Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Die Aechtung der Lyrik und das Ringen nach dem neuen Roman.

In einer neuen Auflage seiner Revolutionsbroschüre hatte Bleibtreu, der sonst so eifrige Verfechter der Lyrik, dieser Dichtergattung ganz plötzlich den Krieg erklärt. Bei Gelegenheit einer Besprechung einer schon wieder neu zusammengetretenen Sängergruppe – des »Quartettes« von Henckell, Hartleben und anderen – hatte er gemeint, es sei jetzt genug des ewigen Liederdichtens, und wer von den Jüngsten etwas zu sagen habe, möge das in Prosa thun. Zum erstenmale taucht hiermit der verhängnisvolle Gedanke auf, der später die jüngstdeutsche Litteratur verheeren sollte – als sei der Vers ein veraltetes Dichtungsmittel.

Freilich – das Liederdichten galt ja lange schon in der deutschen Litteratur nur als eine nebensächliche Beschäftigung. Seit Freytag und Spielhagen galt der Roman als die ernsthafteste moderne Dichtungsgattung. Ich habe ja in der Einleitung meiner Darstellung einen Ausspruch Karl Frenzels angeführt, wonach sogar das Drama dem Roman gegenüber in die zweite Linie gewichen sei. So mußten denn auch die jungen Revolutionäre ihre neuen Gedanken in die Form des Romans zu bringen suchen. Aber da nun einmal die ganze Litteratur neu werden sollte, so sollte denn auch dieser Roman ganz neu werden, und eine solche ganz neue 92 Darstellungsform strebte zunächst in München Conrad an mit seinem Roman »Was die Isar rauscht«.

Diese neue Form verwarf ganz die »Komposition«. Es sind nur Bilder, die hier aneinander gereiht werden, Bilder nach jeder Hinsicht: umrahmt jedesmal von einem anderen Hintergrund, jedesmal andere Figuren zeigend; und obwohl sie sich schließlich alle zu einem einheitlichen Ganzen vereinigen, so lassen sie doch nur sehr langsam den Faden des Geschehenen weiter gleiten. Und wenn wirklich eine »Heldin« durch alle hindurchgeht, so ist dies nur die Isar, die ihren Wellenschlag überall ertönen läßt, und die überall und in jeder Fassung das Herz des Dichters zu wahrer Poesie erwärmt. So ist denn auch das gelungenste Bild von allen dasjenige, wo die Tragik der Isar am klarsten zur Geltung kommt, und wo auch der Gegensatz der Alten und der Jungen – dieses Leitmotiv der ganzen Dichtung jener Tage – sich am klarsten erhebt. Da sitzen in einer uralten Gartenwirtschaft zum »grünen Baum« am Stromufer die verschiedensten Menschengruppen zusammen. Hinten in fröhlicher Gemeinschaft junge Studenten, unter denen der wohlbeleibte, trinkfröhliche Kugelmeier mit seinem egoistischen Humor die lebensvollste Erscheinung ist. Der fröhliche Genuß der Gegenwart läßt hier die Jugendzeit zu ihrem harmlosen Rechte kommen. Aber schwer sind die Herzen den alten Urmünchenern dort an ihrem gewohnten Platz dicht unter dem Küchenfenster, aus dem die Wirtin ihre gemütlichen Kommandos über »Kalbshaxen« und »Schweinszüngel« ertönen läßt. Die alten Spießbürger, die ihren Ehrenplatz seit vielen Jahrzehnten dort behaupten, hören mit Wehmut von den neuen großen Plänen der zu verlängernden Kaistraße, und ein alter Uhrmacher fühlt sein Herz vor Weh brechen, daß der »grüne Baum« für zweimalhunderttausend Mark von seinen Besitzern soll verschachert werden an die dreisten Unternehmer. Langsam entfernt er sich später, und am frühen Morgen zieht man ihn tot aus der Isar. – Mit Unbehagen betrachtet man an einem Nebentisch die Herren vom Verein der »Ungespundeten« (worunter wohl die Jüngern um Conrad zu verstehen sind), und eigentümliche Vermutungen über den König durchschwirren die Luft. Die Isar aber rauscht unbekümmert dahin und ahnt nichts von den großen Plänen, die in der That die spekulativen Köpfe allerorts bewegen. Zwei große Bankmänner lernen wir in anderen Bildern kennen, die sich beiderseits mit den Plänen der neuen Uferstraße tragen. Der kleine, bewegliche, helläugige, pfiffige Weiler, der schließlich doch der »Hereingefallene« ist und seinen Bankrott nicht mehr verheimlichen kann; und der dicke, schwerfällige, aber weitblickende Raßler, der in seinem Berufe so eisern, ruhig und stark ist, wie in seinem Hause wächsern und schlaff. Die schöne Frau, eine einstige Schauspielerin, hat ihn nur genommen, um den Nachstellungen und Verdächtigungen der Welt zu entrinnen; und in lieblos kalter Ehe wendet sie ihr Herz einem abgegangenen Offizier zu, der vergebens erst in einer Fabrik, dann in litterarischer Beschäftigung Befriedigung und Unterkommen gesucht hat. Als ein unverbesserlicher Don Juan verzettelt er sein kleines Vermögen und verpraßt seine Gesundheit in allnächtlichen Freuden. Die Lebewelt von München spottet schon über den Wagen, der ihn am Gärtnerplatztheater abholt, und in dem 93 er mit der schönen Kommerzienrätin Raßler stundenlang dahinfährt. Die alte treue Brigitte aber, das Familienfaktotum, das um den in Amerika verkommenden Bruder schon lange weint, sieht nun auch den anderen Bruder ruhelos dem Untergange entgegentreiben; und wie sie mit auflodernder Freude ihn von der Liebschaft mit der Kommerzienrätin zurückkommen sieht, ahnt sie schon, daß der ewig Wankelmütige nur nach anderen sucht. Während so die Lebewelt in vornehmen Sünden schwelgt und die Spießbürger und Studenten im Bier verdummen, schwingt ein Geächteter die Geißel des Femgerichts über alle die oberen Zehntausend – das ist der »Preßbandit«, ein verkommener Journalist, der ein Revolverwitzblatt herausgiebt: die Kloake. Vor ihm zittert jeder. Als ein Wegelagerer mitten in der Großstadt erhebt er seinen teuren Zoll von jedem, der nicht in den Spalten seines Blattes gebrandmarkt werden will – und alle haben sie Grund, ihn zu fürchten, denn alle haben sie Blößen zu verdecken, die er regelmäßig aufspürt: bis ein spleeniger Engländer den elenden Erpresser zum einäugigen Krüppel zerboxt. – In diesem bunten Bilderbuche fehlt auch die Gruppe der Künstler nicht ganz. Ein Bildhauer vertritt den krassen Naturalismus. Aus der Entfernung hören wir auch von dem Künstlerverein »Hölle« (wohl im Gegensatz zu Heyses Paradies), der seine Einladungen an Gerechte und Ungerechte versendet und den Kommerzienrat Raßler als großen Mäcen nicht vergißt. Aus noch größerer Entfernung schreibt auch der Architekt Zwerger seine Briefe an Drillinger. Während er Italien durchreist, trägt er sich mit großen Entwürfen über einen kühnen künstlerischen Plan zum Bau der neuen Uferstraße, und aus der Entfernung weiß er diesen auch schließlich durch den Münchener Architektenverein bis vor die Augen des großen Raßler zu bringen. Aus seinen Briefen hören wir auch, wie er mit des Studenten Kugelmeier hübscher, kluger Schwester, einer eifrigen Archäologin, sich über dezente und undezente Gegenstände der Kunst unterhält und sich endlich mit ihr verlobt. Diese letzte Nachricht bricht das Herz eines Freundes Kugelmeiers, eines jungen Studenten Schlichting.

