Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Sechstes Kapitel.

Vom sozialen Roman zur naturalistischen Liebesgeschichte.

Das Jahr 1890, das den Wendepunkt der Dramatik hervorgebracht, die Lyrik in neue Bahnen gelenkt hatte und Nietzsches Herrschaft fühlte, war in jeder Hinsicht ein Höhepunkt der ganzen Geistesbewegung. Die fieberhafte Erregung, die in der ganzen Litteratur herrschte, ließ ja damals in jedem neu erscheinenden Buche ein neues Ereignis ahnen. In jenem Jahre wurde es möglich, daß Julius Langbehns namenlos erschienene Schrift »Rembrandt als Erzieher« schnell bis 42 Auflagen erlebte, ein Buch, welches durch seinen Titel doch nicht lockte, das aber, in geistreichem Geplauder über alles Erdenkliche sich verbreitend, die Gestalt des Deutschesten aller Maler zum Maßstabe der gesamten Welt- und Lebensanschauung machte. Und im selben Jahr erschien das kleine Heftehen »Ernste Gedanken,« das den Oberstleutnant Moritz von Egidy zum Verfasser hatte, einen Offizier, der sich militärisch unmöglich machte, nur um, dem heißen Drange seines Herzens folgend, sein freireligiöses Bekenntnis abzulegen. Scharenweise strömten die Menschen zu seinen Versammlungen herbei, als er in Berlin erschien; denn groß war überall das Bedürfnis nach einer Religion – aber nach einer solchen, die frei war vom Zwange kirchlich engherziger Dogmatik. 236 Und schnell wurde in Berlin Egidy selber für die »soziale Frage« erwärmt. Wohl hatte er viele Angriffe von seiten der kirchlichen Theologen zu erdulden; aber doch wurde um dieselbe Zeit auch dieser Stand von den modernen Strömungen vielfach warm und tief ergriffen. Zum Führer dieser neuen Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche warf sich schnell der junge Prediger Friedrich Naumann auf (geb. zu Störmthal am 25. März 1860), der damals noch in Frankfurt a./M. im Amt war. Auch er trat im Jahre 1890 mit seiner ersten Schrift über »das soziale Programm der evangelischen Kirche« hervor, und ein Jahr später erregte der noch jüngere Kandidat der Theologie Paul Göhre das Erstaunen der ganzen Welt durch sein Buch »Drei Monate Fabrikarbeiter«. Ein junger Theologe, der sich allen Ernstes drei Monate lang als Arbeiter in eine Fabrik verdingt hatte, um die Zustände der Proletarier aus eigenster Anschauung kennen zu lernen! Wahrhaftig, die Weltanschauung des sozialen Mitleids hielt damals durch Deutschland ihren Triumphzug, und wie in Rußland einst Graf Tolstoj das Schloß seiner Väter verlassen hatte, um in freiwilliger Armut ein Arbeiter zu werden, so stieg hier der werdende Husarenoberst von seinem stolzen Roß, der Prediger von seiner Kanzel, der Professor von seinem Katheder, um den Armen hilfreich seine Hand zu leihen, und auch der deutsche Kaiser selber blieb dabei nicht aus. Am 4. Febr. 1890 hatte Wilhelm II. die Welt mit seinen berühmten Erlassen über die Erweiterung der Arbeitergesetzgebung überrascht. Im März desselben Jahres hatte in Berlin die internationale Konferenz stattgefunden, zu der auch Arbeiter Zutritt gehabt hatten, und am 30. Sept. 1890 war das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie in Deutschland für immer erloschen.

Nationalökonomie und Poesie gingen Hand in Hand. Auch Kamp, den Dichter der »Armeleutslieder« treffen wir wieder als sozialreformatorischen Autor.

Zeitgemäß also erzählten im Jahre 1890 zwei Romane gleichzeitig das tragische Schicksal des Gebildeten, der aus Erbarmen zum »Volke« hinabsteigt.

Hans Land, der es in kleinen Skizzen ja schon zur hohen Meisterschaft gebracht hatte, erschien auf dem Plane mit einem Romane »Der neue Gott«, und gleichzeitig trat mit ihm ein junger Autor hervor, Felix Hollaender (geb. 1. Nov. 1867 in Leobschütz), mit seinem Roman »Jesus und Judas«. Die religiösen Titel der beiden Werke erklären sich leicht aus der vorhin von mir geschilderten Zeitstimmung. Das Erbarmen mit den 237 Leidenden ist gewiß eine christliche Eigenschaft, und da nun die jungen Idealisten in den Proletariern nicht nur Leidende, sondern auch gesetzlich Verfolgte erblickten, so drängte sich unwillkürlich der Vergleich auf mit den heimlichen Versammlungen der ersten Christen mit ihrer damals verbotenen Predigt von der Gleichheit aller Menschen vor Gott und mit dem Martertod des Heilands und seiner Apostel.

Aehnlich, wenn auch unter ganz andern Verhältnissen, entwickelt sich der Gedanke in jenen beiden, zwei Jahre später erschienenen Romanen. In Hans Lands »Neuem Gott« wird der Graf Friedrich von der Haiden, seines Zeichens ein Husarenleutnant, tief in seinem jugendwarmen Herzen von der Zeitströmung des sozialen Erbarmens erfaßt. Bei dem Anblick eines Trupps Sozialisten, die er als Märtyrer ihrer Ueberzeugung idealistisch verehrt, läßt er sich dazu hinreißen, einen Aufruf der Arbeiterpartei zu unterzeichnen. Dies bringt ihn in den heftigsten Gegensatz zu seinem Vater, dessen Haus er verläßt. Gleichzeitig nimmt er seinen Abschied als Offizier. Das Herz voll heiliger Begeisterung mietet er sich ein kleines Dachkämmerchen und beschließt – nun selbst ein Verstoßener und Enterbter – sich durch eigene Arbeit zu ernähren. Ein ihm befreundeter Philosoph, der das Schlagwort vom »Neuen Gott« liebt – d. h. vom Geist der vorurteilsfreien, erbarmungsvollen Menschlichkeit – verschafft ihm zunächst einige Uebersetzungsarbeiten. Der erste neue Freund, den der Arbeitergraf in seiner neuen Welt kennen lernt, ist der junge Ernst Hart. Dieser erlebt ein ähnliches Schicksal wie der Graf. Sein Vater ist ein reicher Fabrikbesitzer, seine Mutter ein eitle, nur scheinfromme Vereinsdame, sein älterer Bruder ein wirklich frommer Theologe. Mit all diesen Familienmitgliedern versteht Ernst sich nicht, er gehört im geheimen längst der sozialistischen Partei an und thut, was damals viele junge Studenten thaten – er benutzt seine noch lückenhafte Studentengelehrtheit dazu, um den Arbeitern wissenschaftliche Vorträge zu halten. Er selbst studiert Chemie, und so lehrt er denn in der verbotenen und geheim gehaltenen Arbeiterbildungsschule die Naturwissenschaften – unreif aber mit ehrlicher Ueberzeugung – vom materialistisch-atheistischen Standpunkte aus. Nun ist in der Fabrik seines Vaters ein sehr tüchtiger Werkführer Namens Herning. Da dieser um seines agitatorischen Treibens willen entlassen wird, so fühlt sich auch Ernst moralisch verpflichtet, seinem Vater gleichfalls sein sozialistisches Glaubensbekenntnis abzulegen und dessen Haus 238 zu verlassen. Der große Tag der Arbeiterversammlung naht heran. Ernst Herning giebt in seiner nüchternen Weise sein Referat. Ein alter Arbeiter, noch aus der Schule Lassalles stammend, widerspricht und wendet sich namentlich mit sehr scharfen Worten gegen das Auftreten eines Grafen in der Arbeiterversammlung. Das giebt dem jungen Grafen Veranlassung, selbst das Wort zu ergreifen. Er spricht begeistert und begeisternd von seiner Liebe zum Volke, aber in seinem Ueberschwang wählt er ein ungeschicktes Wort, und der überwachende Polizeibeamte löst die Versammlung auf. Herning ist darüber sehr verstimmt, aber die Arbeiter jubeln dem Grafen zu, wie er nachher im Biersaal erscheint. Um sich populär zu machen, trinkt er widerwillig Weißbier und Schnaps, bis er, von plötzlicher Ohnmacht befallen, vom Stuhle sinkt. Sein erstes Auftreten läßt ihn schon ahnen, daß er in falsche Bahnen geraten ist. Denn er ist ein Idealist, der die Arbeiterpartei in rosigem Lichte gesehen hat; diese aber braucht nüchterne, praktische Führer. Wie nun gar innere Seelenerlebnisse ihn um den letzten Rest seiner Thatkraft bringen, da gerät er bald bei der Partei in Verdacht, man schüttelt ihn ab, er sinkt von Stufe zu Stufe. – Besser ergeht es dem jungen Ernst Hart. Es ist ihm gelungen, seinen Bruder, den Theologen, zu seinem Standpunkte langsam herüberzuziehen. Dieser hat nämlich einsehen gelernt, daß seine Eltern nur Lippenchristen sind: daß der Vater rücksichtslos seine Konkurrenz niedertritt und daß die Mutter nur dann für wohlthätige Zwecke Opfer bringt, wenn es ihrer Eitelkeit schmeichelt. So will auch er sich von den Eltern lossagen. Aber so leichten Kaufs geben sie ihre Söhne nicht verloren. Sie suchen die beiden von Berlin zu entfernen, indem sie ihnen Heidelberg zur Universität anweisen. Dort studiert Ernst weiter Chemie, Theodor aber Nationalökonomie. So können sich diese beiden Glücklichen unter dem Schutze der elterlichen Geldsendungen ruhig weiter entwickeln zu späterem gedeihlicherem Eingreifen in den Zeitkampf. Während dessen ist der arme Graf vollständig mit sich selbst zerfallen. Sein Vater ist plötzlich gestorben und hat nur Schulden hinterlassen. Das Andenken seiner früh verstorbenen Mutter ist ihm getrübt durch eine unangenehme Entdeckung. Er selbst ist dem Hungertode nahe, die »Partei« hat ihn verfehmt. Da läßt er sich durch einen verbummelten Regimentskameraden verleiten, für ein heißersehntes reichliches Abendbrot, halb wahnsinnig vor Hunger, zum Verräter seiner eigenen Genossen zu werden. Die Arbeiterbildungsschule wird infolgedessen von der Polizei entdeckt und aufgehoben, den Grafen aber prügeln die Arbeiter halbtot. Er sühnt seine Schuld indes in einer Situation, die vom Verfasser allerdings mit kecker Romantik erfunden worden ist. Wie er sozialistische Geheimakten vor der Polizei retten will, ertrinkt er. Am selben Tage wird Herning zum Reichstagsabgeordneten gewählt. Leider ist der Roman zu sprunghaft erzählt. Es sind nur lose aneinandergereihte Einzelbilder. Auch ist die Schilderung der Arbeiter nicht so überzeugend lebenswahr, wie die Schilderung der Gebildeten. Alles in allem aber war das Buch ein kühner Griff in die Zeitströmung.

