lyrische Hochflut.

Während so das Drama von Tag zu Tage lyrischer wurde, regte sich auch mehr und mehr wieder die Neigung für das Lied. Ja die am stiefmütterlichsten behandelte Dichtungsgattung trat jetzt deutlich in den Vordergrund des litterarischen Interesses.

So war es recht bezeichnend, daß dasselbe Jahr, das mit dem Talisman und Vasantasena die Freude am Wohllaut auf der Bühne wieder zum Siege brachte – auch eine neue Zusammenscharung der Lyriker herbeiführte. Im Jahre 1892 erschien nämlich eine Sammlung »Deutsche Lyrik von 1891«. Die Herausgeber waren: Julius Schultz, der sich immer noch C. G. Bruno nannte und unter diesem Pseudonym ein zweites Drama: »Pinsel und Kutte« veröffentlicht hatte; ferner Franz Servaes, der auch mit zwei Schauspielen »Heimkehr« und »Stickluft« hervorgetreten war, und Montanus. Sie hatten jeden zur Mitarbeit aufgefordert, dem in diesem Jahr »ein Lied gelungen« war. Eine ähnliche Sammlung hatte in München Bierbaum gelegentlich eines Sommerfestes der Gesellschaft für modernes Leben herausgegeben (1891), und nun ließ (1893) dieser auch seinen ersten modernen »Musenalmanach« in die Welt hinausgehen.

Die Modernsten hatten einst mit der Kriegserklärung an die Goldschnittlyrik auch der äußeren schönen Form der Liederbände die Fehde angesagt. Auch das verkehrte sich wieder in sein Gegenteil. Bierbaum brachte als Kunstenthusiast überhaupt eine dekorative Neigung mit und schmückte gern den Einband und die Druckseiten. Obendrein sollte ja sein Musenalmanach nicht bloß der Dichtung dienen: nein, auch die Malerei berücksichtigte er, indem er Nachbildungen von Gemälden moderner Künstler einfügte, und obendrein schmückte er die beiden Bände seines Musenalmanachs (1893/94) auch mit den Bildnissen moderner Dichter und Maler. Sollten nun zwar alle Dichtungsgattungen hier berücksichtigt werden – erschien doch unter anderen der erste Akt von Halbes »Jugend« im ersten Jahrgang – so fiel doch der Lyrik der Löwenanteil zu.

Bierbaums Lyrik selbst ist schon in seinen »Erlebten Gedichten« (Berlin 1892) weich und musikalisch. Stimmung ist ihm alles, und diese hält sich gleich 325 fern von erkünsteltem Weltschmerz wie von tobender Ausgelassenheit. Aber ihr Grundcharakter ist romantisch, und sie zerfließt oft in ihrer Weichheit. Zwischen Prosa und Vers giebt es für Bierbaum keine Grenze der Form. Ein Gedicht nennt er z. B.

Traum im Walde.

Ein lichter, grüner Schleier über mir, und um mich her ein lichter grüner Schleier . . . Es singt und klingt aus weiter, weiter Ferne Musik, vergehend, weich . . . Durch die Maschen des Schleiers flirrt und blinkt ein goldiger Schein. Der malt sich in Kringeln, in tanzenden, huschenden, bebenden Tupfen hell aufs dunkelgrüne Moos. –

Was singt das ferne, ferne Lied . . .? Lauschen will ich . . . Holde, weiche Frauenstimme, leise, leise . . . Wiegenliedsang . . . Schlage die Augen auf, glückliches Kind; siehe, liebreich schimmern zwei gütige Sterne der wachenden Liebe hernieder, schlafe, schlafe, du glückliches Kind, umsungen vom Liede der Mutterliebe . . . Wehend teilt sich der grüne Schleier; wie eine Wolke umhüllt er ein Weib. Das naht mit schwebend langsamem Schritt. – Bist du das Glück, Weib, bist du die Liebe? . . . Selige Milde strömt aus den blauen, himmlisch gütigen Augen mir lösend ins Herz . . . Bist du die Liebe, Weib? . . . Wie es klingt und duftet . . . Was hebt mich empor? Ein Quillen und Schwellen in mir; süßes Singen, ferne, nahe; Geigen schwirren, lang aussäuselnd, Blüten schaukeln herab durch warme, wogende Düfte, – ah, der Atem der Frau mir nahe. Ihre Blicke strömen wie heiße Fluten glühend mir ins Herz, – ein Kuß auf meinen bebenden Lippen . . . Bist du die Liebe, Weib?

Da klingt's wie Wiegenliedsang so weich, beruhigend, seliger Wehmut voll von den Lippen der Frau; »Vergehe im Traum, schlaf ein im Tod, unruhiges Kind; schlafe, schlafe, mein Kind, im Tod, siehe, die Liebe lebt!« –

Aber mit solcher Weichheit verträgt sich bei Bierbaum oft eine gewisse Munterkeit, die mit wohlthuender Lebenslust erfüllt, so etwa in

            Genesung.

Lange lag ich krank im Haus
unter dicken Decken,
heut zum erstenmal hinaus
darf den Kopf ich stecken.

