Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Fünftes Kapitel.

Der Wettkampf um das soziale Drama in Berlin.

Das »soziale Drama« war mit einem Schlage Trumpf geworden in der Reichshauptstadt. Es ist geradezu verwunderlich, anzusehen, wie der Kriegslärm der »Freien Bühne« und der wirkliche Erfolg von Sudermanns »Ehre« alle, aber auch ausnahmslos alle Dramatiker – die alten und die jungen – aus Dichtern in Kämpfer verwandelten. Wer sein Schwert nicht für die sozialen Neuerungen ziehen wollte, der zog es gegen solche, – aber sein Schwert zog jeder. Es war wirklich, als wenn ein Zankapfel unter die Dichterschar geworfen worden sei, – die jüngsten griffen gierig danach, und die ältesten wankten darauf zu. Dabei herrschte eine wahre Fieberstimmung in der Theaterwelt. Jetzt erst gewann das Wort »Première« für Berlin eine wirkliche Bedeutung. Was war bis dahin den Berlinern an einer Erstaufführung gelegen? Jetzt hatte eine solche die Bedeutung einer zu schlagenden Geistesschlacht. Man zog hinein, gerüstet zum Kampf – entschlossen, gegen oder für die neue Richtung einzutreten; und, wenn es sich um einen Neuling handelte, so schwebte über der Versammlung des nunmehrigen »Premièren-Publikums« die zitternde Vorahnung von der »Entdeckung« eines »neuen, großen Dichters«.

Einen solchen glaubte man am 5. Febr. 1890 entdeckt zu haben, als im »Lessingtheater« das »Bild des Signorelli« aufgeführt wurde. Der Name des Dichters war nicht bekannt, aber der treffliche Schauspieler Adolf Klein erntete zunächst den Jubel ein für die aufregende Wirkung des Schauspiels. Geldnot machte da einen Professor erst zum Lügner, dann zum Wahnsinnigen. Er ist ein Kunsthistoriker, der seinen ältesten Sohn, einen jungen Leutnant, über alles liebt und den leichtsinnigen Schuldenmacher vor dem sozialen Untergange retten will. Er bezeugt – im Gegensatz zu seiner Ueberzeugung – für Geld einem Kunsthändler mit seiner Gelehrten-Autorität, daß ein gewisses Gemälde ein Werk des berühmten italienischen Luca Signorelli sei, und in all den furchtbaren Aufregungen die daraus entstehen, umnachtet sich sein Geist mit Wahnsinn. –

Alles in diesem Stück war künstlich berechnet auf nervenpackende Erregung. Adolf Klein, selbst ein denkender und berechnender Schauspieler, – übrigens einer der eigenartigsten und größten Verkörperer »Nathans des Weisen« – hatte wochenlange Studien in der Irrenanstalt zu Dalldorf getrieben. Und zu guterletzt entpuppten sich dem Beifall rasenden Publikum als die Verfasser zwei junge Neulinge: 210 Richard Jaffé und P. Wolff. Namentlich der erste von beiden, der als der eigentliche Dichter galt, war eine Zeitlang der Mann des Tages.

Das Untergehen weicher Naturen im Wahnsinn zeigte auch Hauptmanns zweites Stück. Zur Enttäuschung derer, die ein kraftvoll stürmisches Werk von ihm erwarteten, warf er das angenommene Löwenfell ab und schrieb das »Friedensfest«. Es führt uns in die Mark, in die Gegend der Kiefernheide, die Hauptmann in Erkner so gründlich kennen gelernt hatte, und führt uns in ein großes, frostiges, altertümliches Haus, wo Kinder herangewachsen sind unter den Augen liebloser Eltern. Der Vater, ein weitgereister Arzt, hat eine Frau geheiratet, die an Bildung weit unter ihm steht. Sehr bald ist das Mißverständnis zwischen beiden Eltern zum Ausbruch gekommen. Der Mann – schwach wie alle Männer Hauptmanns – ist seelisch an der Verständnislosigkeit seiner Frau zu Grunde gegangen. Ein nervöser Egoist ist er geworden, der die Kinder erst mit sinnlosem Lernen gepeinigt und dann, als sie aufsässig wurden, sich selbst überlassen hat. Endlich hat er Frau und Kinder verlassen – und zwar nach einem fürchterlichen Vorgang: Die Kinder sind alle drei moralisch verkommen; die Tochter Auguste ist eine spinöse alte Jungfer geworden, der ältere Sohn Robert ein nervöser egoistischer Junggeselle. Der jüngere Sohn, Wilhelm mit Namen, hat schließlich künstlerische Talente in sich entdeckt, ist aus eigener Kraft Musiker geworden und hat einmal einen musikalischen Freund in das Haus der Mutter geführt. Als der Vater dabei eine Untreue seiner Frau witterte und in schamloser Weise sich darüber öffentlich aussprach, hat der erzürnte Wilhelm ihn, den eignen Vater, ins Gesicht geschlagen. Gleich darauf ist er zur Besinnung gekommen und davongestürmt, der Vater aber hat das Haus für immer verlassen. Die Mutter ist einsam mit der Tochter in der großen öden Halle zurückgeblieben, denn Robert hat einen kleinen Kaufmannsposten gefunden. – Das ist die kranke Familie, krank, weil die Eltern nicht zu einander paßten und sich gegenseitig krank machten – krank, weil die Kinder den Zank der Eltern von Jugend auf mit ansehen mußten und keine wirkliche Erziehung genossen!