Fast genau denselben Gedankengang verfolgt Hollaenders »Jesus und Judas«. Doch sind die Verhältnisse ein wenig anders. Hier ist nicht ein Graf, sondern 239 ein Student der unglückliche Held, der mit stolzem Jesusbewußtsein sich unter die Arbeiter begiebt, um schließlich als Judas zu enden. Karl Truck heißt er. Wie Lands Ernst Hart ist er ohne Wissen seiner Eltern schon in Leipzig eifrig für die »Partei« thätig gewesen, hat aber dann weichen müssen, als ihm die Polizei auf die Spur kam. In Berlin findet er in seinem einfachen Mietszimmer bald freundschaftliche Beziehungen und Liebesbande. Seine beiden Nachbarn, die Studenten Höfke und Silberstein, werden seine Freunde; die ältere Tochter des Hauses, Lene genannt, erweckt seine Liebe. Als aufgeregter Mensch, dessen Seele von philosophischen Träumereien erfüllt ist, macht er auf nüchterne Menschen öfters den Eindruck eines Wahnsinnigen. Ja, ein trockner Arzt bringt ihn schon einmal ins Irrenhaus, doch entgeht er der Gefahr wieder. Immer mehr verbittert ihn das gegen die herrschende Gesellschaft. Aber der sozialistischen Partei will er sich erst offen anschließen, wenn er seine Studien beendet hat und ihr in Wirklichkeit nützen kann. Das bringt ihn in Verdacht bei den argwöhnischen Leitern der Partei. Bald darauf zeigt ein Polizeispitzel, der als doppelter Spion zwischen Behörde und Sozialdemokraten sein Unwesen treibt, den Studenten als Sozialdemokraten an. Er wird von seinen Eltern verstoßen, darf nicht weiter studieren und wird obendrein bei der plötzlichen Ermordung jenes Polizeispitzels in den Skandalprozeß verwickelt. Nach verbüßter Strafe wird er auch von der Partei vollständig geächtet. Da zieht er sich mit seiner Lene in die Einsamkeit zurück, um ehrlich sein Brot zu verdienen. Aber seine »genialen« Broschüren, die ihn anfangs leidlich zu ernähren scheinen, werden polizeilich verboten. Jede Möglichkeit sich zu ernähren ist ihm abgeschnitten. Da wird auch er zum Verräter seiner einstigen Genossen; aber der Judaslohn brennt ihm wie Feuer in den Händen. Die kaiserlichen Erlasse vom 4. Febr. 1890 sind das letzte, was er hört auf dem Wege zum freiwilligen Tode. – Abgesehen von einigen Ueberschwenglichkeiten und einigen verzerrenden Uebertreibungen war das Buch durch seine lebendige Charakteristik ein ziemlich starker Beweis für die Begabung seines Verfassers. Da es zweifellos ganz unabhängig von Lands »Neuem Gott« geschrieben war, so ist die Uebereinstimmung im Schicksal der beiden Helden ein Beweis dafür, daß hier ein Typus der Zeit porträtiert worden war.

Wie so die Helden jüngstdeutscher Romane erfahren mußten, daß ihr Kopfsprung von den Höhen der Gesellschaft in die Tiefen niemandem zum Nutzen, ihnen selbst aber zum schweren Schaden gereichte, und wie sie einsehen mußten, daß ihnen zu einer wirklichen Lösung der sozialen Frage Kenntnisse und Vorbereitung fehlten, die das bloße gute Herz nicht zu ersetzen vermag – so lernten viele der Jüngsten ähnliches an sich selbst erkennen. Und so kam es, daß gerade jetzt sehr schnell die jüngstdeutsche Romandichtung den sozialen Boden verließ. Unter andern wandte sich Hollaender in seinen beiden folgenden Romanen »Magdalene Dornis« und »Frau Ellin Röte« der feinen sorgfältigen Auspinselung weiblicher Charaktere zu. Die Zeitschrift Freie Bühne aber förderte auch den sozialen Roman nicht.

Ja, ganz getreu den Anregungen des Vereins »Freie Bühne« pflegte auch die anfänglich vom Vereinsvorsitzenden herausgegebene Zeitschrift das Ausland. 240 So brachte sie an größeren Romanen und Erzählungen im ersten Jahrgang Uebersetzungen von Emile Zolas »Die Bestie im Menschen«, von Fedor Dostojewskis »Eine heikle Geschichte«, von Arne Garborgs »Bei Mama«, von Knut Hamsun »Hunger«; – ein einziger deutscher Roman hatte unmittelbar nach Zola die Reihe der Ausländer unterbrochen. Aber man hatte ihn nur darum zugelassen, weil er ganz in französischem Geist geschrieben war und obendrein sogar in Paris spielte: »Ein Roman wie Die gute Schule ist in Deutschland noch nicht geschrieben worden, deshalb hat diese Zeitschrift, die dem Modernen gehört, ihn ihren Lesern zuerst mitgeteilt.« Mit diesen Worten entschuldigt Otto Brahm nach Schluß des Romans den Abdruck desselben in seiner Zeitschrift (Jahrg. I. Seite 616).