Dieser, ein junger Zukunftsdichter, fühlt sich von dem oberflächlichen Treiben der Studenten abgestoßen und findet als einsamer Jünger bei zwei einsamen Alten Trost, beim weltfeindlichen Dr. Trostberg – das ist nun der unvermeidliche Schopenhauer-Verehrer, der in fast allen diesen Romanen wiederauftaucht, als Vertreter der »Alten« – und bei dem großen Sonderling Effenbach, dem einsamen Höhlenbewohner. Unschwer ist hier der wenig veränderte Name eines Malers zu erkennen, der lange im Höllenthal bei München lebte als ein Vegetarier und Naturmensch. Wie die rauschende Isar von Anfang an den Roman durchflutet hat, so ist, an ihren Gewässern nächtlicher Weile sitzend, auch dieser Meister, der weltscheue, innerlich große Diogenes, schon im ersten Kapitel dem jungen Schlichting vor die Augen getreten, und nun eilt dieser am Ende des Ganzen zu dem Maler hinaus, um sich dort wieder Lebensmut und Gesundheit zu holen. Ueber all den Gestalten aber schwebt noch eine hoheitsvolle, oft genannte, aber nie erschaute. Denn, nie auftretend steht im Hintergrunde König Ludwig, der Wagnerfreund, zu dessen heimlichen Dichtern vorübergehend auch Trostberg gehört. – Der Ausbruch des Wahnsinns und der Tod des großen Sonderlings im Starnberger See – nur 94 skizzenhaft berichtet – steht als Schluß des Ganzen da und hilft das aus Bildern zusammengesetzte Bild würdig vollenden. Ueberblickt man das ganze Mosaikwerk nur aus der Entfernung, so muß man sagen, zur Dichtung fehlt ihm viel: Vor allem Einheit und Spannung. Die zersplitternde »Neben-Einandermalerei« hat den Verfasser oft genug in die Breite getrieben, und man hat das Bedürfnis – wie Drillingers Haushälterin bei Zwergers langen Briefen – oft nur den Anfang und ein paar Stichproben aus der Mitte zu lesen; aber in der Gesamtheit erscheint der Hauptzweck vollkommen erreicht: lebensvoll und vielseitig steht sie vor uns, die große »Bier- und Kunststadt an der Isar«. Und wer sie auch nur in diesem Bilde erblickt hat, der glaubt sie wirklich zu kennen. – Gleichzeitig versuchte Bleibtreu in Berlin einen Roman mit noch größerer Ausdehnung in ähnlichem Stil. –

»Größenwahn«! – Der Titel deutet das Thema an: den Größenwahn als weitverbreitete Krankheit der ganzen Menschheit zu zeigen. Also der Veranlagung Bleibtreus entsprechend: ein philosophischer Gedanke. Hier soll darum nicht die Zuständlichkeit die Hauptsache sein, hier sollen die Betrachtungen einer leitenden Idee untergeordnet erscheinen. Weitgereist, will Bleibtreu gleichzeitig die Erfahrungen seiner mannigfachen Fahrten und Wanderungen verwerten, so soll es also sich hier um einen Großstadtroman im weitesten Sinne des Wortes handeln: bei allem nationalen Empfinden soll das Gebiet der Schauplätze international sein. So ist denn schon der Held – Graf Krastinik – ein Deutsch-Ungar, und die erste Wanderfahrt des unbegrenzt beurlaubten Genieoffiziers führt ihn nach England, wo sein Onkel und eine Tante ihn in die Kreise der vornehmen Welt einführen. Der Größenwahn eines einflußreichen Verlegers und der Größenwahn der vornehmen Welt von London, die in ihren steifen Gesellschaften die wahre Kunst der Geselligkeit erblickt – das sind die ersten Etappen. Und schnell erkrankt der Held selbst an einem Anfall der Weltkrankheit, indem er sich für einen Dichter hält und sich in naturalistisch zynischen Novellen nach neuester Methode versucht. Eine sonderbare Verkettung von Umständen führt ihn nach Deutschland. Der Maler Rother, der in Berlin im Liebesbanne einer unergründlichen Kellnerin Höllenqualen der Eifersucht aussteht, erfährt, daß deren erster Geliebter sich jetzt in England aufhält, es ist Graf Krastinik. Sogleich setzt sich Rother auf die Bahn und das Schiff, dampft nach London, erscheint bei dem Grafen, der eben selbst um eine schon eingefädelte Heirat mit einem reichen Mädchen gekommen ist; beide Männer lernen sich kennen und schätzen. Der Graf begleitet den Maler nach Berlin. Dort will er nun recht aus dem Vollen die moderne Litteratur kennen lernen. Er erscheint in dem Verein »Drauf« – natürlich ist der Verein »Durch« gemeint – und hört überall auf die Führer der litterarischen Revolution lästern, die ihm eines Tages zufällig auf der Straße bekannt werden: Leonhart und Schmoller – man denkt unwillkürlich an Bleibtreu und Kretzer. Namentlich zu Leonhart fühlt der Graf sich sogleich stark hingezogen, je mehr er die Jungen und die Alten auf ihn schelten hört; und nachdem er dessen sämtliche Werke gelesen, erklärt er ihm schriftlich, daß er ihn für den einzigen, wirklich großen Dichter der Zeit halte. 95 Ja, er sieht von jetzt ab einen Teil seiner Lebensaufgabe darin, diesem großen Dichter den Weg bahnen zu helfen. Er geht dabei so weit, ein Stück, das Leonhart geschrieben hat, mit seinem Namen zu decken. Als Graf, dem die Pforten zu allen Gesellschaftsklassen aufspringen, ermöglicht er es leicht, das Drama unter seinem Namen am »Deutschen Theater« zur Aufführung anzubringen; aber an demselben Tage, wo der Beifall durch das Haus rast, ist Leonhart unter unerträglichen Seelenqualen dem Verfolgungswahnsinn zum Opfer gefallen und hat sich auf die Eisenbahnschienen geworfen. Krastinik, den alle Zeitungen als großen Dichter feiern, sieht sich plötzlich der Versuchung ausgesetzt, den Ruhm, den er neidlos mit seinem Namen dem Freunde erobern wollte, nun dauernd für sich in Anspruch zu nehmen. Aber er überwindet siegreich. Auch er reist ab, und aus der Ferne sendet er einer Zeitung die Nachricht, daß Leonhart der Verfasser jener Dichtung sei; für sich selbst aber entsagt er gleichzeitig allem dichterischen Schaffen, denn er hat an Leonhart erkannt, was wahre Dichtergröße ist, und ein stümpernder Dilettant will er nicht sein. Leonharts Bild verfolgt ihn aber überall. Am Gestade des Meeres träumt er von ihm, und allmählich, ganz allmählich erst lernt er einsehen, daß auch dieser Mensch nur ein Mensch mit Fehlern war; daß neben seiner Dichtergröße kleinliche Züge sein Wesen entstellten, daß er es nicht verstanden hat, den Mangel an äußerer Anerkennung zu überwinden und sich stolz in sich selbst zurückzuziehen. Dem Grafen aber, der nun seinen Dichterirrtum erkannt hat, bietet sich eine natürliche Aufgabe in der Erziehung der hinterlassenen Kinder eines plötzlich verstorbenen Bruders, der ihn zum Vormund eingesetzt hat. Im Gutsstillleben sucht er bei seiner jahrelangen Abgeschlossenheit von der Geisteswelt neuen Trost in einsamen Studien; die Naturwissenschaften sind es namentlich, denen er sich zuwendet. Darwins Lehre und die Errungenschaften der Erfahrungswissenschaften bemächtigen sich seines Geistes. In einer Fülle miteinander ringender Gedanken strebt er nach einer realistischen Weltauffassung, frei von religiösem Dogma und in Uebereinstimmung mit den Errungenschaften der modernen Erkenntnis. In reicher und überreicher Fülle strömen ihm erhabene Gedanken zu, aber er sieht ein, daß die endgültige Lösung schwer ist. Und mitten aus seinem Brüten reißt ihn die Nachricht bevorstehender Kriegsereignisse. Geläutert und zu innerlicher Größe gereift, beschließt er: zurückzukehren zu seinem einst verschmähten Offiziersberuf – und vor ihm liegt die Mannesthat.