Diesen kranken Menschen stehen nun gesunde Menschen gegenüber. Wilhelm hat nämlich inzwischen bei einer andern Familie freundliche Aufnahme gefunden. Das ist die Familie Buchner, die das wohlthuende Gegengewicht gegen die Familie Scholz bildet. Frau Buchner ist gesund in der kerzengeraden Art ihres Wesens; ihre Tochter Ida, Wilhelms Braut, ist gesund in ihrer bezaubernden Liebenswürdigkeit. Wilhelm aber hat, ein umgekehrter »Loth«, Bedenken gehabt, sein krankes Wesen mit dieser gesunden Ida zu verbinden. Er liebt das Mädchen innigst, aber es erscheint ihm fast als ein Verbrechen, diese Blume in seinen kranken Garten zu verpflanzen. Aber Mutter Buchner ist nicht leicht ängstlich zu machen, und Ida liebt den jungen hübschen Künstler so ehrlich, daß sie voll Vertrauen in die Zukunft sieht. Die Verlobung vollzieht sich, und das Weihnachtsfest soll das »Friedensfest« für die ganze Familie werden. Aber unheimlich wird es dem Zuschauer wie den Buchners, wie sich langsam in der öden, kalten Halle, die immer wieder geheizt werden muß, die nervösen Gewohnheiten der Scholzens 211 entfalten. Und nun kommt gar, ganz von ungefähr und von niemandem erwartet oder erwünscht, der Vater Scholz angereist. Wilhelm, dem Rat der Buchners folgend, wirft sich ihm zu Füßen und fleht um Verzeihung. Er erhält sie sofort. Wie ihn seine Nervenaufregung gleich darauf in eine Ohnmacht verfallen läßt, ist der Vater sogar am besorgtesten und trifft besonnen und liebevoll seine ärztlichen Anordnungen. Alles ist erstaunt über seine Güte. Sogar der kalte Cyniker Robert fühlt sich gemüßigt, den Bruder um eine Unterredung unter vier Augen zu bitten und ihm die Hand zur Versöhnung zu reichen. Alles scheint ausgeglichen. Da beginnt die Weihnachtsbescherung. In Roberts Augen ist sie eine Kinderei. Das Geschenk, das Ida ihm bietet, weist er verletzend zurück. Er liebt dies Mädchen heimlich und mag nicht die Brocken, die von des Bruders Tische fallen. Das verletzt Wilhelm, und wie bald darauf aus dem Nebenzimmer Idas Stimme ertönt, die Weihnachtslieder singt, da tritt Roberts Cynismus kraß ans Licht; Wilhelms Leidenschaft bricht wild hervor, der Vater, dessen Milde nur die Schwäche des Todkranken war, verfällt in einen Ausbruch des längst in ihm schlummernden Verfolgungswahns, und jählings ist die Katastrophe da. Der Vater fürchtet sich vor Wilhelms Umarmungen, fürchtet mit der Feigheit des Wahnsinnigen neue Mißhandlungen von ihm und sinkt, vom Schlage getroffen, nieder. – Der dritte Akt bringt nur noch die Nachlese und das Ausklingen. Jetzt erst erfahren wir, was zwischen den Gatten gestanden, jetzt, wo der Vater nebenan im Sterben liegt. Noch einmal treten die Brüder einander gegenüber in scharfem Gegensatz. Beide wissen, daß sie verpfuscht sind für ihr ganzes Leben. Aber Robert, der Cyniker, weiß auch, daß er nicht unter Menschen taugt, daß er keine Lebensaufgabe erfüllen kann, daß er ein Kranker ist, der in der Einsamkeit leben und alle wärmeren Empfindungen von sich abweisen muß. Wilhelm ist der junge Idealist, der ankämpfen möchte gegen sein Schicksal und doch fühlt, daß er es nicht überwinden kann. Aber er vermag sich auch nicht von Ida zu trennen. Der scheidende Robert rät ihm dringend dazu; Wilhelm hält das aber für Perfidie des Bruders. Er bleibt und läßt sich von ihr an das Totenbett des Vaters führen. Der Vorhang fällt, und der Zuschauer mag das Weitere erraten.

Von allen bisher erschienen Stücken Hauptmanns ist keins mit so absoluter Vollendung durchgeführt, wie dies. Jede Figur lebt, nicht nur die Kranken, auch die Gesunden. Eine Fülle von Lebenswahrheit und eine starke, spannende Seelenhandlung! Freilich wird es auch immer das unpopulärste Drama Hauptmanns bleiben, denn es liegt allzusehr fern für alle Menschen der That und des Lebens. Es ist das Drama der Nervosität, das einzige, was unser nervöses Zeitalter hervorgebracht hat. Im Sinne der gesunden Fortentwickelung der Menschheit müssen wir wohl sagen: »Zum Glück das einzige!« Es wird für die spätere Menschheit keine andere Bedeutung haben als die, ein besonders bezeichnendes »Dokument« aus der schwächlichen Zeit der Nervosität zu sein.

Bei der Aufführung in der »Freien Bühne« war das Stück auf gar keinen Widerspruch gestoßen. Man erkannte damit die wohlgelungene Durchführung eines an sich ziemlich gleichgültigen Themas an. In der Zeit aber, wo alle Poeten 212 sich nach tendenziöser Darstellung sozialer Kämpfe zerarbeiteten, konnte dies kleine Stückchen beweinter Menschenkrankheit ein öffentliches Interesse nicht erregen. Nach dieser letzten Aufführung der Freien Bühne ging man gespannt in die Sommerpause. Auch dort »ward keine Ruh geschenkt«. Jeden aber, auch jeden Tag las man in den Zeitungen Notizen über das neue Stück, an dem Sudermann arbeitete. Erst hatte man erfahren, daß das neue Schauspiel im vornehmen Tiergartenviertel Berlins spiele; dann daß der erste Akt sehr lustig sei; dann daß die folgenden sehr ernst wären. Man verfolgte die Entstehung des Stückes gewissermaßen Tag für Tag, ohne doch in Wirklichkeit vom Inhalt etwas zu erfahren. Wo der glückliche Dichter seinen Fuß hinsetzte auf seinen Sommerreisen, von dort aus flog sogleich eine Nachricht durch alle deutschen Zeitungen. Man konnte in Deutschland über Bismarck und den jungen Kaiser kaum mehr hören oder lesen, als über den Dichter der »Ehre«. Seine stattliche Männergestalt wurde von den jungen Damen weit und breit im Bilde angeschwärmt, und über den Geist der Dichtung verbreiteten sich die ernsthaftesten Männer in dem Sinne, als habe Sudermann dem Epigonentume endlich ein Ende gemacht. Ja, viele stellten ihn alles Ernstes neben oder gar über Schiller und Kleist, und manche meinten das in Wirklichkeit, was man in Berlin in einem spottenden Coupletvers sang:

»Schiller, jetzt bist nicht mehr du der Mann,
sondern jetzt ist es Sudermann.«

Kein Wunder, daß man in fieberhafter Spannung dem Ende des Sommers und dem endlichen Erscheinen des neuen Dramas dieses Allgewaltigen entgegensah. Da kam der Herbst, da ward die Aufführung von »Sodoms Ende« angekündigt – welch vielverheißender Titel! Und nun kurz vor der Aufführung in letzter Stunde – o Schreck, o neue Spannung! – ein polizeiliches Verbot auf Grund des Sittlichkeitsparagraphen! So ward das Stück zunächst nicht aufgeführt, aber in verschiedenen Zeitungen erschien eine Inhaltsangabe desselben. Sudermanns geschäftiger Freund, Otto Neumann-Hofer, hatte nämlich in seiner »Korrespondenz« an verschiedene Provinzialblätter eine ziemlich eingehende Schilderung des Schauspiels für den Tag der Aufführung versandt. Nun ließ sich der Druck dieses Aufsatzes nicht rechtzeitig überall mehr verhindern. Um so ungestümer wurde das Verlangen nach der endlichen Darstellung des Dramas. Verfasser und Theaterdirektor beschritten denn auch den Weg der Beschwerde gegen das Urteil. Doch mußte man sich vorläufig in Geduld fassen.

Dafür brachte der Herbst 1890 noch größere Ueberraschungen. Zwei der bedeutendsten Vertreter des großen idealistischen Stils auf der Bühne kapitulierten plötzlich vor der neuen Strömung: Wilbrandt und Wildenbruch.

Adolf Wilbrandt hatte noch im Jahr zuvor in seinem zwar wenig dramatischen, aber sehr poesievollen und unendlich gedankenreichen Drama »Der Meister von Palmyra« einer tiefen, mystischen Idee das schillernde Prachtgewand seiner schönen Sprache geliehen. Jetzt wollte er auch plötzlich in nüchterner Prosa auf der 213 Bühne die »soziale Frage« lösen helfen. »Neue Zeiten« hieß das dreiaktige Schauspiel, das im Lessingtheater matt und undramatisch in dem Gedanken gipfelte: die wohlhabenderen Gesellschaftskreise müssen eine »Selbstbesteuerung« ihres eigenen Luxus einführen und mit dem so gewonnenen Gelde den Aermeren helfen. – Der Gedanke war gewiß ganz vortrefflich, aber für ein Schauspiel eignete er sich nicht, und so kam es zu einem starken Mißerfolge. Die Anhänger des Naturalismus aber machten sich das zu nutze. Otto Brahm rief in seiner Zeitschrift »Freie Bühne« prahlend aus: »Auch die Besten der alten Generation widerstreben nicht länger dem Gebot der Stunde.« Aber dann zerzauste er das Schauspiel nach allen Regeln der Kunst und nannte es eine »dramatisierte Abhandlung« mit »gesprochenen Leitartikeln und Nachmittagspredigten«.

Noch größere Ueberraschung bereitete aber seinen Verehrern Ernst von Wildenbruch. Er trug in seiner »Haubenlerche« (Septbr. 1890) nicht bloß dem sozialen Gedanken Rechnung, sondern brachte auch den Sinnlichkeitsforderungen des Naturalismus ein grelles Opfer. Da sehen wir einen edel veranlagten Fabrikbesitzer mit Namen August Langenthal. Dieser will die Lage seiner Arbeiter verbessern, indem er ihnen eine Reihe von schönen Wohlfahrtseinrichtungen schafft. »Werdet doch stolz!« ruft er ihnen zu, und er selbst, der über jedes Standesvorurteil erhaben ist, sieht im Menschen nur den Menschen. Darum macht er auch einem jungen Arbeitermädchen einen Verlobungsantrag. Weil sie so früh auf ist und lustig in den Morgen hineinträllert, so heißt sie allgemein die »Haubenlerche«. Sie liebt freilich in Wahrheit den jungen »Büttgesellen« in Augusts Papierfabrik, den munteren braven Paul Ilefeld. Nur aus Rücksicht auf ihre arme, kranke Mutter nimmt sie die Bewerbung des reichen Fabrikherrn an. Aber wie dessen Cousine Juliane sie in schöne Kleider steckt und ihr den feinen Gesellschaftston beizubringen anfängt, da merkt das arme Mädchen bald, wie schlecht sie zu ihrer neuen Rolle paßt. Statt daß sich aber aus diesem Grunde alles wieder friedlich lösen könnte, platzt etwas unmotiviert Ungeheuerliches in die Stimmung hinein. Der Fabrikherr hat nämlich einen Wüstling zum Bruder. Dieser verspricht heuchlerischerweise dem geängstigten Kinde, er wolle sie nächtlicherweile aus dem Hause des Bruders und von Charlottenburg fortführen nach Berlin und sie mit dem jungen Ilefeld vereinigen. Wie aber die Bethörte ihm ihr Kämmerlein öffnet, da versucht der wüste Hermann schamlos, sie zu vergewaltigen. Auf ihr Hilfegeschrei eilen andere herbei. Der Fabrikherr erkennt die Schlechtigkeit seines Bruders und seinen eigenen Irrtum, und die »Haubenlerche« wird Ilefelds Braut.

Die Erstaufführung im »Deutschen Theater« enttäuschte und verblüffte zwar durch diesen unverhofften Schluß, doch blieb das Publikum dem beliebten Dichter treu. Wildenbruch aber selbst fühlte sich genötigt, die ganz unmotiviert bei den Haaren herangezogene widerliche nächtliche Szene aus dem Stoffe seines Schauspiels heraus zu erklären. Er versuchte dies in der von Fritz Mauthner gegründeten Zeitschrift »Deutschland«. Doch kann man nicht sagen, daß ihm dieser Versuch gelungen sei. Im Publikum ging aber wieder einmal die Rede um: »das durfte sich nur Wildenbruch erlauben!« –