Damit war also wieder ein neuer Mann auf dem Kampfschauplatz erschienen und zwar ein in mancher Hinsicht interessanter. Aus Linz in Oesterreich stammt Hermann Bahr, geboren am 19. Juli 1863; in Wien, Graz, Czernowitz und Berlin hatte er philosophische, juristische und staatswissenschaftliche Studien getrieben, hatte sich auf Reisen in der Welt umgesehen und kam gerades Weges aus Frankreich, als er im Jahre 1890 in Berlin im Kreise der Männer der »Freien Bühne« erschien. Gerades Weges aus Frankreich! – Eine bessere Einführung konnte man bei diesen auf das Ausland erpichten Revolutionsdiktatoren nicht haben. Und Hermann Bahr kam nicht bloß äußerlich aus Frankreich. Nein, er brachte die neuesten Moden vom Seinestrand äußerlich und innerlich mit daher, und wo er erschien, verbreitete sich der Duft des Pariser Parfums auch in geistiger und litterarischer Hinsicht. Er hatte »Jung-Paris« kennen 241 gelernt, und man wußte ja längst in Deutschland, daß im Seine-Babel Zola nicht mehr der Modernste war. Hatte sich doch eine Reihe junger Schriftsteller von ihm losgelöst, die anfangs seine Schüler waren. Der Roman «La terre« (Mutter Erde) hatte dazu den Anstoß gegeben. Die gehäufte Sinnenkraßheit des Buches hatte viele seiner abgehärtetsten Verehrer abgestoßen. Aber der wahre Grund, warum Jung-Frankreich sich von seinem Meister zu scheiden begann, lag in dessen allzukühler Sachlichkeit. Daß Zola alles nur von außen sah, das konnte man auf die Dauer nicht ertragen. Der Führer der fünf Zola-Schüler, die dem Meister im Jahre 1887 ganz öffentlich aufsagten, war der Holländer Joris Karl Huysmans. Er geleitete seine Anhänger langsam hinüber in das Lager der sogenannten Symbolisten, bei denen der moderne Pessimismus sich mit einer Neigung zum Unheimlich-Unerklärlichen vereinigte. Der durch den Naturalismus unterdrückte Trieb des Menschen zum Uebersinnlichen brach sich hier wieder Bahn, um in krankhaft verbildeter Form als schwächliche Angst vor dem Spukhaften, als dumpfe Sehnsucht nach dem Grauenvollen wieder in die Erscheinung zu treten. Man hat den Eindruck, daß die sinnlich überreizten Menschen, nach immer neuen Reizungen strebend, sich in eine Art von Opiumrausch hinein narkotisieren, um als zitternde Greise in erträumten Jünglingskörpern mit einer wahren Wollust ihre eigene Nervosität zu studieren. Wie der Hypochonder einen gewissen Genuß darin findet, sich jeden Tag neue Krankheiten einzubilden, so schwelgen diese Art Künstler darin, ihre Nerven in jedem Augenblick auf alles aufmerksam zu machen, was dazu geeignet sein könnte, sie zu erschrecken und sie noch nervöser werden zu lassen. Mit der Empfindsamkeit eines hysterischen Mädchens durchzittert diese Leute ein Grauen beim bloßem Anblick einer sonderbaren Wolkengestalt am Himmel. Eine auffallende Farbe, die ihnen entgegentritt, kann sie bis zum Tode erschauern machen oder ihnen den sogenannten Lebensmut auf fünf Minuten wiedergeben. Rot, Grün, Blau, Violett, Schwarz und Weiß werden für sie zu Gefühls-Symbolen von höchster Tragik, und bei dem Durcheinanderzittern aller ihrer Nerven fliegen diese Symbole aus der Vorstellungswelt der Augen in diejenige der Ohren und der Gefühlsnerven hinüber, und sie fühlen, riechen, denken und schmecken in Farben. Da giebt es für sie grüne Lieder, blaue Empfindungen und blutrote Gedanken; ebenso giebt es natürlich tönende Farben und klingende Gefühle, und durch all diese nervösen Begriffsverwirrungen, die schließlich dem Gestammel eines Typhuskranken nicht mehr unähnlich sind, wird endlich eine Art neuer Sprache erfunden: die symbolistische Ausdrucksweise. Hat doch in allem Ernst ein Anhänger dieser Richtung ein Wörterbuch herausgegeben, um es den normalen Menschen zu erleichtern, diese neue Sprache zu verstehen.J. Plowert, Petit glossaire pour servir à l'intelligence des auteurs décadents et symbolistes, Paris 1887 Dieser bildlichen Ausdrucksweise wegen nannten sich die neuen Sprachverdreher »Symbolisten«; im Bewußtsein dessen, daß sie in ihrer Kunst jedem von außen kommenden Eindruck blind und willenlos folgten, nannten sich diese nervösen Schriftsteller »Impressionisten«; und im Bewußtsein ihrer 242 täglich zunehmenden sittlichen Verkommenheit nannten sich diese koketten Schwächlinge »Décadents«. Um aber auch gleichzeitig eine Entschuldigung vor sich selber und vor der Welt für ihre verächtliche Mannlosigkeit zu haben, wiesen sie darauf hin, daß das Ende des Jahrhunderts mit Riesenschritten herannahe, und der Jahrhundertschluß – in Wirklichkeit doch nichts anderes als ein äußerlicher Abschnitt im menschlichen Zahlensystem – hatte für diese bedauerlichen Kranken mit ihren tausend unbegründeten Angstgefühlen die Bedeutung von etwas unendlich Schauerlichem, und so entschuldigen sie sich denn mit dem Ende des Jahrhunderts: »fin de siècle«.

Aus dieser Welt also kam gerades Weges Hermann Bahr nach Berlin. Selbst eine richtige Salonerscheinung, elegant und wohlgewachsen, liebenswürdig und nicht ohne Geist, fand er schnell Zutritt zu allen litterarischen Kreisen – ihr Tageslöwe aber wurde er durch seine neuen Pariser Schlagworte: »Symbolismus! Décadence! Fin de diècle!« Begeistert sprachen es zu Hunderten die jungen Leute nach, die nun wieder, wie vor hundert und zweihundert Jahren, alle Welträtsel damit zu lösen glaubten, daß sie die Nachbeter der Franzosen wurden. Schnell wurde Hermann Bahr der Statthalter der Pariser Symbolisten an der Spree. So mit der Geschwindigkeit des Augenblicks war noch kein »Jüngster« in Berlin zur tonangebenden Persönlichkeit geworden. Natürlich beförderte es Hermann Bahrs Popularität nur, wenn auch gutmütig über ihn gespottet wurde, oder wenn die Damen sich bewundernd über seine schnell berühmte Hamlet-Locke unterhielten, die stets herausfordernd in seine Stirn fiel. Als ein moderner Alcibiades wurde er den französelnden Berlinern dadurch noch interessanter. Im Handumdrehen war er auch Mitredakteur an Otto Brahms »Freier Bühne«. Solange er aus der Entfernung seine litterarischen Versuche nach Berlin gesandt hatte – seine Dramen »Die neuen Menschen« und »Die große Sünde« – solange hatte man nichts darauf gegeben. Jetzt, wo er in der deutschen Hauptstadt den kleinen winzigen Menschenbruchteil, der sich »tout-Berlin« nennt, mit seiner pariserischen Persönlichkeit bezauberte, jetzt würdigte ihn das revolutionäre Philologenblatt der Ehre, ihn als den einzigen nennenswerten Romanautor gleich hinter Zola zu bringen! Mit welch spannungsvollem Heißhunger stürzte sich daher »Berlin« auf die »Gute Schule!« Und was las es da!