Vor dem Fenster Wipfelgrün,
ach, wie ist das helle,
und es treibt mich frühlingskühn
bis zu Thor und Schwelle.

Fliegt mein Blick sehnsüchtig weit
über Blühewonnen,
ist Gedenken zager Zeit
wie ein Dunst zerronnen.

In mein Auge schwillt ein Schein
himmelheller Reine;
Leben! Leben! Bist du mein?
Und ich weine, weine . . .

Etwas Weibliches – nicht im üblen Sinne – liegt in all dieser Duft- und Hauch-Poesie.

So konnte es nicht sonderlich wundernehmen, daß er seine zweite Gedichtsammlung betitelte: »Nemt Frouwe diesen Krantz«. Freilich – die Geziertheit dieses Titels und die Gesuchtheit seiner Ausstattung entsprechen einer gewissen Manier, die sich bei Bierbaum allmählich kundzugeben anfängt. Seine Natur muß ihn ins Mittelalter zurückführen, und daher hat er auch mit seinem weichen, handlungsarmen Märchentext »Lobetanz« eine gute Unterlage für romantische Musik geschaffen.

326 Weit bedeutender ist Gustav Falke (geb. 11. Jan. 1853 in Lübeck). In vollen Tönen weiß er die Sprache zu beherrschen, und durch die Reihe seiner Gedichte geht ein starkes Streben nach aufwärts. Nach der vorausgegangenen Sammlung »Mynher« erreichte er seinen ersten Höhepunkt in »Tanz und Andacht«, um später mit »Zwischen zwei Nächten« (1894), »Neue Fahrt« (1897) und »Mit dem Leben« (1899) sich fortzuentwickeln. Als eine Probe seiner vollsaftigen, bilderreichen Sprache gelte das Gedicht:

                  Das Herz.

Aus grünem Waldesdämmerdunkel
tret' plötzlich ich in helles Licht,
da grüßt aus goldnem Glanzgefunkel
mich ein entzückendes Gesicht;
Ein Marmorhaus in lauter Rosen,
ein Säulenrund, wo Schaft und Schaft
verstrickt in eines seichten losen
Gerankes holder Liebeshaft.

Und in der stillen Tempelgrotte
hebt sich ein schlankes Postament,
darauf sternblank dem Liebesgotte
ein Erzbild in der Sonne brennt.
Den Pfeil auf dem erhobenen Bogen,
darüber er sein Ziel eräugt,
steht er, die Sehne straff gezogen
zum Schuß, ein wenig vorgebeugt.

Und vorn an des Geschosses Spitze,
wie man den Heiligen Opfer bringt,
an einer schlichten, wollenen Litze
ein wächsern Herz im Winde schwingt.
Das zeigt von warmen Fingermalen
im weichen Wachs ein Konterfei
und eine Spur, als ob in Qualen
ein Weinen drauf gefallen sei.

Und eine abgepflückte Rose,
wie ein verlornes Liebespfand,
liegt da, und Stapfen rings im Mose
und weiterhin im glühenden Sand.
Die tauchen in die Buchenschatten
und finden ungesehn nach Haus,
und niemals plaudern diese Matten
das zärtliche Geheimnis aus. 327

Und einsam in des Mittags Gluten
am Pfeil des Gottes schmilzt das Herz,
und tropft, ein langsames Verbluten,
in roten Thränen niederwärts,
und tropft in roten, heißen Thränen
auf weißen Marmors kalt Geleucht,
von ungestillter Liebe Sehnen
ein rührend Gleichnis, wie mir deucht.

Eine Poesie der kräftigen Gesundheit vertritt auch Max Hoffmann (geb. in Berlin am 27. Nov. 1858), der seinen »Irdischen Liedern« (1891) »Die Morgenstimmen« (München 1893) folgen ließ. Kräftige, phantasievolle Anschauung der Natur spricht namentlich aus den Strophen:

            Dem Morgen entgegen.

Erwacht ist die Welt, mit Goldpfeilen schoß
    die Sonne vom Himmel die Sterne,
ihr Scharlachblut in die Wolken floß,
    mit Purpur malend die Ferne;
ein Jauchzen wirbelt von Tiefen und Höh'n
    auf allen Straßen und Stegen,
das ist ein wunderbares Getön
    dem schimmernden Morgen entgegen.

Auf silbernem Kahn durchsteuert die Luft
    das Licht, der himmlische Ferge,
es schmiegt sich ein zartes Gewand von Duft
    als Morgenkleid um die Berge,
die Wälder wiegen die Kronen sacht
    im niederflutenden Segen,
und selbst der grämliche Friedhof lacht
    dem schimmernden Morgen entgegen.

Vom sozialen Kampfherold zum Dichter seines eigenen Herzens wandelte sich um dieselbe Zeit Reinhold Maurice von Stern. In dem Gedichte »Arbeiterweltfeiertag« nimmt er von den einstigen Parteigenossen Abschied als einer, der sie noch liebt, aber nicht mehr ihr Vorkämpfer sein will. »Mattgold« nennt er die Sammlung, die auch dieses Lied bringt. Wundervoll paßt der Name auf die Stimmung des folgenden Gedichtes: 328

                  Liebesfrühling.