214 Und nun die dritte Ueberraschung: Fulda, der friedliche Ludwig Fulda, auch er war plötzlich unter die sozialen Neuerer gegangen. Er hatte sich langsam und vorsichtig nach seiner Art vom Lyriker zum Dramatiker umgebildet. Er war von München nach Berlin herübergekommen und ahnte noch nicht, daß er damit aus der Schule Paul Heyses langsam, aber sicher in die Schule der modernen Naturalisten übergehen würde. Noch in seinen Sinngedichten (Dresden und Leipzig 1888) – in der knappen Form wahre Meisterwerke dieser Gattung! – hatte er für die Modernen nur Spott und Hohn. Er ruft ihnen zu:

»Ihr wärt modern? daß doch die schlimme
Verwechslung immer mehr gedeiht!
Ihr lauscht des Tages lauter Stimme
und überhört den Ruf der Zeit.«

Für Emile Zola bezeugt er gar kein Verständnis:

»Wo deine neue Wahrheit blinkt,
ich fass' es nicht, o Heros,
denn daß es oft auf Erden stinkt,
das wußte schon Homeros.
Er wußt' es und besang in Frieden
den Zorn des göttlichen Peliden.«

Und den Naturalismus straft er mit den Worten:

»Du malst das Leben treu und schlicht,
so rühmst du dich mit Schmunzeln;
doch selbst das häßlichste Gesicht
besteht nicht nur aus Runzeln.«

An einer andern Stelle ruft er einem deutschen Naturalisten zu:

»Greift nur ins Menschenleben! Schöne Worte,
die dieser große Künstler recht verstand:
Er griff hinein, doch irrt er sich im Orte
und etwas Garst'ges blieb ihm in der Hand.«

Bald darauf meint er:

»›Realismus‹ tönt es laut und schrill,
und sie strömen zu von allen Seiten;
Weil sie Pegasus nicht tragen will,
müssen sie auf einem Schlagwort reiten.«

Und unerschöpflich ist er in seinem Spott auf die »Jüngsten«. Einem derselben widmet er eine Grabschrift:

»Er war ein Liebling des Apoll,
langsam und sicher die Bahn sich brechend;
Mit sieben Jahren schon hoffnungsvoll,
mit siebzig immer noch vielversprechend.«

Den ersten Bühnenerfolg brachte ihm der Einakter »Unter vier Augen« im »Deutschen Theater«. Er zeigt ein junges Paar, das bisher beständig in der 215 Gesellschaft gelebt hat und gerade jetzt wieder Abendgäste erwartet. Infolge eines Versehens aber kommt die Gesellschaft nicht; die jungen Leute sind dadurch gezwungen, unter vier Augen sich auszusprechen, und finden dies so reizvoll, daß sie beschließen, von nun ab überhaupt mehr unter sich zu bleiben. –

Die freundliche Aufnahme, die dies liebenswürdige Stückchen fand, veranlaßte Ludwig Barnay, sich für sein neugegründetes »Berliner Theater« sogleich eine neue Arbeit von Fulda zu sichern, und dies war das erste größere erfolgreiche Lustspiel des Dichters. »Die wilde Jagd« heißt es; und dieser Titel findet seine Erklärung in dem Ausspruche einer der Hauptpersonen des Stückes: »Der wilde Jäger und das gehetzte Wild sind immer ein und dieselbe Person bei der wilden Jagd nach dem Glück.« Das Thema des Lustspiels ist eine leichte Satire auf das wilde Hasten und Rennen der modernen Menschen, die vor lauter Streben nach äußeren Glücksgütern nicht zum wahren innigen Genuß des Augenblicks und des Lebens überhaupt kommen. So geht es dem Bankier Crusius, dessen Familienleben einer wilden Jagd gleicht; so geht es auch dem Privatdozenten Dr. Max Weyprecht, den die Lorbeern seiner Gattin, einer berühmten Sängerin, nicht schlafen lassen, den aber seine Ernennung zum Professor auch nicht erfreut, weil er nicht seinem Werke über die Geschichte der Langobarden, sondern der Fürsprache des Verehrers seiner Frau diese Ehre danken zu müssen glaubt.

Der große Erfolg dieses heiteren Stückes genügte aber den Verfasser durchaus nicht. Er fühlte sehr genau, daß der litterarische Wert desselben nicht allzugroß sei, und er mochte sich sein eigenes Sinngedicht zurufen:

»Rom baut man nicht in einer Nacht
und nicht in einer Woche,
und was sogleich Effekt gemacht,
nur selten macht's Epoche.«

Und so erschien er denn ein Jahr später – Saul unter den Propheten! – im Deutschen Theater mit einem sozialen Schauspiel. Jetzt erst schien er wirklich »entdeckt« zu sein. Ganz aufgeregt kamen die Leute aus der Erstaufführung des »verlorenen Paradieses«. Nun schien ja leibhaftig die soziale Revolution auf das Theater gebracht zu sein! Ein wirklicher Dampfcylinder hatte auf der Bühne gearbeitet und war wirklich stehen geblieben, als der Streik ausbrach! Nein, – so etwas hatte man sich nicht versehen von diesem »verlorenen Paradies«. Denn das Paradies ist nach des Dichters Meinung die Freiheit des Menschen, sein Recht auf Selbstbestimmung. Dies haben aber nicht nur die Arbeiter verloren, die in der Fabrik des reichen Bernardi um Lohn fronen müssen, sondern auch ihr Werkführer, der junge Techniker Hans Arndt, der nicht frei nach seiner Neigung wirken kann; denn, wohlverstanden: nicht die Arbeit an sich ist es, die das Paradies des Menschen stört, sondern die einengende Art der Arbeit, die ihm das Bewußtsein giebt, als sei er ein Sklave. Dennoch lehnt der brave Arndt ein Anerbieten seines genußfreudigen Freundes Heideck ab, das ihn selbst vom Fron befreien könnte, denn er fühlt sich verpflichtet auszuharren bei den Arbeitern, denen er bessere Lohnverhältnisse schaffen will. Diese wünschen eine Zulage von 216 15%, und Arndt geht hinüber ins Haus seines Chefs. Er findet dort dessen einzige Tochter Edith, ein verwöhntes Mädchen, das sich grade kurz zuvor leichtfertigerweise mit einem Herrn Otterndorf verlobt hat, – nur weil er Sohn eines berühmten Vaters ist. Arndt macht gesprächsweise die junge Braut darauf aufmerksam, daß sie gar nichts Näheres von der Fabrik ihres Vaters weiß, obgleich doch diese die eigentliche Quelle ihres Glückes und Reichtums ist. Er macht ihr Vorwürfe darüber, daß sie auf weiten, kostspieligen Reisen Paris, Rom und Neapel kennen gelernt, daß sie aber bisher noch niemals den Trieb empfunden habe, den kurzen Weg zur väterlichen Fabrik zurückzulegen, um nur einmal zu sehen, wie es da eigentlich zugehe. Edith fühlt sich dadurch allerdings getroffen und sie beschließt, wirklich ihren Bräutigam in die Fabrik zu begleiten; denn der junge Otterndorf ist von seinem künftigen Schwiegervater zum Kompagnon angenommen, und an ihn verweist der Fabrikherr den jungen Arndt betreffs der Entscheidung über die beantragte Lohnerhöhung. Otterndorf benimmt sich in der Fabrik so rücksichtslos, daß der Streik sofort ausbricht. Bei dieser Gelegenheit thut Edith einen tiefen Blick in die wahre Not und das armselige Leben der Arbeiter, und gleichzeitig erscheint ihr Otterndorf in seiner Hohlheit und Oberflächlichkeit. Sie giebt ihm daher den Laufpaß und schmeichelt ihrem Vater die Lohnerhöhung ab, wofür sie bereitwilligst auf manchen Luxus verzichten will. Da Arndt ihr zuliebe in seiner Stellung in der Fabrik verbleibt, so darf man sich für die Zukunft der beiden schönen Hoffnungen hingeben.