Gerade dieser Schluß der Dichtung ist der Höhepunkt des Ganzen. In den einsamen Gedankenkämpfen des Helden zeigt sich die Fülle des inneren Reichtums des Verfassers, der selbst als ehrlicher Ringer nach einer einheitlichen Weltanschauung hinter seiner Dichtung steht. Desto unfaßlicher erscheint mancher andere Teil des Buches: vor allem die Liebe in all den Spielarten, in denen sie hier auftritt. In dem ganzen Buche ist keine Frauengestalt, die auch nur um Haupteslänge über die Trivialität sich erhöbe. Die Kellnerin hat es dem Maler Rother angethan. Warum? Weil sie hübsch ist. Andere Vorzüge hat sie nicht. Daß sie eine Kellnerin ist, wäre ja sicherlich der geringste Schade – aber sie ist auch ihrem innern Geistes-, wie Herzens-Bildungsgrade nach nichts anderes. Und in ihren Banden 96 zappelt der geistreich gedachte Maler bis zum Selbstmord. Und wen liebt Leonhart? Auch eine Herrin in einer Weinkneipe trauriger Art. Auch sie ist nichts weniger als bedeutend. Ja, sie liebt ihn nur, weil sie seinen Namen nicht kennt und ihn darum für einen anderen – einen berühmten Dramatiker hält! Daß die Liebe gerade bedeutender Menschen sich oft an ein Nichts hängt, ist der ewig wiederholte Gedanke Bleibtreus. Er behandelt die Liebe nur als Unverstand. Und so weht denn durch das Leben all dieser Menschen die Kneipenluft. Natürlich wollte er kein völliges Selbstporträt von sich im Leonhart entwerfen, natürlich mengt er Zufälliges und Erfundenes mit einigen Grundzügen seines eigenen Wesens. Aber oft genug hat man wohl mit Recht den Eindruck, daß er für sich selbst plädiert, wenn er den ungeheuer schreibseligen Leonhart gegen den Vorwurf des hastenden Strebertums verteidigt und darauf hinweist, daß jener unaufhörlich gedrängt würde durch den Schaffenstrieb seines ruhelosen Inneren; wenn er den ewig sich selbst lobenden Leonhart in Schutz nimmt gegen den Vorwurf der Eitelkeit und dessen ständiges Selbstlob erklärt aus dem Bewußtsein der eigenen Kraft, mit stolzen Hinweisen auf sein Ueberlegenheitsgefühl bei mancherlei Verkennung; oder wenn er ausführt, daß Leonhart ein Mann sei, dem das Fördern junger Anfänger Bedürfnis ist und der nachher unter undankbaren Nackenschlägen der Geförderten zu leiden hat. Alles dieses sei zugegeben! Aber wozu diese endlos langen Ausfälle persönlicher Art? Wie kann ein geistreicher Mensch Gefallen daran finden, auf sechzig Seiten und mehr das armseligste Kaffeegeklatsch der jungen Litteraten noch weit verwässerter, ja noch absichtlich weit sinnloser wiederzugeben, als es gewesen ist? Was soll eine Satire gegen Dinge, die kein Mensch kennt, als die Betroffenen! Heute schon steht der nicht eingeweihte Leser verständnislos vor all diesen boshaften Eifersüchteleien, die nur für denjenigen Sinn haben, der die leichtverschleierten Namen errät. Ich bin weit davon entfernt, hier einen Kommentar für all dies Gewirr absichtlich entstellter Namen und immer nur höchstens halbwahrer Charakteristiken zu geben. Wer sich die Mühe machen will, all diese Pseudonyme zu entziffern, der findet in dem, was ich in den vorigen Kapiteln berichtet habe, Anhaltepunkte genug dafür. O, es weht dem Leser ein Geist grauenvoller Oede an aus dieser Schilderung, die das wirklich Gewesene noch weit heilloser macht, als es war. Daß sich hier nicht eine erfrischende, für alle Zeiten maßgebende Satire ergab, kam daher, daß Bleibtreu nicht über seinen Modellen steht, sondern sie persönlich angreift, wie denn auch einer der verspotteten Schriftsteller ihn gerichtlich zur Rechenschaft zog.

Mittlerweile hatte Paul Lindau den Gedanken des Berliner Romans aufgegriffen und begann einen ganzen Zyklus. In zwei Bänden stellt er zunächst hoch und niedrig einander gegenüber. Die vornehmeren Kreise der Weltstadt, die sich in den Villen und Gartenstraßen des Westens zusammenfinden, schilderte er in dem »Zug nach dem Westen«(1886). – Kellnerinnen und Fabrikmädchen stellen sich dem gegenüber zur Schau im zweiten Bande: »Arme Mädchen«. So war die soziale Dichtung hier für den Salon paßrecht gemacht worden, und so erlebten die beiden Bücher eine kolossale Verbreitung und bildeten eine Zeit lang das Tagesgespräch in Berlin »W«.

97 Während so einer von der älteren Generation bereits als Prophet hinabzusteigen versucht hatte in die Schar der jungen Kämpfer, vermehrten sich dort die Reihen auch immer durch neuen jugendlichen Zuwachs. Als einer der wildesten und ungebärdigsten Stürmer machte sich dort neuerdings Konrad Alberti bemerkbar (eigentlich Konrad Sittenfeld, geb. am 9. Juli 1862 in Breslau). Als Zweiundzwanzigjähriger hatte er sich eingeführt mit der Flugschrift »Herr L'Arronge und das Deutsche Theater«, wo er in rücksichtsloser Weise das Theater in der Schumannstraße angriff. Dann ließ er einige Biographien folgen über Gustav Freytag, über Bettina v. Arnim, über Ludwig Börne, um mit einer erneuten Flugschrift sich gegen Theatermißstände zu wenden, die den doppelsinnigen Titel trug »Ohne Schminke«. Mitterweile bot ihm die »Gesellschaft« den willkommensten Kampfplatz für seine wilden und oft maßlosen Ausfälle gegen ältere Schriftsteller. Namentlich, was er über Paul Heyse sagte, überstieg alles Dagewesene. Die Verehrer dieses Dichters sah er wie Menschen an, denen Verstand und Ehrgefühl fehlt. Dabei pflegte er aber langsam und sorgsam sein eigenes Talent. Da ihm eigentliche Erfindungsgabe abging, so suchte er sie durch scharfen Verstand und spekulierende Beobachtung zu ersetzen, und seine ersten Novellen sammelte er in den beiden Bänden: »Riesen und Zwerge« und »Plebs«. Und dann versuchte er sich im ersten größeren Roman »Wer ist der Stärkere?« Dieser Titel schon zeigt an, daß der Kampf ums Dasein den Gegenstand bilden soll. Aber nicht nur das Ringen des Arbeiters um Lohn und Brot ist hier gemeint, nein, das Aufwärtsstreben an allen Orten. Das Neue im Kampf mit dem Alten, die Jugend im Kampf mit der vorigen Generation, das ist immer wieder das Thema.

Der Roman ist regelmäßig gebaut und in seinem Plan verstandesmäßig ersonnen, wie alles, was Alberti schreibt. So verkörpert sich die ringende Generation denn in drei jungen Männern, die drei verschiedenen Ständen entsprechen: in einem Offizier, einem Techniker und einem Gelehrten. Der Mittelpunkt, um den sie alle 98 äußerlich kreisen, ist natürlich wieder eine schöne sittenlose Frau, diesmal Lucie Semisch genannt; selbstverständlich die Frau eines Großkapitalisten, die nach einer langen Vergangenheit von Liebesabenteuern die unsinnig geliebte Gattin des reichen Mannes geworden ist. Und das Haus dieses Mannes ist natürlich auch wieder in neuen Gegensatz gerückt gegenüber der arbeitenden Klasse. Die großen Neubauten im Stadtteil Moabit beschäftigen ein Heer von Arbeitern, und die Seele der Unternehmerschaft ist Semisch, der betrogene Gatte. Wie die Insekten in die Flammen, flattern die Anbeter in das Haus der schönen Lucie. Der erste ist der junge, adelige Leutnant. Widerwillig folgt er ihrer ersten Einladung. Aber sein unbefriedigtes Dichtergemüt, das bei dem militärischen Drill vergebens Stillung seines Sehnens sucht, entflammt schnell zu heißer Sinnenleidenschaft; und so schmachtet er denn in Berlin und auf der Sommerfrische in Eisenach in den Banden der koketten Frau, die seiner heftig brennenden Eifersucht beständig Nahrung giebt. Der zweite der jungen Männer liebt die Schwester Luciens. Als ein sehr begabter Architekt und königlicher Baumeister hat er die großen Bauten in Moabit auszuführen. Wie aber die Unternehmer eine Herabsetzung des Arbeitslohnes vom Zaun brechen, treibt ihn sein gutes Herz, sich der Streikenden anzunehmen, und gegen seinen Willen wird er erst zum Führer, dann zum Geführten der Arbeiter, bis diese hinter seinem Rücken ihren Frieden mit den Unternehmern machen und ihn preisgeben. Der dritte Ringer endlich ist ein junger Mediziner, der mit seiner neuen Auffassung der Typhuserkrankungen auf den Widerspruch eines berühmten Universitäts-Professors in Berlin stößt und von diesem mundtot gemacht wird. Vergebens zieht der arme Landarzt aus Pommern in die Reichshauptstadt, vergebens bemüht er sich um die Zulassung zur Habilitation als Privatdocent, vergebens wendet er sich mit seiner Entdeckung an das Ministerium, vergebens hält er Donnerreden auf dem Aerztetage in Eisenach – überall weiß der Professor mit seinem ungeheuren Ansehen, unterstützt von einem immer angriffsbereiten Schülerpaar, ihn zu unterdrücken, und eine tolle Skandalszene in Eisenach macht ihn endlich ganz unmöglich. So ist pessimistisch der Gedanke durchgeführt, daß der Kampf um Wahrheit und Recht ein vergeblicher sei, daß immer Dummheit und Gewalt siegen. Das wird nicht aufgehoben durch den Schluß, in dem den jungen Arzt ein Zufall emporhebt. Zwei berühmte Pariser Aerzte kommen, prüfen seine Theorie, und eine Notiz im »Figaro« streicht den in Deutschland Verkannten heraus, der mittlerweile durch Zufall den Schoßmops der Gattin des Kultusministers geheilt hat und dafür von dem Gatten der Beglückten gern in Audienz empfangen wird. Die französische Anerkennung – in Deutschland ja in der That lächerlicherweise immer besonders geschätzt – und der kurierte Mops lassen den jungen Gelehrten siegen. Nun drängen sich am frühen Morgen schon der Professor, der Verleger und der Herausgeber der Germanischen Revue und Herr Semisch glückwünschend zu ihm. So erkennt der junge Sieger doch sehr wohl, daß nicht seine Tüchtigkeit, sondern Zufall ihm zum Erfolge verholfen hat, während die beiden andern Vertreter der jungen Generation, der Offizier und der Baumeister, jenseits des Meeres ihr Heil suchen. Es zeigt sich deutlich, 99 wie hier des Verfassers kühle Beobachtung von selbst immer wieder in Satire umschlägt. Der ganze Roman ist nicht die Schilderung vorhandener Zustände, sondern die beabsichtigte Uebertreibung derselben zum Zwecke des scharfen Angriffs. Und so wurde Alberti denn durch seine Veranlagung naturgemäß dazu gedrängt, einen polemischen Roman zu schreiben, dessen Titel von dem Schlagwort der ganzen Epoche herrührte: »Die Alten und die Jungen«.