Die Sonne lacht; der Brunnen plaudert leise
sein stillvertrautes, ew'ges Frühlingslied;
im Abendglanze tönt die fromme Weise
wie fernes Echo, das von hinnen flieht.
O Jugendbild! Des Kätzleins sanftes Schnurren
mischt sich ins Lied der Quelle wie ein Traum,
vom Heimatdache tönt der Tauben Gurren,
und Blüten streut der duftverschneite Baum.

Da naht sie schon auf flinken, flücht'gen Sohlen
die süße Zaubrin aus dem Jugendland;
wie Sonnenschein, so lächelt sie verstohlen
und schürt im Herzen längst erloschenen Brand.
Da schnäbeln sich zwei Stare in den Zweigen,
das Nestlein steht im Blütenschnee bereit –
Ein Kuß, ein Druck, ein süßbeklommenes Schweigen;
            O Liebesfrühling, holde Jugendzeit!

Im Dämmerlichte gleitet stilles Staunen,
und Schatten fliehen vor dem lichten Traum;
ein Kleidchen rauscht, und heiße Lippen raunen –
In Blüten schwand der Jugend heller Saum.
Der Kirschbaum blüht, der Brunnen plätschert ferne,
es streift die Stirn leis wie ein Blütenkranz.
Und schwand der Tag, die Nacht hat ihre Sterne–
Ein kurzes Glühen, und ein ew'ger Glanz! –

Ein religiöser Zug macht sich bei ihm geltend und ebenso bei seinem Landsmann, dem tief empfindenden Jeannot Emil Frhr. von Grotthuß (geb. 24. März 1865 zu Riga), dem fleißigen Sammler des »Baltischen Dichterbuchs«.

    Gottsuchers Frühlingslied.

Es spielt der Lenz die alte Weise,
die alle Erdenwunden heilt;
er hat auch mich auf meiner Reise,
den müden Wanderer, ereilt.

Er stößt mit übermächt'gem: »Werde!«
des Blitzes Speer am Wolkenschaft
tief in die Brust der harten Erde
und löst sie aus des Winters Haft.

Sie schlägt in weicher Lüfte Kosen
die blauen Veilchenaugen auf,
es perlt ihr Blut in roten Rosen
aufs grüne Kleid in tollem Lauf.

Befreiend stürzen ihre Thränen
in tausend Flüssen in das Thal –
O wollustvolles Frühlingssehnen!
O schöne, wilde Frühlingsqual!

Hier kann ich erst mein Ich begreifen,
den Widerspruch, aus dem ich bin,
den Drang zu unbegrenztem Schweifen
und meiner Qualen tiefen Sinn.

Mir ist's, als hört' ich's fragen leise,
als ob Natur, die Göttin, spricht:
»Entfremdet Kind, wohin die Reise?
Erkennst du deine Mutter nicht?«

Zum eigentlichen Vertreter der mystisch-religiösen Lyrik aber wurde Franz Evers (geb. zu Winsen a./Luhe am 10. Juli 1871), der mit seiner »Symphonie« (1891) und seinen »Fundamenten« (1892) begann, um dann in seinen »Sprüchen 329 aus der Höhe« und seinen »Psalmen« (1893) die geheimnisvolle Weltanschauung der Theosophie in Verse zu fassen. Eine Probe seiner weichen Sehnsuchtsstimmung gebe:

      Das Traumland.

In weichem Lilapurpur
liegt fern ein Traumesland;
Blaudunkel glühn die Wellen,
und golden ist der Strand.

Cypressenwälder wiegen
im Wind ihr Nadellaub,
und in den Lüften liegen
Maiglück und Sonnenstaub.

Die himmelhohen Kuppeln
der ewigen Berge schau'n
im Scharlachschnee der Frühe
hin auf die goldnen Gau'n.

Das Glück, das Glück umschmiegt uns,
wir sind vom Schmerz befreit –
und unsre Seele wiegt uns
in blaue Ewigkeit . . .

Als ein echter Romantiker, aber ein jugendlich gesunder, sandte auch Carl Busse (geb. 12. Nov. 1872 zu Lindenstadt-Birnbaum in Posen) seine »Gedichte« (1892) und »Neue Gedichte« (1895) in die Welt hinaus.

            Das Kätzchen.

Kam ein Kätzchen angesprungen
so den Wiesenrain entlang,
hört es einen kecken jungen
schmetterndhellen Lustgesang.
Und das Kätzchen schlich zur Seite
über Stock und über Stein,
suchte schleunigst dann das Weite
links vom grünen Wiesenrain.

Kam ein Mädchen angegangen
ganz genau denselben Steg;
braunes Haar, verbrannte Wangen,
trat der Bursch ihr in den Weg.
Fanden bald ein heimlich Plätzchen
O du wunderschöner Mai! –
Ja, das Mädel war kein Kätzchen,
deshalb kam es nicht vorbei.