Dieses von menschlichem Wohlwollen freundlich beleuchtete Stückchen sozialen Lebens, mit dem leichten Fulda'schen Dialog und mit manch eingestreutem geistreichem Witzwort gefiel sehr, gerade weil es die soziale Frage nicht in ihren Tiefen aufwühlte, sondern sie mehr liebenswürdig streifte und der Liebe und dem Hoffen freien Spielraum ließ. – Ja fast ausnahmslos alle waren sie plötzlich soziale Dichter geworden und bemühten sich, soviel es ihre Anlagen gestatteten, auch Naturalisten zu sein. Nur ein Einziger von der alten Garde trat auf den Kampfplatz, um mit einem Schauspiel gegen den Naturalismus zu streiten. Aber leider war es kein Ritter ohne Furcht und Tadel. Hugo Lubliner, ein Bühnenwitzbold, der sein Leben lang hin und her geschwankt ist in der blinden Hast nach äußerlichen Erfolgen, – selbst ein Mann ohne innere Richtung und ohne wirkliches Ideal, – er versuchte in seinem Schwank »Im Spiegel« den Naturalismus zu verhöhnen. Brahm schrieb in seiner Zeitschrift: »Wenn die alte Kunst aus so geistlosen Augen schaut; wenn solch graue Langeweile und Konfusion ihr die anmutigen Begleiter sind, dann empfehle sie ihre Seele Gott zu Gnaden! Noch ein solcher Sieg, und sie ist verloren!« – Nur freilich hatte niemand das Recht, in Lubliner einen Vertreter alter oder überhaupt irgend welcher – Kunst zu suchen. So war der Sieg der sozial-naturalistischen Richtung auf den Höhepunkt gestiegen, als sie scheinbar ihrem größten Triumphe entgegen ging. Sudermanns Schauspiel »Sodoms Ende« war zur Aufführung freigegeben! Einen Sturm der Begeisterung weckte das in der jungen Generation. Niemand konnte damals ahnen, daß dieser vermeintliche größte Sieg gerade die erste Niederlage werden sollte.

217 Zunächst entbrannte ein Kampf um die Einlaßkarten. Wochenlang vorher bestellte man sie, und wochenlang vorher waren sie schon vergriffen. »Ganz Berlin« wollte hinein, um dem »litteraturgeschichtlichen Ereignis« beizuwohnen. Alles bisher war ja nur Einleitung gewesen: Hauptmann, Wilbrandt, Wildenbruch, Fulda – was galten alle gegen Sudermann!? Der Weizen der Billetthändler blühte. Höhere Preise sind vielleicht beim letzten Auftreten der Sängerin Lucca nicht gezahlt worden, als diesmal bei Sudermanns neuem Schauspiel. Achtzig, neunzig, hundert Mark wurden für eine einzige Karte gegeben, und mancher Besonnene fragte sich wohl mit Recht im Stillen: wie denn das Stück überhaupt noch beschaffen sein sollte, das den Erwartungen eines so gespannten Publikums noch hätte entsprechen können?! Es machte wirklich den Eindruck, als sei dies Schauspiel ein unsinnig in die Höhe getriebenes Börsenpapier, das einem unvermeidlichen Kurssturz entgegen gehe. Und so kam es auch. Das Stück, das die erwartungsvolle Menge am Abend des 5. Novbr. 1890 im Lessingtheater zu sehen bekam, entrollte eine Menge farbenreicher Bilder, bot eine Anzahl packender Szenen, aber das Erste, was es vermissen ließ, war die geschickte Hand des Bühnentechnikers Sudermann. Es zersplitterte das Interesse, es glich einem Roman, der erst nachträglich für die Bühne bearbeitet worden war. Soviel aber konnte der vorurteilsfreie Beurteiler erkennen: Sudermann hatte sich einen gewaltigen Vorwurf gewählt und hatte ehrlich danach gerungen, über das Maß seiner »Ehre« hinauszuwachsen. Auch in sittlicher Hinsicht hatte er seinen Standpunkt auf einer höheren Warte genommen. Hier galt nicht mehr die blasierte Gleichgültigkeit des Grafen Trast als oberstes Gesetz. Hier wollte Sudermann mit Flammenzeichen ein Bild der Berliner »Gesellschaft« malen gerade im entgegengesetzten Sinn. Diesmal sollten aus den unteren Ständen die braven Vertreter emsig ehrlicher Arbeit gewählt werden. Ueber ihnen in äußerlicher Hoheit schwebt die Gesellschaft der oberflächlichen Lebewelt, die in süßen Sünden prassend und schwelgend ihren unverdienten Reichtum vergeudet. Und den Weg von unten nach oben macht diesmal ein junges Genie, das durch künstlerische Erfolge emporgehoben wird zu jener oberen Schicht, die ihn wie der Himmel lockt: die ihn aber empfängt als ein seelenmörderisches Sodom, wo ihn die jungen, schönen Teufelinnen der Verführung erst um seine Kunst, dann um seinen Ruhm und endlich um sein junges Leben betrügen. Nicht also ein weichherziges Entschuldigungsdrama, wie die »Ehre« – nein, eine furchtbare Anklagedichtung sollte hier geschaffen werden. Aber dieselben Sodomschwelger und Sodomschwelgerinnen, gegen die sich diese Anklage richtete, saßen ja in den Logen, im ersten Range und im Parkett auf Plätzen, die sie mit unerhört teurem Geld erkauft hatten. Und dafür sollten sie nun diese dramatische Strafpredigt über sich ergehen lassen? Wie viele von ihnen hatten sich darauf gefreut, daß sie wieder von dem lieben Sudermann eine so liebenswürdige Moral in Kauf nehmen würden, etwa wie diese: Ein reicher Junge darf immer ein armes Mädchen verführen und betrügen. Mit seinem Geld kann er ja alles wieder gut machen. Die armen Leute haben ja gar keine Ehre! Und die ganze Ehre ist überhaupt ein Unsinn! – Statt dessen hörten 218 sie jetzt zwischen den Zeilen dieser neuen Dichtung die Moral heraus: Ihr seid in all eurem Glanz und Reichtum nicht wert, daß der geniale junge Sohn eines alten ehrlichen Meierei-Inspektors in eure Kreise eintritt, denn ihr könnt ihn doch nur mit eurem Pesthauch vergiften! Ihr privilegierten Buhlweiber in Samt und Seide, die ihr in den Theatern und Salons euch auf den teuersten Plätzen breit macht, ihr sitzt wie gierige Spinnen in euren Netzen, und wenn sich euch etwas nähert, was schön und gut aussieht, so fangt ihr es nur ein, um ihm das Blut auszusaugen und um es dann wegzuwerfen wie ein verbrauchtes Spielzeug! – Und diese Moral paßte denen, die sich getroffen fühlten, sehr wenig. Das war der eine Grund, warum das Stück nicht zünden wollte. Aber es war nur der eine.