Ein junger Maler irrt in der uns nun bekannten lässig blasierten nervösen Schlaffheit in den Straßen von Paris umher. Ihm ist eins seiner »impressionistischen« Augenblicksideale zerronnen. Er hatte in einem Hotel roten Lachs in grüner Sauce gegessen, und diese grüne Saucenfarbe hatte ihn nach der uns bekannten Symbolistenart unheimlich ahnungsvoll erregt, war ihm als jenes Farbenungeheuer zur Religion, zur Weltanschauung, zur neuen Kunst geworden. Wie wahnsinnig war er in sein Atelier gestürzt und hatte ein paar Tage in diesem Grün geschwelgt, bis der Rausch wieder einmal verflogen war und er zu der traurigen Erkenntnis gekommen ist, daß er nur wieder einen neuen Unsinn überwunden hat. So treibt er sich denn wieder in »seines Nichts durchbohrendem Gefühl« in den Straßen umher, ab und zu noch wehmütige Blicke auf grüne Kleidungsstücke werfend und als echter »Impressionist« erfüllt von der Sehnsucht nach 243 einem neuen Rausch. Da erspäht er ein kleines reizvolles weibliches Wesen, mit dem er sich schleunigst in ein Liebesverhältnis einläßt. Nach den üblichen nervösen Hin- und Herschwankungen kommt es endlich dazu, daß die Kleine zu ihm zieht, und nun rast er in seinem Liebesrausch fort bis zum Widerlichen. Sie lernen sich schließlich hassen, sie raufen sich, und wie er sie endlich wieder los ist, da verzichtet er auf alle weiteren hohen künstlerischen Bestrebungen.

»Ja, die Liebe ist die gute Schule der wirklichen Weisheit. Man wird etwas stark gepufft, aber dafür sind auch am Ende die Eseleien gründlich ausgetrieben. Man kann ihre Lehre das ganze Leben nicht wieder vergessen. – Darum, wenn er das alles wog, brauchte es ihn nicht zu gereuen, das Verhältnis mit Fifi. Die sechs Monate waren doch eigentlich nicht unnütz vertrödelt, sondern er hatte Besinnung und Vernunft davon gewonnen. Das alte Romantische war weggeputzt, und sie hatte ihn zum natürlichen Menschen dieser Zeit erzogen. – Und jetzt konnte er sich selber leben. Er spielte fleißig Bakkarat und lernte, nachdem er sich eine gelbe Hose gekauft, reiten. Um den Künstler nicht zu vernachlässigen, komponierte er manchmal Toiletten. – Er war fest entschlossen, außer sich nichts mehr ernst zu nehmen. – Er gewann eine vornehme und zufriedene Weltanschauung, daß das meiste doch ganz ordentlich eingerichtet ist, man muß nur der richtige Mensch dafür sein, daran liegt's. Er blickte mit Vertrauen in die Zukunft, selbstbewußt, daß er es so weit gebracht hatte; es konnte ihm nicht fehlen, daß er bald die allgemeine Achtung gewänne. – So dachte er oft, wenn er in den alternden Herbst hinaus sah, es würde ein recht behaglicher und angenehmer Winter werden, von verdienter Freude.« –

Verdienter Freude! – Ein normal entwickelter Mensch wird bei diesem Hergang nichts von Verdienst und bei diesem Schluß nichts von Freude bemerken können. Allgemein gültig für die Menschheit ist nichts in diesem Roman. Daß die Liebe einen Künstler nicht zu erlösen vermöge, sondern ihn von hohen Idealen ablenken müsse, und daß der ewig ringende Künstler nur zu einem glücklichen Zustand kommen könne, wenn er auf alle hohen Ideale verzichtet und zum Alltagsschmierer wird – das ist durch diese Geschichte doch sicherlich nicht bewiesen. Denn der »Held« derselben hat ja doch die wirkliche Liebe niemals kennen gelernt, sondern nur die sinnliche Verrücktheit; und er hat auch niemals wirkliche Künstlerideale gehabt. Aber dennoch hat die Geschichte, wie unangenehm sie auch sein mag, einen typischen Wert: sie zeigt ganz deutlich, wohin der Mensch und besonders der Künstler kommen kann und kommen muß, wenn er nur noch in der Welt der Sinne lebt und statt Künstleridealen seiner geistigen Innenwelt nur Eindrücken des Augenblicks folgt: nämlich entweder zum Wahnsinn oder zur Blasiertheit. Das Charakteristischste aus der ganzen Bahr'schen Seelenschilderung ist daher denn auch die Stelle, wo der Künstler – dessen Namen wir sonderbarerweise nicht erfahren – durch seine grüne Sauce in den ersten Fiebertaumel versetzt wird. Dieser Abschnitt mag hier zur Probe der sonderbaren Symbolisten-Sprache folgen:

»Und da, ja da, in diesem fröhlichen, hellen, luftigen Bretterschlag, da traf ihn der Fluch, hinterrücks, aus einem vortrefflichen, saftigen und sanften Lachs, dem man keine Tücke ansehen konnte, wie er so, mit rosigem Schimmer, in der üppigen Krautsauce sich wiegte. Aber diese Sauce gerade, diese grüne Kräutersauce, der Stolz des Koches – ja, die war es gewesen. Die hatte ihn geschlagen. Aehnliches hatte er nie gesehen, niemals zuvor, solange er sich erinnerte, ein milderes und süßeres Grün; so schmachtend und so freudig zugleich, daß man gleich singen und jauchzen mochte. Das ganze Rokoko war darin, nur noch in einer viel gütigeren, sehnsüchtigeren Note. Es mußte auf sein Bild.

244 Es mußte auf sein Bild, gleich, heute noch, noch in dieser nämlichen Stunde – er zitterte atemlos, in kaltem Schweiß, daß ihm nicht eines zuvorkäme. Kein Freund begriff seine Hast, sein Fieber, seinen Taumel. Die Rede verschlug's ihm, er stotterte nur und schnaubte – die ganze Welt hätte er umarmen mögen, ohne diese jagende Angst, daß sie es merken könnten, die blinden Thoren. Und so im hellen Wahnsinn stürzte er fort. Und so, jauchzend, fuchtelnd, weinend, stürmte er heim. Der junge Frühling wetterte gerade im ersten Donner, und die Wolken brachen sich in wilde Wogen; einsam waren alle Straßen und kein Wagen fand sich. Er achtete es nicht und rannte. Regen schlug ihn, und es peitschte ihn der Sturm mit nassen Hieben. Er rannte nur und rannte. Bis an die Kniee watete er im Schlamm, und den Hut raubte ihm ein heulender Stoß. Er achtete es nicht und rannte und rannte. Manchmal, indem er einen Augenblick Atem schöpfte, schrie er laut auf, grell und schrill, weil die unbändige Lust nicht mehr zu halten war. Und er klatschte und tanzte und drehte sich im Kreise, wie ein besessener Derwisch. Und dann wieder, eilig und blind, rannte er weiter.

Ach, wenn er sich erinnerte! Er sah nichts als dieses Grün, nur dieses neue Grün, und er hörte es in jauchzenden Weisen und er fühlte sein lindes, samtenes, schmeichlerisches Fleisch. Und von diesem Grün, wie von einem göttlichen Wunder, strahlte in üppigem Segen die neue Kunst und wandelte über die Erde in begeisterten Propheten und warb Priester dieser neuen, schöneren Religion, und alle die seligen Völker wallten zu dem gebenedeiten Stifter, mit Weihrauch und Gebet, und Messen dampften ihm überall auf der Erde, Messen von ewigem Ruhm, und Preis und unsäglicher Jubel und dankbare Wonne und unerschöpfliche Bewunderung umringten ihn – und er rannte und rannte, durch das krumme Gewinkel des lateinischen Viertels, immer hastiger und wilder, daß er es nur nicht versäume, in stürmischen Sprüngen, bis er atemlos, röchelnd, ohne Sinne zusammenbrach, für tot, auf dem Boulevard Arago, vor seiner Werkstatt.