Fast alle diese jüngsten und neuesten Lyriker bezogen sich in irgend einer Weise, persönlich oder dichterisch auf Detlev von Liliencron, obgleich sie alle sich sehr von dessen einstiger Urkraft unterschieden; aber auch er verweichlichte zusehens. Er wurde immer wahlloser in seinen Stoffen, begann sein großes Talent in jeden Regentümpel der Alltäglichkeit zu werfen und wurde – gleich als hätte ihn Tovote ins Schlepptau genommen – von Tag zu Tag mehr zum Verherrlicher auch der unbedeutendsten Sinnlichkeit. Deutlich läßt sich eine zweite Periode in Liliencrons Schaffen abgrenzen mit dem Erscheinen seines »Poggfred, kunterbuntes Epos in zwölf Cantussen«. 330

»Dies ist ein Epos mit und ohne Held,
ihr könnt's von vorne lesen und von hinten,
auch aus der Mitte, wenn es euch gefällt.
Ja, wo ihr wollt, ich mache nirgends Finten,
klaubt euch ein Verslein aus der Strophenwelt!
So sucht ein Kind im Kuchen nach Korinthen.
      Ob sie euch schmecken, kümmert mich fürwahr nicht;
      so lest denn mit Geduld! Meintwegen garnicht. –

Zwar wähl' ich mir ein fremdländisch Gewand;
Ich greife zu Ottaven und Terzinen.
Doch werd' ich dich, mein deutsches Vaterland,
deshalb nicht weniger adrett bedienen.
Die Stanze ist mir nur der Zellenstand,
den Honig bringen meine heimischen Bienen.
      Und der Terzinen Sancta Trinitas
      dämmt die Gedankenflut ins rechte Maß.

Was thu' ich nun hinein in die Behälter?
Erinn'rung? Traum? Erlebnis? Phantasie?
Ich habe Angst, mein Blut wird täglich kälter,
zum Teufel geht allmählich der Esprit.
Zusammen schab' ich drum, eh immer älter,
die schäbigen Reste meiner Poesie.
      Denn vor mir, eine greuliche Pagode,
      Hockt steif des Dichters »zweite Periode«.

Sie hockte allerdings vor ihm. Und wenn er hier »kunterbunt seine Quellen versprudelt«, so ist diese Kunterbuntheit weniger ein Beweis von Kraft, als ein Zeichen vom Beginn einer gewissen Ziellosigkeit. Wir haben den Eindruck eines Mannes, der auf seinem Gute Poggfred (Froschfrieden) im Gefühl herannahenden Alters sitzt und planlos in den reichen Erinnerungen seiner Jugend wühlt. Baum und Strauch in seiner Besitzung rufen ihm die wunderbarsten Gestalten aus dem Innern seiner Seele wach. Das ferne Rauschen der Nordsee läßt ihm die sagenhaften Drachenschiffe der Wikinger auftauchen, und wie er mit umgehangener Jagdbüchse über eine Lichtung streicht, sieht er einen Zirkusklown, nach dessen Pfeife Cäsar und Hannibal, Napoleon und Friedrich der Große tanzen müssen. Einst stöbert sein Jagdhund Diana einen geflügelten Bewohner des Mars auf. Ein ander Mal begleitet der weiter träumende Dichter einen seiner phantastischen Ahnen auf der Reise durchs Weltall, und wieder ein anderes Mal ist es ihm, als wäre in seinem Parke Jesus ans Kreuz geschlagen und er helfe den Heiligen festnageln, um nachher, gleich anderen, von Reue ergriffen zu stehn. Und so weiter steigt vor der Phantasie des Dichters in planlos bunter Mannigfaltigkeit auf: was er gelesen, gedacht und geträumt – und was er erlebt hat. Dies freilich sind nur Liebesabenteuer von zweideutiger Natur – Abenteuer, die Tovote erfunden haben könnte, damit Liliencron seine wunderbare Sprachmeisterschaft darauf verschwende! Ja, seine rhythmische und reimende Sprachmeisterschaft ist hier auf der Höhe. Durch dick und dünn reimt er sich hindurch mit Ottaverimen und Terzinen, und ein je größerer Widerspruch zwischen dieser feierlichen Form und dem alltäglichen 331 Gegenstande klafft, desto freudiger lacht der Dichter über die unerschöpfliche Fülle seiner scherzhaften Wendungen, neckischen Tollheiten und abenteuerlich-liebenswürdigen Reime, für die er die Schatzkammern aller Umgangssprachen Europas und die Fundgruben der deutschen Dialekte plündert. Dabei kommt es zu großen Schilderungen, wie der einem farbigen Gemälde gleichenden Ausmalung des Zusammenpralls zwischen seinen feurigen Hengsten und den Trakehnern einer aufgeblasenen Geheimrätin.