Der andere Grund lag allerdings darin, daß es Sudermann keineswegs gelungen war, das wirklich zu schaffen, was er schaffen wollte. Statt eines einheitlichen Gemäldes hatte er nur eine Reihe von Skizzen geliefert. Wohl sprühten sie von köstlichen Einfällen und schlagfertigen Witzen. Oder heißt das vielleicht nicht ein ganzes Stück geleckter Unkultur mit einem grellen Blitzstrahl beleuchten, wenn da bei einem reichen Gecken eine ganze Gesellschaft polierter Hohlköpfe aus dem Speisezimmer taumelt, bis an den Hals angefüllt mit den ausgeklügeltsten Genüssen der verschwenderischsten Schlemmerkunst, und wenn einer das ganze durchgepraßte Gastmahl geistlos lächelnd einen »einfachen bürgerlichen Mittagstisch« nennt?! Und ist es nicht ein prächtiger Gegensatz dazu, wenn sich in einem späteren Akt das Elternpaar des Malers Janikow zeigt: der alte Vater, der um vier Uhr aufstehen muß, um rechtzeitig bei »Bolle« in der Milchwirtschaft zu erscheinen – die alte Mutter, die seinetwegen auch ihr Lager verläßt, um den armen altersschwachen Greis zuvor mit warmem Kaffee zu stärken und ihn mit allen denkbaren Umhüllungen zu schirmen gegen die grimmige Winterkälte da draußen? Das eine Bild ist genau so wahr wie das andere, und das ist eben das Stückchen Genie in Sudermann: daß er den offenen Blick hat für solche Gegensätze des Lebens! Die Nebeneinanderstellung dieser beiden Bilder allein ist eine vollständige Predigt, wie sie tiefer nicht in die Herzen greifen könnte, wenn sie der begeistertste Kanzelpfarrer durch den glühendsten Redeschwung ersetzen wollte! Aus diesem armen Elternhaus ist Willi Janikow hervorgegangen. Da hat ihn sein Gemälde »Sodoms Ende« plötzlich berühmt gemacht. Die leichtsinnige Frau Adah hat es gekauft – und sie kaufte den jungen Künstler gleich mit. Sie lockte ihn in ihre schwülen, sinnentrunkenen Salons; sie entwürdigte den charakterschwachen genialen Jüngling dazu, ihr Buhlknabe zu werden. Er hat die Arbeit und das Streben vergessen; er ist wie Herkules bei der Omphale in weiche Sinnenlüste eingewiegt; er hat das verloren, was das Wichtigste ist für jede Natur, die schaffen will: das natürliche Empfinden für die Reinheit. Die Kräfte, die ihm verliehen waren, um Mächtiges und Hohes zu schaffen, verzehren sich reißend schnell im Niedrigen und Tierischen. Und wie er der tollen Frau Adah dann gründlich satt ist, da will ihn diese schnell noch mit ihrer Nichte Kitty verkuppeln. Nur noch ein Schatten seiner selbst, wankt der Entnervte am frühen Morgen nach Hause, 219 und der alte Vater, der auf dem Wege zur Arbeit grade die Treppen hinuntergestiegen ist, muß den taumelnden Jüngling diese selbe Treppe wieder hinaufgeleiten. Oben ist noch ein anderer bei der Arbeit: der arme Schulamtskandidat Riemann, der die Nacht benutzt hatte, um eine Rede über Janikows Kunst auszuarbeiten und in seinem Stübchen memorierend auf und ab geht. Dem an sich selbst verzweifelnden Freunde giebt er den Rat, die Reinheit wieder aufzusuchen und einmal die wahre Liebe in einer keuschen Umarmung wiederzufinden. Aber Willi Janikow ist schon zu dem Grade gesunken, daß in ihm selbst die Ahnung des Reinen zu Schmutz wird. Er stürmt in trunkenem Rausch in das Zimmer seiner süß-unschuldigen Pflegeschwester Käthchen, um sie mit jenen Umarmungen zu bestürmen, die das Gegenteil der Keuschheit und somit das Gegenteil der höheren Liebe sind. Nun ist Sodom zum Ende reif. Das arme Kind stürzt sich verzweifelnd ins Wasser; in Frau Adahs Salon giebt es schreckliche Szenen. Und wie Willi zur Staffelei wankt, um endlich, endlich – in kraftvoller Arbeit seine Mannheit wiederzusuchen, – da ist es zu spät! Ein Blutsturz tötet ihn.