Ah, wenn er sich erinnerte, dieser Seligkeit ohnegleichen, dieser jauchzenden, taumelnden Wollust ohne Beispiel! Noch siedete ihm das Blut, und alle Nerven wirbelten sich zum Tanz, wenn er daran dachte. Er hätte gleich wieder laufen mögen wie damals, es ließ ihn nicht sitzen. Er wanderte wieder, den nämlichen Weg wie zuvor. Er wußte nicht, wohin, wozu, fragte nicht, träumte nur, träumte von jenem Glücke.

Drei Tage hatte das Glück gehalten, drei rasche Tage, und alle Jahre seines anderen Lebens hätte er dafür geben wollen, alle Jahre, sogleich. Drei Tage, im Fieber, vom ersten Morgen, wenn's kaum graute, bis in den letzten Abend, wann ihm endlich die Nacht die Bürste aus der Hand schlug, ohne Rast, keinen Augenblick, nicht einmal für Trank oder Speise, nur an der Staffel, bis es verwandelt war, das alte Bild, nach dem neuen Gedanken, und seiner Hoffnung glich, Thron und Altar seinem Grün. Welche Tage!

Am ersten hatte er das Grün unterjocht und, da er sank, gehorchte es, in friedlichem Glanze, seinem Dienste. Ah, unvergeßlich, unvergeßlich ewig! Er konnte nicht scheiden, nicht ruhen, sich nicht sättigen. Alle Lichter zündete er an, was er an Stümpfen nur auftreiben und ausleihen konnte, umkreiste mit ihnen feierlich das Bild, daß es unter vollen Strahlen war, und rückte das Feldbett gegenüber, es unermüdlich mit zärtlicher Andacht zu betrachten. Und er sann und sann, indem er schaute und schaute, die ganze Nacht. Und es wälzten sich seine Gedanken, und seine Hoffnungen rollten, immer verwegener und kühner. Und es war eine große Freude und viel Vertrauen in ihm, daß er gleich sich hätte aufschwingen und fortfliegen mögen, über die Wolken zur Sonne. Und er fühlte eine seltsame Kraft, der nicht zu widerstehen war, und alles Leibliche schien von ihm gestreift, und er wunderte sich nur, daß die Engel noch nicht kamen, mit rosigen Schwingen und ganz feine, hellgrüne Tupfen am Ansatze, um mit Hosianna und Kuß seine Himmelfahrt zu grüßen.

Er entkleidete sich nicht; er wich nicht; er schaute nur und schaute. Es war ihm namenlos gut, und als ob er keiner Nahrung und nichts mehr bedürfe, wenn er nur so schauen konnte, ewig, ohne Ende. Es zitterten ihm die Finger und er erschrak, seine Augen im Spiegel zu sehen, so unheimlich glänzten sie, groß und tief, von einem schwarzen Feuer.

245 Als die Nacht schon sich wendete, hatte er einen eiligen Traum. Es schritt eine helle Fee und warf Sterne auf sein Bild. Da erblühten Rosen in dem Grün, und bläuliche Lichte vermischten sich, eine himmlische Wonne und ein Schauer ging über die Wand, daß alle Farben sich verwandelten, noch tiefer leuchteten und noch heller sangen. Und er stürmte auf, nach dem Pinsel, diesen Wechsel des Grüns zu erhaschen, und den anderen Abend, nach zwölfstündiger Lust, da, er begriff's noch kaum und wollte es kaum glauben, da, wirklich, ja, war's fertig!

Es war fertig. Ah, höhnische Spiegelfechterei der Hölle!

Es war fertig. Wie er damals fortgegangen war, den Boulevard entlang, durch den lachenden und jubelnden Frühling, wie ein König stolz, der zu Triumph zieht, selig wie ein Pilger, der von der heiligen Gnade mitbringt – und niemals waren die jungen Blüten so helle gewesen, und niemals alle Mädchen so lieblich und küssig, und zu den müden Arbeitern, die von der Fabrik kamen, hätte er reden mögen, trostreich, daß jetzt alle Not ein Ende hätte und die Hütten feiern sollten, und von den höchsten Türmen hätte er es verkünden mögen, daß es fertig war, fertig, fertig, so unfaßlich es war, wirklich fertig!

Er stellte es sich ganz deutlich vor, ganz langsam, wie es gekommen war, in allen Teilen, eines nach dem anderen, damit er jedes einzelne für sich genieße und sich ganz mit seinem köstlichen Geschmacke erfülle. Er mußte lachen, wie er an Ledoyer dachte und an die Sauce – übrigens, wenn die Gravitation vom Falle eines Apfels, dann mochte es die neue Kunst sich schon gefallen lassen, vom Glanze einer Sauce zu beginnen. Und dann; sein Grün, wie er es mit dem Hummer und den Radieschen befreundet hatte; unermüdlich mischend bald mit Schatten, bald mit Licht, bis es sich vertrug, und wie er es dann aus jener nächtlichen Erscheinung verwandelt hatte, sein Grün war zudem jetzt ja völlig ein anderes.

Und da, plötzlich, aus dem Hinterhalte über den Arglosen her, daß es ihm den Atem verschlug, mitten im Glück hatte ihn dieser furchtbare Schreck überfallen, diese namenlose Angst; ob es denn überhaupt war, sein Grün, irgendwo in der Wirklichkeit, außer seiner Einbildung!

Denn offenbar – ja, dieses war nicht zu leugnen; wenn es in seiner Erfindung bloß lebte, wenn es kein Gleichnis hatte in der Wirklichkeit, auf das es sich berufen konnte, wenn es erlogen und erheuchelt war, aus üppiger Laune, ja – dann, dann – es war ja nicht auszudenken!

Es war ja nicht auszudenken, daß es dann wieder nur höhnischer Betrug gewesen, wieder nur äffender Wahn der Eitelkeit, und daß er wieder die Leinwand zerreißen und den verräterischen Pinsel zerfetzen konnte, um wieder von vorne anzufangen, wieder von Plan zu Plan hilflos zu irren und wieder ohne Rat und Rettung zu verzweifeln.

Und seitdem jagte er unstät, wie ein Geächteter, nach seinem Grün, immer nur nach seinem Grün, ob er es nirgends fände, in der Wirklichkeit. Seitdem wanderte er durch alle Straßen, kroch in alle Winkel, lungerte in den Hallen, klomm auf alle Türme und schweifte durch die Dörfer. Und er wußte es nicht zu denken, wie er es denn machen sollte, dieses Leben zu ertragen, fürderhin, auch nur noch acht Tage.

Wohl redete er es sich vor, dem Zufall zu vertrauen, in Geduld zu harren und in Arbeit zu vergessen. Wohl verhing er das Bild und rüstete eine neue Wand. Aber er hatte die Kraft nicht mehr, sich aufzuraffen und das Leid zu verwinden. Er war ganz erschöpft, und seine Seele hatte weggegeben, was sie an Mut, Wille und Entschlossenheit besaß. Wenn es nicht von außen kam, aus Zufall, ohne Zuthun, ein Geschenk, – aber es hätte wohl bald sein müssen, wenn's nicht zu spät werden sollte.

Manchmal meinte er, wenn der Tote erst aus dem Hause wäre, wenn er's vernichtete, in Stücke schnitte, verbrennte –! Er wagte nicht nach der Mauer zu sehen, wo's lehnte, und es verschnürte ihm die Kehle, so oft er vorüber kam – aber doch wieder, wenn's nimmer dort hinge, dann war ja überhaupt alles aus, hoffnungslos. Und immer wieder, alle Tage, verschob er den Mord, ob nicht vielleicht doch in der höchsten Not noch irgendwo Hilfe erschiene.

Eine Hilfe, eine fremde Gnade, ein Ereignis. Er wußte nicht, was es sein konnte, aber er hoffte mit inbrünstiger Zuversicht, weil er ja anders nicht leben konnte. Freilich, es mußte wohl 246 ganz was Besonderes und Seltsames sein, gar nicht vorzustellen, daß es zugleich mit Leidenschaft ihm das Geheimnis aus der Seele aufrüttle und dennoch auch wieder friedliche Gelassenheit und heitere Ruhe gewähre, zur Ordnung des Wirbels und Hut gegen raschen Betrug; wahrscheinlich eben, wahrscheinlich konnte es doch nur ein Mädel sein, das kräftige und thätige Wunder.« . . .