Der ganze Kampf, der auf litterarischem Gebiete tobte, ward hier auf das musikalische Gebiet übertragen. Eine auffallende Aehnlichkeit hatte der Bau der Erzählung mit Zolas Künstlerroman »L'œuvre«. Wie dort, stehen auch hier zwei Helden im Vordergrunde, von denen der eine, der genialere, aber unpraktisch eigensinnige unterliegt, während der andere zur Klarheit sich durchringt. Diesem letzteren hat Alberti viele Züge aus seinem eigenen Leben geliehen, wie Bleibtreu seinem Leonhart. Was da von der Jugendgeschichte des Helden, von der allzu akademischen Erziehung durch den Vater, von der Leidenszeit bei wandernden Schauspielertruppen und Aehnliches gleich am Anfang des Romans erzählt wird, zeigt echte Wirklichkeitsfarben. Auch für andere Figuren des Romans kann man die Modelle ebenso leicht erraten wie in Bleibtreus »Größenwahn«. Was aber noch nie so stark bei Alberti hervorgetreten war, als diesmal, das ist die bis zum Krankhaften gesteigerte Sinnlichkeit aller darin auftretenden Personen. Selbst einer der Jüngeren schrieb darüber:Gustav Schwartzkopf in Moderne Dichtung, Februar 1890, Seite 113.

»Zu tadeln ist auch die wilde, krankhafte Sinnlichkeit, die in dem Buch tobt, von welcher sämtliche Personen des Romans befallen sind. Paul, Franz, Felscher, Zistersitz, Thinkert, Eva, Else u. s. w., sie alle werden eines Tages oder in einer Nacht plötzlich von einem die Form der Tollwut annehmenden sinnlichen Verlangen ergriffen, das sie peitscht und peinigt, aufjagt von ihrem Sitz, ihrem Lager, sie den Ersten, Schlechtesten in die Arme treibt. Einmal, an einem Menschen geschildert, mag das auch seine Berechtigung haben, zehnmal wiederkehrend, wirkt es halb lächerlich, halb widerlich.«

Dieses Schwelgen in sinnlichen Szenen wirkte bald geradezu ansteckend. Wie erstaunten die Leser von »Westermanns Monatsheften«, als eine Novelle von Ernst von Wildenbruch in diesem Familienblatte erschien, die unter dem harmlosen Titel »Der Astronom« (als Buch 1887) die Geschichte einer schönen Frau erzählt, die an einen schwerfälligen Gelehrten verheiratet ist und von dessen jüngerem, unschuldig schönem Bruder plötzlich in stürmischer Leidenschaft überfallen wird. Das hatte man dem Dichter auf hohem Kothurn am wenigsten zugetraut.

Zum unangenehmsten Vertreter dieser Gattung aber hatte sich mittlerweile Hermann Conradi entwickelt. In seinen »Brutalitäten«, die ihren Titel leider nur zu sehr mit Recht führen, trug er eine Reihe unerhört ausgeklügelter Geschichten zusammen, die mit Verhöhnung aller Natur und Wahrscheinlichkeit in krassen Theatereffekten geradezu obszöne Situationen herbeiführen und mit widerwärtigem Behagen ausmalen. In seinem Romane »Adam Mensch« schilderte 100 Conradi dann einen Vertreter der nach seiner Meinung modernen Menschen, einen erschlafften Lüstling, dessen Hauptinteresse seiner Frisur und seinen Handschuhen gilt, der in geradezu unmöglicher Weise die Tochter eines willensfeindlichen Schopenhauerianers erst zu seiner Braut macht, dann verführt und dann sitzen läßt, um ein reiches Mädchen zu heiraten – und der sich dabei noch obendrein selbst wie ein moderner Held vorkommt.

Von dieser gefährlich um sich greifenden Sinnlichkeitsmanie schien auch Kretzer in seinen »Drei Weibern« sehr stark ergriffen. Aber mit starker Faust befreite er sich davon und schuf ein wahrhaft klassisches Werk in seinem »Meister Timpe«. Es ist ein echter tragischer Held, herausgegriffen aus dem einfachsten Bürgerleben und doch in seiner unbewußten Schlichtheit ein Gewaltiger, der sich ahnungslos vermißt, sich dem Strom der Weltgeschichte entgegenzuwerfen; es ist scheinbar ein Alltagsmensch, wie sie zu Dutzenden auf der Straße herumlaufen, und doch ist er in seiner Eigenart eine so vollendet selbständige Natur, daß wir ihn ebensogut ein Original nennen können. Nur wenige Personen umgeben ihn, und der ganze Roman ist eigentlich nur eine Familiengeschichte; aber diese wenigen sind typische Vertreter einer ungeheuren Vielheit, und die Familiengeschichte erweitert sich von selbst zum Kulturgemälde; es ist eine der einfachsten Erzählungen, die man ersinnen kann, und doch schreitet die Handlung mit dem wuchtigen Schritt eines markigen Dramas ohne Pause und ohne Ermattung von Szene zu Szene, immer wachsend, nie sich verwirrend und immer spannend durch alle furchtbaren Seelenkämpfe unerschrocken hindurch bis zu dem gewaltigen Ende, das dem sterbenden Helden wirklich fast etwas von der Größe einer Shakespeareschen Figur verleiht.

Dieser Held ist der Drechslermeister Johannes Timpe. Er steht inmitten zweier Generationen, deren eine sein Vater, deren andere sein Sohn vertritt. Der Großvater stammt aus »der guten, alten Zeit«, wo die Kinder und die Frauen still im Hause zu bleiben hatten, wo das Handwerk blühte und Meister, Gesell und Lehrling sich streng schieden. Als Greis hoch in den Achtzigern, kann er es nicht verstehen, daß sein Sohn, der in der achtundvierziger Zeit herangewachsene Meister Johannes, den bürgerlichen Liberalismus, den er politisch vertritt, auch in das Haus überträgt, seinem Sohn die Zügel locker läßt und nichts wissen will von der strengen »Zuchtrute«, von der der Alte beständig schwärmt. Der Enkel aber ist ein lockeres Bürschchen; er atmet schon die Luft, die nach den großen siebziger Siegen wehte, da mit den Goldschätzen der französischen Milliarden die kecke Spekulationslust unter die Menschen kam und die werdende Großstadt die Jugend zu verführen begann. Mit einer nächtlichen Heimkehr des verwöhnten Söhnleins beginnt das Buch, und das nächtliche Gespräch zwischen Nachtwächter und Gensdarm ist so lebenswahr, wie all das Folgende, das sich nun aufbaut: von der Auseinandersetzung zwischen dem Großvater und der Familie bis zu des jungen Franz Eintritt in das Kontor der Fabrik, bis zu dem Augenblick, wo der Fabrikherr Timpes Nachbarhaus erheiratet, die scheidende Mauer niederreißen läßt und nun zwischen der neu emporschießenden großen Fabrik und dem schlichten 101 Handwerkerhaus der furchtbare Vernichtungskampf beginnt, in welchem der junge Franz Timpe die Rolle des Ueberläufers spielt. Wie er, um die reiche Stieftochter von drüben zum Weibe zu gewinnen, die eigenen Eltern verleugnet und verrät; wie Meister Timpe erst den Sohn hergeben, dann seine Gesellen entlassen, von der sausenden Stadtbahn sein Haus entwertet sehen, sein Weib begraben, und endlich im Verzweiflungskampfe auf den Trümmern seines einstigen Glückes sterben muß, ohne in seinem Charakter zu wanken, das ist der kurzgefaßte Inhalt dieses Heldenliedes aus dem Bürgerleben, dessen großen zeitgeschichtlichen Hintergrund die Umwandlung des alten Berlin in das neue und der Vernichtungskampf der Fabriken gegen das Handwerk bildet. – Mit diesem Meisterwerk Kretzers war der lange ersehnte Berliner Roman geschaffen.