Gewiß: die alte Wahrheit, daß der Mensch sich selbst verliert, wenn er seine Leidenschaften Herr werden läßt über sich selbst, – sie hätte nicht unheimlicher zum dichterischen Ausdruck gebracht werden können, als hier, wenn diese so von mir herausgeschälte Haupthandlung kurz und entschlossen und in deutlicher Beleuchtung durch den Grundgedanken dramatisch aufgebaut worden wäre. Aber so wird sie zerrissen von durchkreuzenden Nebenhandlungen, mühsam wieder zusammengenäht durch fahriges Rankengewirr und erstickt von schwülstig-schwülem Beiwerk. Das wäre alles nicht geschehen, wenn Sudermann hätte in behaglicher Ruhe daran arbeiten können, wenn ihm nicht jeden Morgen beim Frühstück sein eigener Name verwirrend aus jeder Zeitung entgegengegrinst hätte, wenn nicht thörichte Freunde stündlich mit der Laterne der Oeffentlichkeit blendend über seinen Schreibtisch geleuchtet hätten, wenn ihn nicht das Bewußtsein gepeitscht hätte: die ganze Welt guckt dir beim Schreiben beständig auf die Finger. Und obendrein drängte ihn wohl noch der Direktor des »Lessingtheaters« um das Manuskript von Stück und Rollen, und der Ehrgeiz brüllte ihm beständig in die Ohren: im nächsten Herbst muß dein zweites Stück zur Aufführung kommen, und der Erfolg muß noch weit größer sein als beim ersten, sonst verlierst du deinen jungen Ruhm, und ein anderer läuft dir den Rang ab! – Unter all diesem verwirrenden Drang hätte auch der Größte nichts Großes schaffen können, und so kam es, daß der wirkliche Erfolg ganz ausblieb. Sudermanns Ruhm erhielt einen so empfindlichen Stoß, daß er sich niemals ganz wieder zu der alten Höhe aufschwingen konnte. – Aber freilich, obgleich das Stück in Wirklichkeit sehr wenigen gefiel, – gesehen wollte es doch jeder haben. Und so erlebte es denn eine stattliche Reihe von Aufführungen und wurde eine Zeitlang Abend für Abend vor ausverkauftem Hause munter ausgezischt, bis man sich daran gewöhnt hatte. Die gehässigste Kritik aber übte an dem gestürzten Rivalen ihres Hauptmann die Partei der »Freien Bühne«. Schlenther verglich Sudermann dort ohne weiteres mit der berühmten Backfischschriftstellerin – mit der Marlitt!