Aber auch das Mädchen kann das wirkliche Wunder nicht bedeuten, da die Liebe des Künstlers zu ihr ebenso wie die Begeisterung für die grüne Farbe nur nervöse Sinnlichkeit ist. »Nervosität« ist eben das Kennzeichen des ganzen Romanes. »Nervös« ist der Stil mit seinen kurzen Sätzen und Absätzen, »nervös« die Vortragsweise, »nervös« die Grundstimmung, »nervös« der Anfang ohne eigentlichen Anfang. »Nervös« ist von jetzt ab das Schlagwort der neuesten Litteratur!

Um dieselbe Zeit aber erschien im selben Jahrgang der »Freien Bühne« auch noch ein anderer Erzähler, der dem nervösen Zeitalter höchst erfolgreiche Opfer brachte. Einen größeren Roman zwar nahm die Zeitschrift nicht von ihm, die ja, wie mehrfach erwähnt, ihr weißes Papier so lange mit so großer Vorliebe den Ausländern öffnete, bis durch diese die jungen Deutschen so vollständig beeinflußt würden, wie Hermann Bahr es schon war. Doch kleinere Skizzen erschienen auch im ersten Jahrgang schon von Deutschen, so von Hans Land die kraftvolle Novelle »Kontraktbrüchig«, so von Carl von Schlieben das kleine Stück »Veilchenstöcke«. Vor allen Dingen erschienen da neue Skizzen von Holz und Schlaf in Stile des »Papa Hamlet« und einige von Heinz Tovote.

Tovote stammt aus Hannover (geboren am 12. April 1864) und hatte in Göttingen seine Studien auf dem Gebiete der klassischen Philologie begonnen; er brach diese aber bald ab, weil ihn die allgemeine litterarische Strömung ergriff. Entsprechend der Richtung der Zeit machte er sich mit national-ökonomischen Fragen bekannt, und nachdem er einige mal in den jüngst-deutschen Blättern aufgetaucht war und sich auf einigen Reisen in Oesterreich, Ungarn und Italien umgesehen hatte, machte er sich im Sturmjahr der »Freien Bühne« (1889) in Berlin 247 seßhaft und brachte ein Manuskript mit, das er mit ungeheurer Geschwindigkeit in der Zeit vom 28. Febr. bis 15. März desselben Jahres in München geschrieben hatte: seinen Roman »Im Liebesrausch«, den er vergebens einigen größeren Verlegern anbot, bis eine wenig bekannte Firma das 414 Druckseiten starke, so schnell auf das Papier gestürmte Buch herausgab und fast im Augenblick einen ungeheuren Erfolg damit erzielte.

Für jene Zeit der Vorreden und Selbstberäucherungen, die beim Erscheinen seines Werkes im Schwunge war, berührte es angenehm, daß das erste Blatt seines Romans auch wirklich die ersten Worte des Romans enthielt. Aber wer das Buch zu Ende gelesen hatte, – und die meisten lasen es in einem Zug durch – der stieß zuletzt auf ein Nachwort, und dies war allerdings ganz »zeitgemäß«: es war der wörtliche französische(!) Abdruck einer alten Vorrede Edmond de Goncourts. Also ein französischer Heiliger war auch von diesem jungen Deutschen zu seinem Schutz heraufbeschworen worden, – schon damit waren die ausländernden Kritiker entwaffnet. Die deutsche Ware hatte den Pariser Stempel erhalten. Goncourt setzt darin zwei Dinge auseinander: erstens, daß der Realismus sich nicht bloß mit den unteren Gesellschaftsklassen und mit dem Häßlichen auf Erden zu beschäftigen habe, sondern auch mit den gesellschaftlich höheren Regionen und mit dem, was schön und liebenswürdig sei. Zweitens aber erklärt er, daß man mindestens vierzig Jahr alt sein müsse, um einen wirklichen Sittenroman schaffen zu können; was man in den zwanziger und dreißiger Jahren schreibe, das sei nicht viel mehr als ein gewisse Liebäugelei mit dem Stoffe (coups de lorgnon).

Wie konnte der Leser aufatmen, wenn er hier erfuhr, daß er sich wieder für anderes interessieren dürfe als für plattsprechende Bauern oder für berlinernde Arbeiter! Ein moderner Franzose hatte es erlaubt! Und so trat denn Tovote gewissermaßen Hand in Hand mit Hermann Bahr auf: zwei Propheten der frohen Botschaft, daß es nun zu Ende sein dürfe mit dem qualvollen Ernst der sozialen Dichtung. Lebensgenuß sollte wieder gefeiert werden in der Zeit, wo die Jugend Trumpf war. Jetzt lachte und weinte man in wenigen Wochen einen ganzen Dirnenroman auf das Papier, und darin duftete es von Parfüms, und blitzte es von eleganten Möbeln, und klang es von Champagnergläsern, und kicherte es von Schelmengelächter, und funkelte es von Nixenaugen, und rauschte es von seidenen Kissen, und flimmerte es von wonnigen Nachtampeln und gab doch einen »sozialen« Roman! Und wenn dann einmal jählings die wirkliche »soziale Frage« ihr struppig trübseliges Arbeiterhaupt erhob, dann trank man ihr den schäumenden Sektkelch zu und lachte ihr den lustigen Trost entgegen: »Warte nur, bis ich erst vierzig Jahr alt bin, dann werde ich dich schon lösen!« – Darin lag etwa die eine Erklärung für das Geheimnis des Tovoteschen Augenblickserfolges. Die andere freilich lag in seiner Begabung, die von vornherein starke Seiten aufwies:

Tovote versteht es, zu schildern – und zwar mit einfachen und natürlichen Mitteln. Er braucht nicht die symbolistischen Sprachverrenkungen, bei denen Hermann Bahr in die Schule gegangen ist. Er ist weit weniger eigenartig, als 248 jener, aber darum auch um so viel ansprechender. »Nervös« ist er auch und will es sein, aber er wühlt sich nicht so einseitig in die Seelenstimmungen der Menschen hinein. Er sieht auch die Außenwelt. Und er sieht sie mit der immer munteren Stimmung des leicht empfindsamen Lebemanns. Läßt er seinen Helden in einem Café am Potsdamer Platz sitzen, oder läßt er ihn die Leipziger Straße oder die Linden hinunterfahren, so lebt das ganze Landschaftsbild der Straße vor uns auf mit Häuserfronten, Fernsichten, rasselnden Wagen und treibenden Menschen. Jeder Teil von Berlin zeigt sich uns in klarer Eigenart, – aber nicht feststehend in bedeutungsvoller Schwerfälligkeit, wie die Münchener Stadtteile in Conrads »Isarroman«, – nein, leicht vorüberhuschend, wie sie der vornehme Herr oder die feine Dame durch die Scheiben des dahinrollenden Wagens erblicken. Dasselbe Berlin, das Kretzer zum Schauplatz des wuchtigen Heldenliedes von »Meister Timpe« gemacht hatte, erheitert sich bei Tovote zum Tummelplatz der liebenswürdigen Müßiggänger. Dieselbe Menschenart, die jener mit der Keule schwerfälliger Tragik niederschlagen will, lädt dieser zum ewigen Bankett des Lebens ein. Mit einem Wort, der Realismus ist jetzt salonfähig geworden; Hermann Bahr hat ihn ins Barocke, Tovote hat ihn ins oberflächlich Leichtsinnige übersetzt! Wie entzückte weite Kreise dieser »Liebesrausch«, darin von einem sonderbaren sozialistischen Aristokraten und seinem nicht standesgemäßen Liebchen die Rede ist. Die Tochter eines Fuhrmanns, früh auf Abwege geprügelt, ist dem vornehmen Lebemann erst als berlinernde »Engländerin« in Helgoland erschienen und begegnet ihm später wieder in Berlin. Obgleich sie selbst im Bewußtsein ihrer Vergangenheit sich ihm wieder entziehen will, wird sie endlich doch die Seine, und obgleich er ihre Kaffeehaus- und Liebchen-Vergangenheit allmählich erfährt, führt er sie doch seiner äußerlich und innerlich adeligen Mutter auf dem Gute zu und läßt sie später als rechtmäßige Herrin in seine Tiergartenvilla einziehen. Den bald ausbrechenden Familienskandal besiegt seine Liebe; aber wie der Sinnenrausch verflogen ist, traut er der schönen Frau allzuleicht Rückfälle in die Sünden ihrer Vergangenheit zu und treibt sie durch Lieblosigkeit und Eifersucht in den frühen Tod. So alt dieses Thema unzähliger französischer Romane und ihrer deutschen Nachahmungen ist – Tovotes flotte Darstellung mit ihrer ununterbrochenen Anschaulichkeit, die lebhafte und oft tief eindringende Seelenmalerei und der warme Ton des Ganzen ließen alles frisch und neu erscheinen. Aber von Roman zu Roman wurde die Einseitigkeit seiner Phantasie mit den ewigen gefallenen Mädchen und weibesschwachen Männern unerträglicher. Einen gewissen höheren Aufschwung schien seine Begabung zu nehmen, als er in dem Roman »Mutter!« ähnliche Ehebruchsverhältnisse zu einem tragischen Motiv zuspitzte; ein ehrlich liebendes Paar erfährt mit Entsetzen, daß es Bruder und Schwester ist. Aber schon in der Fortsetzung dieser Erzählung: »Frühlingssturm« zeigt sich der tragische Liebhaber des vorigen Romans als leichtfertiger Lüstling, und die Herrschaft, die eine buntschillernde kapriziöse Dirne »Lotti« über hochbegabte Männer ausübt, ist der leitende Faden in einem wilden Durcheinander von wüster Sinnenfrönerei. Und das »Ende vom Liede« – die Verführungsgeschichte einer Erzieherin durch einen Maler, der in allen den Romanen vorkommt, sinkt auch 249 sprachlich auf einen unglaublichen Tiefstand hinab, wenn da Sätze vorkommen wie: »Jau war gleich dabei, mit ins Theater, hatte sich gelangweilt, ein paar Briefe geschrieben und immer überlegt, was er mit dem Sonntag beginnen sollte.« In der Vorrede jedes dieser Romane bittet Tovote gleichsam um Entschuldigung, daß er sich »nicht den größeren Fragen der Gegenwart zuwende«, daß er »Fallobst«, so heißt eine seiner Skizzensammlungen – aufgelesen, da ihm die gesunden Früchte noch zu hoch hängen, beruft sich auf seine Jugend und vertröstet den Leser auf spätere bedeutendere Werke. – Statt dessen verflachte er sich täglich mehr.

So schnell kann auch eine reiche Begabung sich ausgeben, wenn sie sich überhastet und wenn sie beständig nur im Sinnlichen wühlt. Fast wehmütig berührt es, wenn zum Schluß des »Ende vom Liede« der Verfasser den Maler Hansen die Summe aus seinem eigenen Leben ziehen läßt bei der Betrachtung seines eigenen letzten Bildes. Es stellt einen Ritter dar, der von lachenden nackten Weibern mit Rosenketten auf die Eisenbahnschienen gekreuzigt ist, während von ferne ein Eisenbahnzug herangebraust kommt, mit lärmenden Proletariern gefüllt: – »indessen da draußen die anderen mühselig an der Arbeit waren, hatte er in Liebesbanden gelegen – nun ging die Wucht der Zeit mit zermalmendem Rade achtlos über ihn hinweg.« – In der That kein übles Bild für einen großen Teil der damaligen schriftstellernden Jugend, die im Dirnengetändel unterging, während die großen Fragen der Zeit, die am Anfange der litterarischen Revolution wie Fackeln geleuchtet hatten, ihnen jetzt nur noch den Schein abgeben sollten zum verweichlichenden Sinnengeschleck. Mit der Ueberkraft hatte man begonnen, mit der »Nervosität« endete man.

Ehe Tovote jene Romanreihe zum Abschluß brachte, gab er noch eine Skizzensammlung heraus unter dem bezeichnenden Titel: »Ich, Nervöse Novellen« (Berlin 1892). Der Titel rechtfertigt sich dadurch, daß in der That hier lauter nervöse, oder richtiger nervenschwache Menschen ihre Stimmungen zeigen. Natürlich sind sie alle sinnlich überreizt. Da steht ein Paar in der Pferdebahn, um der lange erstrebten Vereinigung entgegenzufahren, aber ein Pferd des Wagens gerät unter die Räder, und der Anblick des Blutes verleidet beiden ihr Vorhaben und tötet in der Nacherinnerung ihre Liebe. Da ist ein Offizier zu der nervösen Empfindung gekommen, daß er schlafende Menschen für tot hält, und, von dieser Zwangsvorstellung beherrscht, stört er fortab jeden Schlafenden, um ihn wieder in einen Lebenden zu verwandeln. Ein anderer Offizier schläft im französischen Feldzuge zufällig in einem Schloßzimmer, das früher eine Dame bewohnt hat; er wird von der Zwangsidee beherrscht, sich beständig die leibliche Erscheinung dieser Schönen vorstellen zu müssen. – Ein anderer junger Mann hat das erlebt, was Tovotes Helden so oft erleben: es hat sich seinetwegen ein Mädchen getötet – und überall glaubt er sie noch wandeln zu sehen. – Uebrigens sind unter diesen Geschichten solche aus seinen Anfängen, die noch große Kunst der Darstellung zeigen: so die Skizze »Fallende Tropfen«, die schon im ersten Jahrgang der Zeitschrift »Freie Bühne« erschienen war. Sie zeigt die qualvollen Phantasien eines »Nervösen«, den der an die Fenster schlagende Regen nicht einschlafen läßt. Aber diese Kunst 250 – auf was für Nichtse ist sie wieder verschwendet! – Eine kleine Skizze aus der besten Zeit Tovotes mag hier zur Probe folgen.

Schattenriß.

Den Mantel fest um die Schultern gezogen, gehe ich Abends langsam durch stille Straßen, Ich habe das Bedürfnis nach Einsamkeit.

Ein dumpfer, feuchter Novemberabend flutet mit grauem Nebel in den engen Gassen und Gäßchen der Stadt und windet seine zerfließenden Dunstschleier um die hochragenden Spitzgiebel der alten Gebäude.

Die Häuser in diesem abgelegenen Viertel sind klein und unansehnlich, mehr Dach als Haus. Die niedrigen, engen Fenster verschmutzt, hie und da eine der quadratischen Scheiben mit Pappe oder schwarzgewordenem dicken Papier notdürftig verklebt.

Die Thüren sind schmal und kaum so hoch, daß man, ohne sich bücken zu müssen, eintreten kann. –

Von einem nahen Kirchturm, den ich aber nicht sehen kann, schlägt es dumpf und heiser; Neun! Die Töne scheinen sich in dem immer dichter fallenden Nebel zu verlieren.

Ich gehe weiter und biege in ein Gäßchen ein, so eng, daß kaum ein Wagen durchfahren kann.

An der einen Seite eine hohe, graue Mauer, von der der Kalk in großen Fetzen abschilbert; und über diese hohe Gefängnismauer strecken ein paar armselige Bäume ihre nackten, schwarzen Finger.

Auf der anderen Seite hebt sich die Rückwand einer Brauerei, kleine, engvergitterte Fenster, aus denen ein ersterbend schwacher Lichtschimmer sickert.

Dann kommen, sich ängstlich anlehnend, ein paar kleine bettelarme Häuser, so zerfallen, daß sie selbst für diese Gegend gar zu schäbig scheinen.

Kleine Handwerker wohnen hier, Schneider, Flickschuster und Arbeiter mit ihren Familien, zwischen denen wie verschwammt das Elend hockt.

Die Straße ist mit runden, faustgroßen Kieseln gepflastert, so uneben, daß man beständig über einen der hervorstehenden Steine stolpert. In der Mitte führt die Abzugsrinne, darin ein zäher, graumuffiger Schlamm stockt.