Und gleich darauf kichert wieder die Satire aus der Beschreibung eines Hamburger Salons mit gezierten Musikern und Dichtern. Aber wie ausgelassen lebenslustig dieser Poggfred-Sänger auch zu sein scheint, er scheint es doch nur. Denn all seine Liebesabenteuer enden in Wehmut. Von dem poetisch Schönsten von der sanften »Fite«, die aus Eifersucht zur Mörderin der schönen Hamburger Griechin wird, bis zu dem als Pagen verkleideten jungen Mädchen, das in einer Schiffer-Taverne einer Rauferei zum Opfer fällt – überall breitet sich der ahnungsvolle Schatten des Todes über die künstlich erhitzte Lebensfreude. Ja, künstlich – denn wie der leichtherzige Plauderton dieser kunstvollen Verse, so ist auch die scheinbare Leichtherzigkeit des Verfassers nur mühsam erkünstelt in diesem wehmutsvollen, tollen »Kunterbunt«, das keine jugendstarke Hand mehr zum geschlossenen Kunstwerk zu adeln vermochte. – Zwei Jahre später gab Liliencron eine zweibändige Sammlung seiner bisherigen Dichtungen heraus unter dem Titel »Kampf und Spiele« und »Kämpfe und Ziele«. Aber in allem, was der neuesten Epoche angehört, zeigt sich ein zielloses Experimentieren, ein sichtbares Erschlaffen der Selbstkritik, ein unaufhaltsames Sinken der einst so starken Begabung, die in platter Sinnlichkeit zu versimpeln droht. – Möchte, üblen Vermutungen zum Trotz, dem Dichter ein baldiges Wiederaufsteigen zu den lichten Höhen seiner jungen Mannestage beschieden sein!

Eine ganze Anzahl Motti, die in dieses kunterbunte Epos eingestreut sind, tragen den Namen Richard Dehmel (geb. in Wendisch-Hermsdorf am 18. Nov. 1863). Nachdem er eine Zeitlang für das Versicherungswesen litterarisch thätig gewesen war, ging er von dieser nüchternen Wissenschaft zur Poesie über. Mit einem Prolog zur Eröffnung der Freien Volksbühne und mit einem Huldigungsgedicht auf Robert Koch, den Bacillen-Entdecker, hatte er sich im Sturmjahr 1890 332 eingeführt, und im folgenden Jahre erschien seine erste Gedichtsammlung »Erlösungen« (Stuttgart 1891). Der Untertitel »Eine Seelenwandlung in Gedichten, Sprüchen« deutet an, daß er hier seine innere Entwickelung in Versen niedergelegt hat, und den Gang derselben offenbart die Einteilung in drei Stufen: Ringen und Trachten, Liebe, Leben und Arbeit. So mischen sich denn also Stimmungsbilder mit philosophischen Grübeleien. Erstere sind ohne sonderliche Eigenart, die philosophischen Erörterungen ohne Klarheit. Grade dies Beides unterscheidet ihn von seinem Meister Liliencron. Bei diesem ist alles Anschauung, bei Dehmel alles Abstraktion. Singt uns Liliencron allzuviel vor von seinen süßen Sünden, so thut er es wenigstens im Feuerton der Leidenschaft. – Dehmel verlangt vollkommen freie Bahn für seine Leidenschaften, aber wir fühlen nichts von diesen. Ist es wirklich viel mehr als gereimte Prosa, wenn Dehmel da einen Fehdebrief dichtet:

»Ich hasse dieses Mittelstraßenleben,
ich will nicht eure wohlgemeinten Reden,
ich passe nicht in euer Alltagsstreben,
ich will das Glück nicht, das da feil für jeden!

Ich habe eine Welt in meinen Sinnen,
die ihr nicht ahnt mit euren Biedergeistern!
Drum lasset das Bedauern, laßt das Meistern –
ich fühl's. ich werde einst die Schlacht gewinnen!

Diese »Welt in seinen Sinnen« aber erscheint in späteren Sammlungen nun im Gegensatz zu jener Trockenheit in einem wahren Schwelgen im Unverständlichen.

Als eine Probe, wie weit das Streben nach dämmerhaft malendem Wortgeklingel verführen kann, mögen hier die ersten Verse eines Gedichts stehen, das den Titel trägt: »Der tote Ton«. (Aus »Aber die Liebe«.)

Ton von Glocken. Drohn von Glocken. Wo nur? Weh, ich falle!
Wohin wollten doch die stummen, grauen Mönche alle? –
Um mein dunkles Gitter seh ich Nachtgespenster jagen,
und da vor mir, nur zwei Schritte, rollt ein schwarzer Wagen.
Ringsum glimmt die Luft von Kreuzen, und die Fackeln bluten,
und man führt mich an den Armen – ach, dies weiche Fluten!
Von alleine gehen meine qualgelähmten Beine,
ach so schön geführt; ich kenne keine Straße, keine;
gehe flutend wie im Traume, ohne Sinn und Willen,
nur im Kopfe, nur im Herzen fühl' ich etwas wühlen.
Etwas prüft da seine Krallen, scharfe, krumme Krallen,
und die Raben klagen drüben, und die Glocken hallen.
Ach ich höre ferne Chöre – ei so lieb, so liebe;
nur in meinen Augen brennt was, o so trüb, so trübe.
Und es rieselt etwas Kaltes über meine Mienen,
alle Menschen stieren her, und – keiner naht von ihnen;
und es rieselt etwas Kaltes über meine Haut da.
Und vier Rappen ziehn den Wagen, trauerflorumflossen,
aber mich zieht eine Hand, die hält mich starr umschlossen.
Großer Gott, der Sarg, der Sarg da – kommt wohl auf mich los da?!
Da im Sarge, ja im Sarge liegt mein Daseinslos – ja . . .