Und schon im nächsten Jahre sollte ein zweites Meisterwerk derselben Gattung von anderer Seite her geboten werden. Neben den vierunddreißigjährigen Kretzer trat der neunundsechzigjährige Theodor Fontane, und neben das Heldenlied in Prosa vom unterliegenden Handwerker stellte er eine Herzensgeschichte ergreifendster Art, worin die Figuren des versinkenden alten Berlin in Gemütskonflikten rührend in der Umgebung der neuen Großstadt erscheinen. An Stelle des thatkräftigen dramatischen Aufbaues steht hier die behagliche Breite des alternden Erzählers; an Stelle der wuchtigen Tragik großen Stils tritt hier die liebevolle Ausmalung des Kleinen – neben dem Epos in ungebundener Form stehen als eine Idylle in Prosa neben Kretzers »Meister Timpe« Fontanes »Irrungen und Wirrungen«. Fontane hatte seit dem Jahre 1882 sich dem modernen Romane zugewendet mit seiner Erzählung L'Adultera, einer Ehebruchsgeschichte mit sittlicher Erhebung am Schluß. Auch die folgende Geschichte Cecile läßt eine weibliche Heldin mit unreiner Vergangenheit am tragischen Schluß dem Pflichtgefühl ihr Opfer bringen. Aber die von Schritt zu Schritt wachsende Sicherheit der Schilderung des echten und eigentlichen Berlinertums zeigt sich erst auf der Höhe in »Irrungen und Wirrungen«. Es ist die uralte Sache von der Liebe des Leutnants zur Arbeiterin. Nach kurzem Liebesglück verfällt er einer kalten Standesehe, und sie tröstet sich im Leiden mit einem Manne ihres Standes. Aber unendlich reizvoll ist diese treue 102 herzenswarme Schilderung eines alltäglichen Stückchen Lebens, beleuchtet durch ein echtes Dichtergemüt.

Und noch ein dritter Roman von Bedeutung entstand um dieselbe Zeit und machte ein frisches flottes Erzählertalent, das schon manches hervorgebracht hatte, zum ersten Male in weitesten Kreisen bekannt. Ernst Freiherr von Wolzogen entstammt einer Familie, die in der deutschen Litteratur seit mehr als einem Jahrhundert wohl bekannt ist. Seitdem zwei junge Herren von Wolzogen von der Geschichte der Gnade gewürdigt waren, die Jugendfreunde Schillers zu sein, und seitdem einer von ihnen gar der Schwager des Gewaltigen wurde, ist diesem Familiennamen die Unsterblichkeit gesichert. Von dem anderen Bruder aber, der selbst militärische Verdienste besaß, stammen die Schriftsteller Wolzogen her. Sein Sohn Alfred, der spätere Hofintendant in Weimar, ist durch die Erzeugnisse seiner Feder bekannt, besonders durch das Buch über die Beziehungen seiner Familie zu jenem Großen. Von seinen beiden Söhnen wurde Hans einer der eifrigsten Kenner und Verfechter Richard Wagners, während Ernst früh den Trieb zur Dichtung in sich spürte. Geboren am 23. April 1855, wurde er bis zu seinem achten Lebensjahre von seiner englischen Mutter vollständig als Engländer erzogen. Als diese starb, wurde der Sohn des deutschen Vaters wieder dem deutschen Empfinden zurückgegeben. Im einundzwanzigsten Lebensjahre bezog er die neue Reichsuniversität zu Straßburg, ging aber nach dreijährigem Studium auf einige Jahre nach Weimar, bis er im Jahre 1882 nach Berlin kam und dort die Entwickelung der neuen Litteraturströmung mit durchmachte. Er schriftstellerte damals schon seit drei Jahren und ward früh ein Mitarbeiter an der »Gesellschaft«. Das Leben möglichst wirklich zu gestalten, war von jeher sein Streben – was ihm aber von vornherein ein besonderes Gesicht gab, das war der ihm angeborene Humor. Nur wenn die Wimpel lustig von seinem Fahrzeug flattern, ist er wirklich in seinem Fahrwasser. Daher liegt es in seinem Wesen, daß er seine Stoffe gern versöhnlich behandelt, daß er allem Krassen aus dem Wege geht, und daß er gern freundliche Gebilde für seine Dichtung aussucht. Hält man seine Gestalten neben die Kretzers oder Fontanes, so verblassen sie; aber für sich betrachtet, führen sie ein liebenswürdiges Leben: unterhaltend, frisch und munter; und mit Recht erfreute man sich an dem gesunden Grundgedanken, namentlich jenes Berliner Romans aus dem Jahre 1888: »Die Kinder der Exzellenz«.