An einem der Häuser, seltsam, wird gearbeitet, es wird ausgebessert, und ein Maurergerüst ist aufgeschlagen, das die ganze Straße überdeckt.

Mitten zwischen den Brettern und Bohlen ist halbversteckt eine trübe Gaslaterne, ein Arm von der Wand der schiefstehenden Gartenmauer aus; die einzige Laterne in dem Gäßchen, geschützt gegen die herabfallenden Steine beim Bau mit einem zerrissenen, alten Kohlenkorbe, so daß ein seltsames Halbdunkel in dem engen Durchgang brütet. –

Ich winde mich zwischen den Gerüstpfeilern durch. Aus einem der verstaubten, mit einem Drahtgitter übersponnenen Fenster schwimmt ein fahler Lichtschein durch den rotgeblümten Kattunvorhang . . . dann nimmt mich wieder das Dunkel auf, doch nur einen Augenblick lang; im nächsten fällt aus der geöffneten Hausthür ein breiter gelber Lichtstreif.

Dreißig bis vierzig Schritt weiter mündet das Gäßchen in eine breite Verkehrsstraße der Stadt, und ich sehe die Wagen an diesem schmalen Spalt vorüberrollen und im grellen Lichte zwei Menschenströme gegeneinander fluten, während ich selbst im tiefsten Dunkel stehe.

Ich bin stehen geblieben, und wie achtlos werfe ich einen Blick in die Hausthür, und jetzt verharre ich, um mir das unerwartete Bild zu betrachten.

Am Boden, auf den rötlichen Steinfliesen, steht eine Kerze, ein hohes Licht in einem schmutzigen, unförmigen Messingleuchter.

Ein gelber, zuckender Schein flattert durch den engen Hausflur.

Im Hintergrunde steigt eine schmale, gebrechliche Treppe leiterartig steil an, und auf der zweiten Stufe, eine tief ausgetretene, morsche Holzstufe, sitzt unbeweglich eine schwarze Katze, den Kopf eingezogen und spinnt und blinzt in das Licht.

251 Neben der Katze steht ein großer blecherner Eimer mit blasigem Schmutzwasser, und der braune Scheuerlappen aus grobem Sacktuch hängt schwerfeucht etwas über den Rand.

Es ist, als ob ihn jemand eben dorthin gestellt hat. –

Vor dem Eimer steht ein kleines Mädchen in verschlissenem Kleide, an dem sie die nackten Arme schlaff herunterhängen läßt.

Das Kind mag vielleicht drei Jahr alt sein. Es regt sich nicht, wie angewachsen sieht es unverwandt in das leicht im Windzuge zusammenzuckende Licht.

Die kleine Gestalt im zerfetzten, schottisch karrierten Kleide hebt sich dunkel von dem Lichthintergrunde der weißen Wand ab, über die flüchtige gelbe Schatten vom Flackern der Kerze hinhuschen und verschwinden.

Scharf hebt sich die feine Silhouette des regungslosen Kindes von dieser leuchtenden Umgebung ab, die von der Thüröffnung wie von einem breiten braunen Rahmen scharf umgrenzt wird.

Wie eigentümlich das anmutet, diese starre Regungslosigkeit, als ob das alles tot sei, und nur das gelbe Flackerlicht das einzig Lebendige.

Jetzt bewegt sich das Kätzchen und leckt sich die Pfote, langsam bedächtig, ohne von mir dabei Notiz zu nehmen. –

Ich reiße mich von diesem unerwarteten Bild los und gehe weiter . . .

Nur wenige Schritte von der Thür steht ein junges Weib, dort, wo aus dem kleinen Schaufenster, einer Art Leihbibliothek schmutzigsten Ranges, das rötliche Licht einer Petroleumlampe fällt.

Neben dem Mädchen ein Mann, ein Herr, seiner Kleidung nach. Sie selbst im braunen Unterrocke, ein Shawltuch hastig um die Schultern geworfen, ängstlich, als ob sie im Unrecht gehandelt.

Absichtlich gehe ich ganz dicht an dem Paare vorbei, weil ich ihr Gesicht sehen will.

Es ist sehr hübsch, ein voller, etwas sinnlicher Mund und dunkle Augen, die wie scheu abirren, als sie sich beobachtet fühlt.

Leise flüstern sie miteinander, und ich höre die Stimme des Mannes, flehend eindringlich.

Das Mädchen beugt sich zurück, und dann senkt es den Kopf und zupft unruhig an dem Tuche, das von der Schulter zu gleiten droht . . .

Dann bin ich an ihnen vorüber. –

Ob es die Mutter ist zu dem Kinde, das ich eben gesehen habe . . . die Mutter, die für einen Augenblick aus dem Hause entschlüpft ist?

Und nun bei einem Herrn auf der Straße steht.

Ich blicke mich noch einmal um.

Der Mann hat sich gebeugt und spricht auf sie ein, leidenschaftlich – und wie ängstlich schmiegt sie sich an die Mauer, und doch geht sie nicht, sondern hört ihm zu und – läßt sich von seinen Worten bethören. –

Dann biege ich in die Hauptstraße ein . . . Augenblendende Helle, Rädergerassel, eilende, sich überstürzende Menschen, ein wildes Gewühl, Bilder auf Bilder, wie mit Blitzesschnelle sich folgend, daß die kleine unscheinbare Szene sich rasch wieder verwischt, die ich soeben beobachtet habe, ohne doch sagen zu können, was sie bedeuten mag. . . .« –

Und doch trug sich Tovote noch im Jahre 1892 mit kühnen Plänen, über die sein Freund Grottewitz berichtet:Die Zukunft der dtsch. Litteratur, Berlin 1892, S. 99. »In seinem kleinen, altmodischen, aber recht behaglichen Arbeitszimmer in der Kanonierstraße suchte ich ihn auf. Auf dem Tische lag »Clair de line« von Maupassant, seinem Lieblingsschriftsteller; wir kamen auf sein neues Buch . . und damit auch auf seine dichterische Eigenart zu sprechen, die ihm den Namen »eleganter Realist« eingetragen habe. – Von diesem Beinamen mochte er 252 nichts wissen. O nein, sagte er, das bin ich nicht immer. Da habe ich jetzt einen Roman vor – »Glühendes Eisen« – der ist gar nicht elegant. Er spielt in einer Maschinenfabrik in Hannover. Ich selbst sollte früher eine Maschinenfabrik von meinem Onkel übernehmen. – Mit der Lebhaftigkeit, die Tovote im intimsten Gespräche eigen ist, mit jener Frische und Hoffnungsfreudigkeit, die junge Schriftsteller charakterisiert, entwickelte er mir weiterhin seine Pläne. Er wolle einen Roman »Stillgestanden« schreiben, der mit dem Wort »Stillgestanden« beginnen und die Stimmung schildern soll, die junge Freiwillige beim Eintritt in den Militärdienst durchmachen. Sodann beschäftige er sich mit einem Roman »Das tägliche Brot«, der das Leben in der Großstadt schildern und zeigen solle, wie junge Leute ihre Ideale durch die Sorge ums tägliche Brot immer wieder zurückdrängen müssen.«

Schöne Vorsätze! In den acht Jahren aber, die seit dieser Unterredung verstrichen sind, hat er von diesen drei geplanten Romanen noch keinen erscheinen lassen, und so kann er auf sich selbst die Worte anwenden, die er seinem Maler Hansen in den Mund legte: Ich »muß nun einmal in meiner Sphäre bleiben, ich kann nicht anders!« – Und so hätten viele der Jüngsten bald von sich sagen können.

So war der soziale Roman allmählich zur erotischen Dirnennovelle verblaßt. An Stelle des tiefen Ernstes war die frivole Lebensauffassung getreten.

Und wie so mehr und mehr die ernsten Forderungen von einst den Jüngstdeutschen verloren gingen, begannen sie auch allmählich wieder nach nur heiterer Kunst zu streben.

 


 


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