333 Ist das schon zweifellos krankhafte Poesie – wenn auch unbewußt – so stellt den Gipfelpunkt des bewußt Krankhaften Felix Dörmann dar (geb. in Wien 1870) mit seinen »Neurotika« und »Sensationen« (1892, 1890).

Sagt er doch selbst von sich:

»Ich liebe, was niemand erlesen,
was keinem zu lieben gelang;
Mein eignes, urinnerstes Wesen
und alles, was seltsam und krank.« –

Sehr nahe verwandt ist ihm der allzu jugendlich-lebensmüde Richard Schaukal mit seinen Tristia. Dagegen Oskar Linke stellte sich mit mehreren neuen Bänden gesunder Lyrik ein, wie »Als die Rosen blühten« (1891) und »Schlummere, Schwert, unter Myrten«.

Alles wurde jetzt von der lyrischen Hochflut ergriffen. Bruno Wille, der Politiker a. D., der mit einer ganzen Gruppe jüngerer Schriftsteller in Friedrichshagen bei Berlin lebte, atheistische Weltanschauung popularisierte und seine erzieherischen und sozialen Ansichten in ein System der »Philosophie des reinen Mittels« zu bringen suchte – er erschien als Lyriker mit den beiden Bänden »Einsiedler und Genosse« (1891) und »Einsiedelkunst aus der Kiefernhaide« (1897). Otto Erich Hartleben nannte seine Liedersammlung »Meine Verse« (1895). Daneben setzten die Lyriker von früher unermüdlich ihre Arbeit fort. Franz Held, der seinen Dramen durch eine eigens gegründete »Fresco-Bühne« vergeblich Ansehen zu verschaffen gesucht hatte, erschöpfte sich in neuen lyrischen Bänden. »Trotz alledem« nannte er seine neuesten Lieder, die ein bedenkliches Sinken zeigen, und »Tanhuserus redivivus« taufte er eine Sammlung epischer Dichtungen, die bei weitem nicht mehr an seine »Gorgonenhäupter« heranreichen. Die Fülle von Wilhelm Arent's Liederbänden auch nur aufzuzählen wäre ein vergebliches Bemühen, denn sein weiches schwaches Talent ging in der Masse unter. Cäsar Flaischlen war nur glücklich, wo er seine schwäbische Tonart anschlug. Lienhard vertrat in seinen »Liedern eines Elsässers« (1895) 334 den patriotischen Standpunkt, nachdem ihm vier Jahre zuvor darin Christian Schmidt (geb. zu Geuderthein am 28. März 1865) vorausgegangen war mit seinen »Alsaliedern« (1891). Georg Schaumberg sammelte seine Dichtungen unter dem Titel »Dies irae«, und Wilhelm Weigand (geb. Gissighain 1862), der in seinen »Rügeliedern« (1892) kraftvoll donnerte, fand die Stimmung männlicher Ruhe in seinen Gedichten »Sommer« (1894). Der Wiener Friedrich Adler gab zwei reife Sammlungen »Gedichte« heraus und errang einen großen Bühnensieg mit »Zwei Eisen im Feuer« nach Calderon. – Auch Jacobowski reifte lyrisch mehr und mehr in »Aus Tag und Traum« (1895) und »Leuchtende Tage« (1900). – Hugo Kegel, der einst so kraftvoll mit seinen Liedern »Gegen den Strom« begonnen hatte vor dem allgemeinen Sturm, faßte noch einmal schwermütig sein letztes lyrisches Können zusammen in »Verlorenes Leben« (Dresden 1895). Bald darauf erlöste ihn der Tod. – »Welt und Seele« nannte Hugo Grothe seine Dichtungen (Dresden, Leipzig 1892). »Lieder des Lebens« taufte Theodor Souchay die seinen (Dresden, Leipzig 1899) und die Wehmut, die Felix Lorenz (geb. 23. Dezember 1875 in Berlin) erfüllte, brachte er im Titel seiner ersten Gedichtsammlung »Jugend und Tod« (1897). Er flüchtet sich mit Vorliebe ins Märchenland, wohin auch Lyriker der älteren Generation wie Otto Weddigen und Alfred Friedmann sich oft wenden. »In Phantas Schloß« (1895) nannte seine Erstlinge bezeichnend Christian Morgenstern, der später als Uebersetzer Ibsen'scher Gedichte erfolgreich wurde. Heinrich Stümke führte seine Lyrik als »Präludien« ein (1894), während der formreine und gedankenklare Heinrich Vierordt, der mit Dichtungen und Balladen (1881) begonnen und in seinen Akanthusblättern (1888) Italien und Griechenland besungen hatte, außer seinen Vaterlandsgesängen nur noch wenig Lyrisches veröffentlichte. Ein Leben, reich an inneren Kämpfen, faßte zu ergreifenden lyrischen Stimmungen Maximilian Bern, geb. in Acron 18. Nov. 335 1849, der bekannte Anthologist, zusammen in »Aus reinem Leben« (1899). – Ein Buch voll reifer Lebenserfahrung, von hoher Schönheit der Form ist auch das von Konrad Gustav Steller, dem einstigen Stürmer und Dränger aus dem Verein »Durch«, der im Gegensatz zu seinen Genossen seine Schöpfungen nie vollendet genug für eine Druckausgabe glaubte und erst im Jahre 1900 seine erlesensten Dichtungen als wohlbestallter Sekretär an der Handelskammer zu Hanau als »Gedenkblätter« herausgab – ein Buch voll echter Schönheit.