Sie sind nicht am wenigsten zu beklagen, die Kinder hoher vermögensloser Beamten mit glänzendem Einkommen, die aufwachsen, ohne an die Not des Daseins zu denken – weil in dem Hause alles in Glanz und Fülle hergeht – und die darum glauben, daß sie sich nicht vorzubereiten brauchen auf einen ernsten Kampf des Lebens. Da hat nun plötzlich vor der Zeit Seine Exzellenz der kommandierende General seine Augen für immer geschlossen, und die Frau mit ihren drei Kindern hat jetzt von einer schmalen, sehr schmalen Pension zu leben. Aber man ist sehr verwöhnt, und man möchte mindestens nach außen hin den Schein des äußeren Glanzes aufrecht erhalten. Das ist man ja seinem Stande schuldig! So spart sich denn die Mutter alles ab, damit der Sohn, der Herr Leutnant, sein flottes 103 Leben fortsetzen kann. So quält sich Asta, die älteste Tochter, heimlich mit Schriftstellerei und lehnt die Bewerbung eines reichen Amerikaners, eines Mannes aus eigener Kraft, adelsstolz ab. Nur Gertrud, die jüngere, ist aus der Art geschlagen, liebt frisch und munter einen jungen Gelehrten und scherzt mit dessen lustigem Vater, einem schlichten Klavierlehrer. Und daß die Ansicht Gertruds allmählich durchdringt, daß – unterstützt von einem prächtigen Onkel Major – die verständige Weltauffassung siegt; daß Asta mit ihrem Amerikaner, Gertrud mit ihrem Professor glücklich wird, der verschuldete Leutnant seinen Abschied nimmt und die ganze Familie sich zu der Ansicht bekehrt, das Glück der Arbeit dem Schein ererbten Glanzes vorzuziehen – das ist der nicht neue, aber doch immerhin gesunde Grundgedanke des Ganzen. – Auch das Gegenstück zu dem Stadtroman – der Landroman »Die tolle Comteß« – wirkt namentlich durch die Charakteristik der jungen Heldin sehr erfreulich, und echte Landluft durchweht ihn ebenso wie echter Humor. Aber Wolzogen strebte noch nach Höherem. Es drängte ihn, ein großes dichterisches Gesamtbild des damaligen Berlin zu entwerfen, ähnlich wie Conrad es für München versucht hatte: nur daß Wolzogen die straffe Form des Romans beibehalten wollte. Und so schrieb er denn »Die kühle Blonde«. Der Titel ist doppelsinnig zu fassen. Unter einer kühlen Blonden versteht der Urberliner sein geliebtes Weißbier. Und dieser Hinweis auf das Berliner Nationalgetränk soll schon andeuten, daß die Geschichte von der kühlen Blondine gleichsam nur den Faden hergeben soll zu einer umfassenden Schilderung des ganzen Berliner Lebens. Ja, hoch und niedrig, vom 104 Reichskanzler Bismarck bis hinab zum Aermsten der Armen sollte der weitgesteckte Rahmen dieser Geschichte umfassen. Dazu wurde der Vater der Heldin als Reichstagsabgeordneter gewählt, der das pommersche »Klein-Polzin« zu vertreten hat. Mit seiner Tochter nach Berlin kommend, wird er gleich anfangs bekannt mit dem Allerweltsschriftsteller Gisbert Renard, der schnell der Bräutigam der schönen, kühlen Blonden wird. So verbinden sich hier die Welt der Litteratur und die des Parlaments. Dieser Renard aber, der französischen Kolonie entstammend, ist wieder durch seine Kindheit mit dem echten Berlinertum verwachsen, denn »Vater Böhmke« hat ihn über die Taufe gehalten und beansprucht das Recht, den berühmten Gisbert »Du« und »Neffe« nennen zu dürfen. Auch verwaltet Gisbert das Vermögen, das der Alte, als er noch ein Junger war, sich durch Bahnbauten in Mexiko erworben hat. Und da nun mit dem reichen Junggesellen eine andere kinderlose Familie von urberlinischem Schlage eng befreundet ist, so vereinigen sich hier das moderne und das alte Berlin. Ja, ein verbummelter Bruder Gisberts, der eben aus Amerika zurückkommt und gegen des berühmten Bruders Willen in Berlin lebt, vertritt die Schar der jungen Ringer: denn er ist ein hoffnungsvoller Zukunftsmusiker, wenngleich er zunächst in Kneipen spielen muß. Und gerade darum befreundet er sich mit einem jungen Maler, der von Böhmke bevatert wird und der sich zunächst damit durchschlägt, daß er für ein großes Modegeschäft Kostümbilder malt. So angelegt vermag die Handlung in der That alle Höhen und Tiefen zu durchmessen. Mit einer Vorstellung im Deutschen Theater hebt die Sache an; in einem vornehmen Restaurant lernen wir mit dem Klein-Polziner Abgeordneten seine Tochter und die Tagesberühmtheiten kennen, namentlich Gisbert Renard und seinen blonden Freund, einen schnell berühmt gewordenen Romanschriftsteller. Mit dem jungen Maler treten wir am Treptower Spreeufer in Onkel Böhmkes einsame Turmstube, wo der wunderliche Menschenfreund mit seiner hageren Schwester haust. Mit dem Herrn Reichstagsabgeordneten machen wir ein parlamentarisches Diner beim Fürsten Bismarck mit. Mit ihm werden wir zu Gisbert eingeladen zu einer geistreichen Litteraturgesellschaft, und nach der Verheiratung der kühlen Blonden besuchen wir mit dem jungen Paar den Ball des Vereins Berliner Presse und erblicken Julius Stinde und Friedrich Spielhagen. Ja wir folgen dem Abgeordneten in den Saal des Reichstages und sehen dort den eisernen Kanzler wieder, auf dessen Tisch das Wasserglas und die Kognakflasche historischen Angedenkens ebenso wenig vergessen sind, wie auch bei dem parlamentarischen Diner der Reichshund Tyras nicht fehlte; und mit den beiden jungen Genies von den Schwesterkünsten der Musik und der Malerei machen wir Raufszenen in der »Mädelkneipe« durch, die den schönen Namen »Im Krug zum grünen Kranze« führt. Ja, auch in das große Modegeschäft, für das der Maler arbeitet, werfen wir einen Blick hinein. Aber, eben nur einen Blick! Und viel mehr ist es nirgends, was wir sehen! – Was half dem Dichter die Kühnheit, den eisernen Bismarck in einen Roman hineinzuweben zu einer Zeit, wo der Gewaltige noch lebte und noch gewaltig war? Er kann ihn uns doch nur von weitem zeigen. Auf dem 105 parlamentarischen Diner huschen die verschiedenen Herren vom Ministerium und von den Parteien doch nur an uns vorüber, wie etwa in den Berichten der Zeitungen; und von den politischen Dingen, die etwa dort verhandelt wurden, kann uns der Romandichter doch nichts sagen. Auch der Herr Abgeordnete für Klein-Polzin kann keine großen und bahnbrechenden Gedanken vertreten, denn wer wollte solche Gedanken keck und dreist in die junge Reichsgeschichte hinein erfinden? Und wie wollte Wolzogen bei all seiner Gewandtheit die Klippe umgehen, den Reichskanzler und die bekannten Parteiführer zu solchen großen Anregungen Stellung nehmen zu lassen? Nein, da ist nichts zu erfinden! Das Recht, die Großen der Zeit als Große vorzuführen und mit dichterischer Geschichtsprophetie ihre geheimsten Gedanken zu entrollen – dies schönste aller Dichterrechte hat nur der Poet, der geschichtlich längst vergangene Stoffe behandelt. Für den Mitlebenden, der seine moderne Zeit schildert, bleibt nur das Alltägliche übrig. Er kann den großen Kanzler höchstens über Landwirtschaft reden lassen und muß aus dem Abgeordneten seiner Dichtung einen gutmütigen Narren machen, der ohne eigentliche Bildung auf dem Landsitze seiner Väter studiert und immer studiert hat, und sich endlich in einen großen »Centralgedanken« hineingeritten hat, daß die Freimaurerei und die alliance israélite gleichbedeutend seien, und daß beide zusammen den liberalen Fortschritt zu Schaden der Menschheit in die Welt gebracht hätten. Damit wird der Herr Abgeordnete natürlich überall gleichmäßig ausgelacht, und endlich kommt er aus thörichter Ueberbescheidenheit nicht einmal dazu, überhaupt eine Rede im Reichstage zu halten. Und was will Wolzogen von Spielhagen anderes zeigen, als sein Gesicht, das auf dem Ball des Vereins Berliner Presse auftaucht? Ja, nicht einmal die jungen ringenden Künstler, so schön sie eingeführt werden, lernen wir näher kennen. Der Dampfgang der spannenden Erzählung, die sich auch vor allem Abstoßenden scheut, zeigt uns auch die Kellnerinnen im »Krug zum grünen Kranze« nur sehr idealisiert bei allem Realismus, und schließlich bleibt als Hauptkern der Erzählung nichts übrig, als die Geschichte der Renard'schen Ehe, die schließlich zur Scheidung führt, aber die »kühle Blonde« doch zuletzt auf den Gedanken geraten läßt, daß der alte Spruch recht habe: »Alles verstehen, heißt alles verzeihen«.

So war denn der Versuch nicht gelungen, die ganze Großstadt in einem wirklichen Romane zu erfassen, und die genannten Werke von Kretzer und Fontane, die nur von einer Seite aus die Weltstadt betrachteten, blieben unübertroffen. Auch Kretzers kleine Skizzensammlungen, namentlich »Aus dem Riesennest«, stehen nicht auf der sonstigen Höhe des Meisters. Dagegen erstand jetzt ein Talent, das ganz besonders in dieser kleinen Skizzenform sein Eigenartigstes bot. »Stiefkinder der Gesellschaft« hieß die erste kleine Sammlung, mit der Hans Land (eigentlich Hugo Landsberger, geboren 25. August 1861) sich einführte (1888), worauf im folgenden Jahre die weit bedeutendere zweite Skizzenreihe folgte, unter dem wunderbar poetischen Titel »Die am Wege sterben«. Es war vielleicht kein Zufall, daß gleich die erste Land'sche Novelle mit einer solchen von Paul Heyse im Stoffe große Aehnlichkeit zeigte. Allerdings hatte der junge Anfänger diese Erzählung seines berühmten Vorgängers nicht gekannt; aber er war wie jener von 106 Hause aus dafür veranlagt, das große Menschenleben in ganz kleinen, oft winzigen Bildern sich wiederspiegeln zu sehen. Ein großer Unterschied waltete aber von vornherein zwischen beiden: Für Paul Heyse ist die Schilderung des Herzenslebens der Menschen Selbstzweck – Hans Land sieht es immer nur unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verhältnisse. Paul Heyse will die Menschen beglücken, indem er ihnen eine große, freie Weltanschauung der Schönheit schenkt; Hans Land kennt kein inneres Menschenglück ohne geklärte äußere Verhältnisse. Darum sucht jener gern die Glücklichen auf, dieser weint am liebsten mit den Unglücklichen. Und während Heyse wortreich den feinsten Empfindungen seiner Menschenseele nachspürt, zeigt Land sie uns mit knapper dramatischer Kürze fast nur in ihren Aeußerungen, wie sie auch der Fremde mit den Sinnen wahrnehmen kann. In der Anschaulichkeit seiner Darstellungen aber erreicht er in seinen glücklichsten Augenblicken die unübertreffliche Lebensfrische, wie sie dreißig Jahre zuvor Heyse in seiner Meisternovelle »L' Arrabiata« geglückt ist. Als eine Land'sche Meisternovelle möchte ich ihr vergleichsweise zur Seite stellen »Von Gesellschaftsgnaden«. Kaum kann besser der Gegensatz der Alten und Jungen zum Ausdruck kommen, als in dieser Gegenüberstellung. Unter dem wunderbaren Blau des italienischen Himmels, an den viel besungenen Strandlandschaften von Capri und Neapel zeigt uns Heyse die Bezähmung eines trotzköpfigen Mädchens durch die innere Weihe unwiderstehlich sieghafter Liebe. Alles in Sonne getaucht, alles wundervoll in Glück und Schönheit verklingend. – Mehrere Treppen hoch in einem dumpfigen Winkel der Weltstadt Berlin zeigt uns Land den alten Klavierlehrer, dessen Finger zu steif geworden sind, um noch mit wirklicher Kunst die Tasten schlagen zu können, der selber einsieht, daß er ein überflüssiges Glied in der menschlichen Gesellschaft geworden ist, den aber das bevorstehende Alter voll Hunger und Not weniger grämt als das Bewußtsein, daß er zu nichts mehr nütze ist auf der Welt. Und dennoch würde er den Entschluß des Selbstmordes nicht ausführen, wenn er nicht einmal 107 auf ein geschenktes Billet hin ein Konzert eines wirklichen großen jungen Virtuosen mit anhörte. Die Schilderung dieses Konzerts mag meinen Lesern ein Urteil an die Hand geben, ob sie ein Recht hat, sich neben Heyse'sche Schilderungskunst zu stellen:

»Da tönte der erste Akkord durch den Saal, und aller Augen richteten sich auf das Podium.

Der Künstler hob die knochigen Hände hoch empor und ließ sie wie im Zorne auf die Tasten fallen; schwer und dumpf erdröhnte das herrliche Instrument unter seinen Schlägen.

Dann dämpfte er den Ton, und in die vergrollenden dumpfen Schläge mischten sich neckende, springende Töne; schmeichelnd glitten die Hände des Spielers über die Tasten hin; es war als liebkoste er sein Instrument, und wie erfreut über diese Huld, erhob der Flügel ein heiteres Singen, ein sorgloses Tongetändel. Es war, als flatterten Schmetterlinge über blühende Beete, als plätscherten Brunnen im lauen Abendwinde, als kicherten frische, blübende Kinderlippen.

Dabei schien es, als hätten diese zwei Hände sich vervierfacht; man sah sie hier und dort, zugleich an mehreren Stellen im selben Augenblick. Jetzt lässig ruhend die eine, während die andere die höchsten Töne glöckeln ließ, dann die Linke den Baß aufwühlend, während die Rechte in einem mächtigen Laufe nachfolgte in die Region der dunklen tiefen Töne.

Zahllos wie Regentropfen wirbelten und spielten die Töne durcheinander, bis ein mächtiger, dröhnender Akkord die neckischen, tanzenden Tonelfen alle hinwegscheuchte und der ganze Spuk zerstob. Ein klagendes Singen erhob sich, es war, als spräche die Einsamkeit mit sich selbst, als klage sie, daß alles Leben erstarrt, alles Leben verklungen sei. Tief aufrauschten die vollen Töne und sangen von einem Leide, das ein Menschenherz durchwühlen und zerreißen will.

Da ertönte ein Signal wie Posaunenruf. Die Töne stockten und schwiegen.

Noch einmal erklang es wie Heroldsruf aus Wolkenhöhe, und jauchzend rief es Antwort aus der Tiefe. Wie wenn zu Leidbedrängten ein Trostruf aus dem Himmel dringt, der drunten jauchzend erwidert wird.

Und nun erklang ein Hymnus, die Sonne und die Erde, der Chor der Sterne sang ihn; der Sturm erhob seine Stimme, das Meer rauschte dazwischen, die Musik der Sphären stimmte ein. Das Weltall sang seine Freude. –

Von dem ersten Akkorde an war der alte Klavierlehrer drunten im Zuhörerraume wie von einem Zauber umstrickt. Bald schloß er die Augen und lächelte in sich hinein, bald riß er sie weit auf, atmete tief und fieberhaft und lehnte sich wie erschöpft in seinen Sitz zurück. Bald folgten seine brennenden Augen den Zauberhänden des Spielers, die über hundert Finger zu gebieten schienen, bald versank ihm alles rings umher, er reckte sich hoch empor und sog die brausende Tonflut in sich hinein, den Blick wie verklärt in die leere Höhe gerichtet, während heiße Thränen sein durchfurchtes Gesicht überströmten.

Als der Hymnus sich erhob und das Weltall seine Seligkeit sang, überwand ihn das Gefühl, er schluchzte laut.

Der Spieler hatte geendet; eine heilige, tiefe Stille herrschte im Saal, jenes Schweigen, das der süßeste und hehrste Erfolg des Künstlers ist. Er selbst, der Virtuos, saß an seinem Flügel wie zerschmettert, als könne er nun so bald keine Hand mehr zu den Tasten erheben. Auch er hatte seiner selbst und der Umgebung vergessen. Es war, als klänge in all diesen Menschen das ganze gewaltige Lied noch einmal nach.

Da fiel ein Fächer zur Erde, und die Besinnung kehrte wieder. Ein Sturm des Beifalls erhob sich, ein Orkan der Begeisterung. Wenzel sprang auf und stürzte aus dem Saal.«

Und er geht nun ausgesöhnt und schönheitstrunken in den Tod.

Sonderbar, die Alten schilderten so gern die sieghafte Jugend und die revolutionäre Jugend wußte nur immer von Unterliegen, Alter und Tod zu singen: Der sterbende Dichter Leonhart, der unterliegende Meister Timpe, und hier wieder einer von den Vielen, »die am Wege sterben«.

108 Freilich ist das Alles nur ein Protest gegen die Notwendigkeit so vieles Sterbens in der modernen Gesellschaft, und der weithin schallendste aller dieser Proteste ging in demselben Jahre (1889) von einer Frau aus. Wir lernten Bertha von Suttner bereits als Mitarbeiterin der »Gesellschaft« kennen. Seit sieben Jahren schrieb sie nun schon Romane mit immer flinker, immer gewandter Feder – eine Dame in allem, was sie schuf, aber eine geistreiche Dame mit warmem Herzen. Sie hat selbst von sich gesagt, sie habe sich die interessante Lebensaufgabe gestellt, die Welt und das Leben dichterisch zu erforschen. Nicht immer steht sie auf der Höhe der Forscherin; oft ist es nur leicht tändelnde Beobachtung, aber immer ist sie mit edlem Herzen bei der Sache. Mit dem »Inventarium einer Seele« hatte sie sich glücklich eingeführt, mit dem »Schriftstellerroman« (1886) hatte sie die Verhältnisse des eigenen Berufslebens dargethan, aber einen gewaltigen Anstoß gab sie – weniger der Litteratur, als der Kulturgeschichte – mit ihrem Kriegsroman »Die Waffen nieder«, der in sechs Jahren vierzehn Auflagen erlebte. Sie betrachtet hier den Krieg, der so lange in Deutschland von Mann und Weib verherrlicht war, vom echt weiblichen Standpunkte aus. Als Tochter des österreichischen Feldmarschall-Leutnants Franz Grafen Kinsky war sie in militärischen Verhältnissen herangewachsen, und den blutigen Bruderkrieg der Deutschen im Jahre 1866 hatte sie als dreiundzwanzigjähriges Mädchen (geb. 9. Juni 1843 in Prag) miterlebt. Zehn Jahre später heiratete sie den Freiherrn Arthur von Suttner, der als Schriftsteller namentlich die Verhältnisse der Kaukasusvölker lebensvoll dargestellt hat. Zehn Jahre lebte sie mit ihm in Tiflis, und jetzt war sie gerade auf ihr trauliches Schloß Harmansdorf in Niederösterreich eingezogen. Mit vielfach packender Gewalt entrollte sie nun die grausigen Verhältnisse des Krieges und sein erbarmungsloses Eingreifen in die Rechte der Herzens- und Menschenliebe. Selten ist ein Buch so zur rechten Zeit geschrieben worden, wie dieses. Die große Bewegung zur Erkämpfung des Weltfriedens, die in Amerika und England schon weite Verbreitung gefunden hatte, zog mit ihm begeistert in Deutschland ein und ist daselbst gewachsen bis auf den heutigen Tag.

Ja, es war ein litterarisch bedeutungsvolles Jahr, dies Jahr 1889. Noch ein anderes starkes Talent, – eines der stärksten der ganzen Epoche – trat in demselben bedeutungsvoll hervor.

Am 30. September 1857 war zu Matziken im Kreise Heydekrug, einer alten holländischen Mennonitenfamilie entstammend, Hermann Sudermann geboren. In Tilsit hat er das Gymnasium besucht, in Königsberg und Berlin Litteratur studiert. Und dann taumelte er wie so viele andere in das Litteratentum der Großstadt hinein. Für ein kleines demokratisches Blatt schrieb er in Prosa und Versen. Weitere Anregung wurde ihm wohl auch als Hauslehrer bei Hans Hopfen zu teil. Seine ersten Versuche, durch Dramen sich bekannt zu machen, mißlangen vollständig. Sehr launig hat er später erzählt (in Franzos' Geschichte des Erstlingswerks), wie er dem Direktor des Berliner Residenztheaters seine dramatischen Erstlinge in schöner Abschrift mit weißem, breitem Rande zugeschickt habe mit der Bitte, das Brauchbare zu behalten; und wie darauf der Herr Direktor den weißen 109 Rand behalten und die Schrift zurückgesandt habe. Unter Mühen und Entbehrungen ließ er aber mit eisernem Fleiß sein Talent ausreifen und stellte ihm in der Stille immer höhere Aufgaben. Sein treuer Freund und Genosse war dabei sein Landsmann Otto Neumann-Hofer aus Lappinen (geb. 4. Februar 1857), der einst auf demselben Omnibus mit ihm und mit dem gleichen Erstaunen seinen Einzug in die Weltstadt gehalten hatte und nun nach beendetem Studium, namentlich der Naturwissenschaften, gleich dem Freunde durch journalistische Arbeiten sich zu erhalten wußte. Zum eigentlichen Entdecker Sudermanns wurde dann der Verlagsbuchhändler Lehmann, ein Nachkomme des Begründers des »Magazin für die Litteratur«. Er erkannte an den winzigen Proben die künftige Bedeutung des Schriftstellers, suchte ihn auf und sicherte sich den Verlag seiner größtenteils noch ungeschriebenen Werke. Schon die erste Novellensammlung »Im Zwielicht« fand durch ihre feine Stimmungsmalerei Anerkennung bei der Kritik, und das Berliner Tageblatt brachte seinen ersten größeren Roman »Frau Sorge« – vielleicht das Bedeutendste, was Sudermann überhaupt geschaffen hat. Noch nicht gestört durch den rauschenden Beifallslärm des Tages, das Herz noch erfüllt von dem bitteren Weh des Daseinskampfes schrieb er hier die Leidensgeschichte eines Märtyrers der Selbstlosigkeit.