Unter dem schlichten Titel »Leben und Lieben« offenbarte Elisar von Kupffer ein frisches Talent. Durch Maurice von Stern wurde Emanuel von Bodman eingeführt mit seinen »Stufen«. Als eine Merkwürdigkeit der Tage aber zeigte sich der Eisenarbeiter Ludwig Palmer, den Felix Dahn entdeckte, über den Franzos in seiner »Deutschen Dichtung« die ersten Nachrichten brachte und dessen Gedichte schließlich Walter Kellerbauer in einer Auswahl herausgab (Dtsch. Verlagsanstalt 1895), ein Arbeiter, der in der Zeit der Arbeiterbewegung zu singen anhub. Gewiß vermutete man hier zornflammende Liebe zu finden, aber nichts von dem! Mit Schiller'schem Idealismus erhebt sich dieser Arbeiter über sein Los und singt von sich:

»Mir ist ein steter Kampf beschieden;
mein Tag hat wenig Sonnenschein,
und meine Nacht hat wenig Frieden,
drum schau' ich oft so finster drein.
So manche Hoffnung war vergebens,
und tödlich schmerzte der Verzicht –
Da grub der bittre Ernst des Lebens
die Furchen mir ins Angesicht. –

Wenn auch mit fahlem Silberschimmer
die Sorge mir das Haar durchwob;
Mit neuer Kraft mein Geist sich immer
ins Reich der Ideale hob.
Die Liebe, die mein Herz durchflutet,
verklärt mein Leid mit ihrem Licht –
Ein Kämpfer, der noch nie geblutet,
verdient die Siegespalme nicht. –

Schon im großen Wendejahr 1893, das die Absetzung des Naturalismus begonnen hatte, hatte sich ein »Bund der Phantasten« gebildet unter Führung des bis dahin völlig unbekannten Paul Scheerbart. Die Verlagsanstalt dieses neuen Bundes brachte dieses neuen Dichters vor drei Jahren erschienenes »Paradies« gleich in zweiter Auflage – ein wirres Durcheinander von Vers und Prosa, ein Durcheinander von Engeln und Teufeln – einem bunten, planlosen Traum vergleichbar. Doch verdient er nicht mehr ernst genommen zu werden, seitdem er zu der Festschrift der Prager akademischen Lese- und Redehalle zu Goethes 150. Geburtstag das folgende Lied beisteuerte:

Indianerlied.

Murr den Europäer!
Murr ihn!
Murr ihn! Murr ihn!
Murr ihn ab!

Diese Festschrift gab einen recht deutlichen Ueberblick über die Fülle der jüngeren Lyriker. Von denen, die an andrer Stelle noch nicht genannt wurden, seien hier noch angeführt: Robert Austerlitz in Prag (geb. 28. Nov. 1862), 336 Hans Benzmann (geb. in Colberg am 27. September 1869), Verfasser von »Im Frühlingsturm« und »Sommersonnenglück«, Max Bernstein (geb. in Fürth am 13. Mai 1854), der sich namentlich in zahlreichen Lustspielen versucht hat; J. A. Bondy in Prag, Mitherausgeber der Zeitschrift »Moderne Dichtung« (geb. 23. Juli 1876). Franz Brentano in Florenz, Max Bruns in Minden (geb. 13. Juli 1876), ein Epiker und Satiriker, Emil Faktor in Prag (geb. 13. August 1876), der seine erste Sammlung nannte: »Was ich suche« (1899); Kurt Gnucke in Berlin (geb. in Meerane i. S. am 22. Juni 1864), der sich als Dramatiker einführte; Hermann Hango, der als Lyriker und Dramatiker auftrat (geb. in Hernals am 19. Juni 1861). J. Herzfelder in Augsburg (geb. zu Obernbreit am 31. Mai 1836); Franz Himmelbauer in Wien (geb. am 30. Juni 1871); Camill Hoffmann in Prag; Arthur Holitscher in Berlin (geb. 22. August 1869), ein junger Erzähler; Wilhelm Holzamer in Heppenheim a. d. B. (geb. in Mainz am 28. März 1870); Victor Joß in Prag (geb. am 29. Mai 1869) und sein Landsmann, der Advokat Theodor Kirchner (geb. in Karolinenthal am 8. September 1862); Otto Kobler in Prag; Kitir in Wien (geb. in Aspang am 11. März 1867); Paul Leypin in Prag (geb. in Prag am 27. November 1877); Karl Freiherr von Levetzow in Wien (geb. am 10. April 1871); Fritz Pick und Adolf Frhr. Prochazka in Prag; Hermann Runge (geb. in Hamm am 11. Januar 1876); Hugo Salus in Prag (geb. am 3. Aug. 1866), einer der begabtesten Lyriker seiner Heimat, der sich jetzt auch dem Drama zuwendet, Wilhelm von Scholz (geb. in Berlin am 15. Juli 1874); Heinrich Teweles, Dramaturg am deutschen Stadttheater in Prag (geb. 13. November 1856); Paul Werthheimer in Wien (geb. am 4. Februar 1874) und Franz Zimmermann, der noch cand. phil. in Wien war, als die Festschrift erschien. – Griff doch überhaupt die lyrische Bewegung in den letzten Jahren tief in die akademische Jugend ein und ließ manchen Bruder Studio leider viel zu früh zum »Gedruckten« werden. Das beweist der Musenalmanach Berliner Studenten, herausgegeben von Gottlieb Fritz, Rudolf Kasseno und Emil Scherings (Berlin 1898), dem im Jahre 1899 eine zweite Sammlung folgte.

Auch das Epos hatte sich fortentwickelt. Heinrich Hart hatte sein Lied der Menschheit bis zu Moses durchgeführt. Neben ihm war Richard Nordhausen (geb. 31. Jan. 1868 in Berlin) besonders in den Vordergrund getreten. Begonnen hatte er mit Joß Fritz der Landstreicher (1892), das seinen Namen schnell bekannt machte. Den Höhepunkt seines Könnens erreichte er mit Vestigia leonis (1893), während sein Versuch eines modernen Epos »Sonnenwende« (1895) als gescheitert zu betrachten ist.

Auch Julius Grosse war wieder einmal unter die Jugend getreten mit einem modernen Epos, »Das Volkramslied«, und auch Otto Franz Gensichen faßte das moderne Leben vielfach in seinen formschönen Versen.

Einen modernen Helden wählte auch ich zum Helden eines größeren Epos, das ich meinen poetischen Erzählungen: »Der Liebesrichter« (1893) und 337 »Der Vikar«(1897) folgen ließ. Ich wählte den sozialreligiösen Aufstand des Mahdi in Egypten, der in seinen Ursachen soviel Aehnlichkeit mit den sozialen Spannungen der Länder Europas darbot, aber doch in Stoff und Kostüm der epischen Behandlung soviel näher lag: »Achmed, der Heiland« (1898 Berlin).

Die Weltanschauung Nietzsches kam zum scharfen Ausdruck im»Weltgericht« (Leipzig 1895) von Victor von Andrejanoff, geb. in Koßlow, einer kleinen Stadt des russischen Gouvernements Tambow, am 10. Juli 1857. Mit viel Kraft und Stimmung läßt hier der Dichter, der bis dahin ein weicher Lyriker gewesen war, das Gericht Gottes über die toten Seelen – jenseits von gut und böse – zu einer Verherrlichung aller Männer der Kraft, zu einer Verurteilung aller Schwachen und Weichen werden. – Und ganz ähnliche Gedanken vertritt Eduard von Mayer in seinem kraftvoll geschriebenen Prosa-Epos: »Die Bücher Kains vom ewigen Leben«.

In ganz anderem Sinne läßt Kurt von Rohrscheidt (geb. 23. Nov. 1857 zu Lützen) den Teufel die Verzeihung Gottes erlangen vom christlichen Standpunkt aus in seinem geistreich gedachten Epos »Satans Erlösung« (Leipzig 1894). Einen ganz eigenartigen Gedanken trug in die moderne religiöse Epik auch Paul Friedrich hinein. Er läßt Jesus in der Wüste durch Satan dadurch versucht werden, indem der Böse ihm im voraus alle Greuel zeigte, die das nichtverstandene Christentum in der Welt wachrufen wird: die Neronische Christenverfolgung, die mittelalterlichen Hexenverbrennungen, die französische Bartholomäusnacht und die Verfolgung des Christentums durch den modernen Atheismus der Neuzeit. Aber mutig schließt das Ganze: 338

Luzifer schweigt und sieht den Träumer – schweigen,
indessen sich das Firmament erhellt.
Schon naht ein herber Wind und weckt aus Schlaf
und Schlummer rings die magern Gräser auf.
Besorgt sieht Satan schon den ersten Streif
des Morgenrots am fahlen Horizont.
Ein Widerschein des purpurroten Lichts
fällt auf das Haupt des schlummernden Propheten.
Da – endlich öffnet er den schmalen Mund –
und flüstert leis: »Weich' von mir, Satanas!
Wär' selbst das Blut ein Meer, das wegen mir
in wildem Glaubensstreit vergossen wird,
des Vaters Willen würd' ich dennoch thun.
In seiner Macht liegt all mein Sein begründet,
denn ob ich lebe oder sterbe, stets
gebot er seinen Engeln über mir.
Nur einem würd' ich weichen, wenn dereinst
ein Größerer denn ich das Werk vollendet,
das ich beginnen muß und will. Wer stirbt
um meines Namens willen, der wird leben.
Denn Leben liegt in allem Blut, das je
Jubelnd geopfert wird dem Sieg des Lichts.«

 


 


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