Als der Sohn eines heruntergekommenen Gutsbesitzers wächst der junge Paul heran in schwärmerischer Liebe zu seiner sanftmütigen, still duldenden Mutter, das weiche Knabenherz ganz erfüllt von den christlichen Lehren der Demut und der Pflicht: Böses mit Gutem zu vergelten. Mit neidloser Bewunderung blickt er zu den älteren Brüdern auf, die ferne in einer großen Stadt durch Verwandtengunst gebildeten Lebenskreisen zugeführt werden; in langmütiger Dienstfertigkeit erträgt er den Zorn des polternden Alten, Thränen der Verzweiflung weint er auf das Bett der Mutter – aber der einzigen Trösterin wagt er sich nicht zu nahen, der Nachbarstochter, deren Eltern jetzt das schöne Gut besitzen, das einst seinem Vater zu eigen war. Im Bewußtsein seiner Wertlosigkeit bemerkt er nicht, wie deutlich sie ihm ihre Gunst schenkt; und, wie er so die Liebe nicht ergreift, wo sie sich ihm bietet, so vernachlässigt 110 er auch die geniale Künstlerveranlagung, die in ihm schlummert. Das Genie braucht eine gewisse Rücksichtslosigkeit, um sich durchzukämpfen; aber dieser Jüngling ist zu selbstlos, um den alternden Vater zu verlassen und in der großen Stadt seine musikalischen Anlagen zu pflegen. So verschwendet er denn sein Leben an die Aufgabe, des Vaters kleine Scholle Land wieder zu einem einträglichen Gute zu machen; und ihn, der nichts für sich begehrt, verlachen und verachten darum gerade alle. Wie aber auch die von ihm so treu gepflegten Schwestern, seiner behütenden Güte zum Trotze, zu leichtsinnigen Geschöpfen werden, und wie ihre Verführer ihn obendrein noch trotzig verlachen – da sieht er ein, daß in dieser rohen Welt nur der geachtet wird, der gelegentlich seine Zähne zu zeigen weiß; und die Genugthuung, die von den beiden Frechen seiner sanften Bitte verweigert wurde, erzwingt er sich leicht in der angenommenen Rolle des Wegelagerers mit der Pistole in der Hand. Aber noch einmal bringt er das Opfer der größten Selbstvernichtung: Um das Gut der Geliebten vor den Flammen zu retten, zündet er bei sich selber Haus und Hof an. Diese letzte höchste That der Selbstaufopferung führt ihn gar in das Gefängnis. Aber, wie er demselben wieder entsteigt, da fühlt er sich frei von den Fesseln, die sein Leben umschlungen hielten, und bei der Geliebten seiner Jugend findet er ein spätes Glück.

In diesem tiefen und mit leuchtenden Wirklichkeitsfarben geschilderten Werke kommt das Ringen der Weltanschauungen der Zeit am reinsten zum Ausdrucke. Dieser Paul hat zweifellos unbewußte Verwandtschaft mit dem Meister Timpe. Er ist ein Junger, der noch einmal die Weltanschauung der Alten in sich zur reinsten Verkörperung bringt und schmerzlich dabei erfahren muß, daß man sie in moderner Welt wohl noch lehrt von Kanzel und Katheder, daß sie aber nicht mehr geachtet wird im praktischen Leben. »Sie sind der Besten einer«, sagt zum Drechslermeister Johannes Timpe sein rührend treuer Altgeselle, der ihn vergebens zur modernen Weltanschauung des Maschinenalters und der Sozialdemokratie bekehren will – und der Besten einer zu werden und zu bleiben, ist auch der Wahlspruch von Sudermanns Paul – aber er muß wie jener erfahren, daß die Guten, Sanftmütigen nicht mehr gelten, sondern nur die rücksichtslos Starken. Und das ist die letzte Wendung des Themas von den Alten und Jungen.

Groß war die Wirkung von Sudermanns Roman, als er in jener weitverbreiteten Berliner Zeitung erschien, und in den Kreisen der Wissenden galt der Verfasser von da ab als ein »kommender Mann«. Erst später hat sich das Märchen gebildet, als sei Sudermann erst durch den Erfolg seines Erstlingsdramas plötzlich wie aus einer Versenkung aufgetaucht. Ich weiß mich vielmehr noch wohl zu erinnern, daß lange vorher eine junge Norwegerin in einem Berliner Theater mich bat, ihr doch den Verfasser der »Frau Sorge« zu zeigen, falls er anwesend sein sollte. – Und bald folgte ein zweiter Roman, der wiederum den Menschen im Kampfe mit gesellschaftlichen Verhältnissen zeigte, der aber stofflich in den Anfang des Jahrhunderts zurückgriff.

»Der Katzensteg« hatte Sudermann diesen seinen Roman genannt. Es ist dies der Name für einen geheimen Brückenweg, auf dem zur Zeit der Napoleonischen 111 Fremdherrschaft ein verräterischer deutscher Gutsbesitzer den Feinden zur Rettung verholfen hatte. Zur Zeit des patriotischen Aufschwunges ist er daher im ganzen Vaterlande geächtet. Einsam und freundlos hat er auf seiner Besitzung, umgeben von wunderlichen Schutzvorrichtungen, versteckten Fallen und »Selbstschüssen«, in steter Lebensgefahr seine letzten Lebensjahre verbracht. Siegreich aus den Freiheitskriegen heimkehrend findet der Sohn des Vaters Leiche. Nicht einmal für sie vermag er die Verzeihung der Ueberlebenden zu erwirken. Mit Hilfe seiner Blutsfreunde aus dem Kriege, die ihm höchst widerwillig diesen Dienst leisten, erzwingt er die Bestattung des Toten. Die großartig kraftvolle Sprache und die prachtvolle Anschaulichkeit der Schilderung macht diese Szene zu einer der gewaltigsten der deutschen Romanlitteratur. Aber Boleslaw – so heißt der Sohn des Toten – verfeindet sich durch dies Begräbnis auch mit jenen treuen Kriegsgenossen von einst. Mehr und mehr senkt sich auch auf ihn der Fluch aus dem Leben des Vaters herab, und er verkörpert sich für den Einsamen in der Gestalt eines jungen Weibes, das er auf dem Gutshofe findet. Sie war die letzte Freundin des einsamen Mannes gewesen. Nun erglüht sie in Liebe für Boleslaw und dieser für sie. Aber da er weiß, daß sie seinem Vater angehört hat, so ringt er seine Leidenschaft mannhaft in sich nieder. Erst wie sie für ihn gestorben ist und er an ihrer Leiche steht, ergreift ihn Reue darüber daß er sie verkannt hat. Und die wieder ausbrechenden Freiheitskriege begrüßt er als eine Erlösung. – So unerquicklich düster das ganze Problem ist, mit solcher Meisterschaft hat Sudermann es durchgeführt. In Hinsicht der Ausmalung der ganzen Zeitstimmung und der eigenartigen phantasievollen Auffassung jeder einzelnen Situation kann dies Buch nicht wohl übertroffen werden. Und auch hier zerreißt die Brust des Helden der Kampf, ob die anerzogenen Gefühle und die Anschauungen der Zeitgenossen heilige Pflichten sind oder Vorurteile.

So hatten sich denn aus der Schar der jungen Dichter Kretzer und Sudermann als die machtvollen Führer erwiesen, die der jüngstdeutschen Dichtung den Weg aus der Lyrik in den Roman zu zeigen vermochten. Beide fühlten auch den Trieb in sich, aus der Ebene der Erzählung hinaufzusteigen in das Hochgebirge des Dramas. Ja, sowohl der »Meister Timpe«, wie der »Katzensteg« machen den Eindruck erzählter Dramen. Dennoch ist es nur einem dieser beiden kraftvollen Erzähler gelungen, auch auf der Bühne zum Herrscher zu werden. Ehe wir ihm aber dahin folgen können, müssen wir die Entwickelung der damaligen Theaterverhältnisse im Zusammenhange überblicken. 112

 


 


 << zurück weiter >>