220 Inzwischen war auch Hauptmann mit einem neuen Werk fertig geworden, mit den »Einsamen Menschen«. – Ein Gelehrter wohnt einsam mit seiner Frau, deren Geld ihn den Sorgen des Lebens entrückt hat, deren Liebe ihn freundlich umgiebt, deren Geist aber den seinen nicht verstehen kann. Desgleichen verstehen ihn seine Eltern nicht, denn sie sind fromm und er ist ein moderner Freigeist. Auch sein Freund Braun, ein junger Maler, hat kein Verständnis für ihn, nicht einmal für die zarten Saiten seines Herzens. Denn Johannes Vockerath steht auf dem Standpunkte, daß es kein Abfall von seiner geistigen Freiheit ist, wenn er den alten Eltern zuliebe sein Kind taufen läßt, was Braun aber für eine große Schwäche hält. Mit diesem Tauffest beginnt das Stück. Johannes' Liebenswürdigkeit bewirkt es, daß der Pastor und der Vater kein Glück haben mit ihren Sticheleien auf des Sohnes Gottlosigkeit und darwinistische Ketzerei. Da erscheint eine Freundin Brauns, eine Züricher Studentin. Sie kommt in Johannes' Haus, und dieser erkennt in ihr sofort die geistreiche Frau. Sie wird genötigt, ein paar Wochen in der Villa zu bleiben, und rettungslos kommt es zur Katastrophe. Johannes verliebt sich in sie, ohne es zu ahnen. Die junge Frau geht daran zu Grunde, der Mutter blutet das Herz, aber Johannes veranlaßt die Anna Mahr immer wieder zur Verlängerung ihres Aufenthaltes. Wie sich endlich seine Eltern ins Mittel legen und Anna geht, stürzt er sich verzweiflungsvoll in den Müggelsee. – Nun, es ist gewiß ein großes Unglück für einen Mann, nicht verstanden zu werden von seinem Weibe. Aber daran zu Grunde gehen kann nur ein Schwächling, zumal wenn das Weib so fügsam, still und lieb ist wie Frau Käthchen. Und in der That bemerkt das tiefer blickende Auge, daß in Hauptmann sich langsam ein Wandel der Anschauung vollzieht. Er steht selbst nicht mehr ganz auf Seiten des nervösen Helden. Ganz deutlich liest man aus manchen Aeußerungen der Anna Mahr heraus, daß diese selbst auch nicht völlig eingenommen ist von dem guten Johannes, wie dieser von ihr. Die kühne Jungfrau, die, dem gesellschaftlichen Vorurteil zum Trotz, sich den Studien widmet, kann doch unmöglich an einen Schwächling, wie dieser Johannes einer ist, durch etwas anderes gefesselt sein, als durch die vorübergehende Anziehung des Gegensatzes! Sie ist die Besonnene, sie ahnt früh, daß sie Unheil stiftet, sie erkennt die Vorzüge Käthchens, deren ältere Rechte und gutes Gemüt an. Desgleichen ist Käthchen voller Bewunderung für die kluge und doch so weibliche Anna. Sie erklärt, sie wisse wohl, daß diese viel besser sei als sie. Rein und gut stehen also hier zwei Frauen einander gegenüber, die ein jammervoll schwacher Mann in den Strudel seiner nervös schwächlichen Leidenschaft hinabreißt. In dem letzten Gespräch, das im vierten Akt Johannes und Anna führen, mahnt sie ihn an das Leid, das er den Seinen bereite. »Ja, aber Sie sagten doch sonst selbst immer, man soll die Rücksicht auf andere nicht über sich herrschen lassen; man soll sich nicht abhängig machen!?« Fein antwortete darauf Anna: »Aber wenn man abhängig ist?« – Das Wort kann hier verschieden verstanden werden. Eigentlich aber charakterisiert es den ganzen Johannes. Er ist der Typus des abhängigen Menschen. Er kann nicht arbeiten ohne Anteilnahme anderer; er glaubt sich frei 221 zu machen von seinen äußeren Ketten, die ihn an Käthchen fesseln, und wird der Sklave seiner Neigung zu Anna. »Ich habe mich selbst gefunden und werde nur ich selbst sein. Ich selbst, trotz euch allen!« So ruft er am Schlusse des dritten Aktes und weiß gar nicht, daß er gerade jetzt nur noch ein Geschöpf des Willens der Anna ist, deren Gedankenwelt ihm zur Lebensatmosphäre wird. »Ja, aber Sie sagten doch –« wie deutlich gemahnt diese Ausdrucksweise an den Schulknaben vor dem Lehrer! Er nimmt es aller Welt übel, daß man seinen Verkehr mit Anna als ein »Verhältnis« auffasse, da es doch fern ist von aller Sinnlichkeit. »Das Tier will nicht mehr das Tier ehelichen, sondern der Mensch den Menschen. Freundschaft, das ist die Basis, auf der sich die Liebe erheben wird.« So sagt Johannes wunderschön. Aber ist denn die Freundschaft an den Ort gebunden? Kann die Freundschaft keine räumliche Trennung überdauern? – Aber nein, will sie verreisen, so will er auch verreisen; ungeachtet der schrecklichen Qualen seiner Frau will er nach Zürich verziehen. Kaum ist Annas Zug nur abgefahren, so rast er schon hinunter in den See. Er war weder die Liebe einer Anna wert, noch die einer Käthe, die um seinetwillen langsam in Geistesstörung verfallen ist. Es ist kein Zweifel, Hauptmann hat hier den Typus des nervösen Weibmannes der mitleidigen Verachtung übergeben wollen. Im »Friedensfest« stand er noch völlig unter dem Banne dieser Charaktere, wie eine Verteidigung derselben liest sich jenes ergreifende Drama. Hier aber fängt er an dies Weichheitsstadium zu überwinden. – Und auch eine weitere Klasse von Figuren läßt er hinter sich, die Loths. Anna Mahr sagt einmal von Braun, dem Maler: »Er hat etwas imputirt erhalten: gewisse sozial-ethische Ideen, oder wie man sie sonst nennen will; und daran haftet er nun, daran klammert er sich, weil er allein nicht gehen kann. Er ist keine starke Individualität als Mensch, wie sehr viele Künstler. Er getraut sich nicht, allein zu stehen, er muß »Massen hinter sich fühlen.« – Zwischen den Brauns und den Vockeraths hindurch soll es hinausgehen ins Land der selbständigen Kraft, das Anna andeutet mit den Worten: »Auf der einen Seite beherrschte uns eine schwüle Angst, auf der andern ein finsterer Fanatismus. Die übertriebene Spannung scheint nun ausgeglichen. So etwas wie ein frischer Luftstrom, sagen wir aus dem 20. Jahrhundert, ist hereingeschlagen. »Meinen Sie nicht auch, Herr Doktor?« Aber der Herr Doktor meint anders, denn er ist ja noch in dem Stadium der schwülen Angst, wie sein Freund, der Maler Braun, in dem des gedankenträgen Fanatismus. Schade, daß Hauptmann diese Anna Mahr nicht zur eigentlichen Heldin gemacht hat. Dann wäre es ein Zukunftsdrama geworden. So hat es eigentlich nur Interesse für das Studium der Entwickelung des Dichters. Denn, da diese Zukunftsgedanken nur episodisch auftauchen, so stellt es sich als ein Gegenwartsdrama der Nervosität doch nur neben das »Friedensfest«, dem es künstlerisch freilich weit nachsteht. – –

Trotzdem oder gerade darum – waren die »Einsamen Menschen« das erste Stück Hauptmanns, das auf eine regelrechte Bühne übergeführt wurde. L'Arronge machte den Versuch, das Stück in den Spielplan des Deutschen Theaters einzufügen. Doch sah man hier so recht den Unterschied zwischen einer solchen 222 Aufführung und derjenigen auf einem Vereinstheater. Wo man »unter sich« ist, wird alles verstanden, und die langatmigen fünf Akte konnten daher auf der Freien Bühne ertragen werden, trotz des peinlichen subtilen Sekundenstils, in dem sie – treu nach den Vorschriften von Arno Holz – geschrieben sind. L'Arronge hatte deswegen berechtigte Angst vor seinem Publikum gehabt. Aber die »Verbesserung«, die man deswegen am Stücke vornahm, war geradezu unerhört unkünstlerisch! Man ließ einfach den ganzen dritten Akt aus! Daß der Zusammenhang des Stückes dadurch für nicht eingeweihte Zuschauer in der That gar nicht gestört wurde, – das ist allerdings die denkbar schärfste Kritik, die man gegen diesen dritten Akt und somit gegen die Breite des ganzen Stücks aussprechen kann. Es gab denn auch zunächst nur sehr wenige Wiederholungen auf dem Deutschen Theater.

Aber bald darauf verbreitete sich eine Nachricht über den jungen Poeten, die allerdings das größte Interesse erregen mußte. Es war in jenen Jahren in der Presse viel die Rede gewesen von der Not der armen Weber im schlesischen Gebirge. Die »hungernden Weber im Eulengebirge« wurden eine Zeitlang sprichwörtlich. Und nun kam plötzlich die Kunde, daß Gerhart Hauptmann – selber der Enkel eines schlesischen Webers – das Hochgebirge seiner Heimat durchstreife, um sich den Weberaufstand der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts recht anschaulich und lebendig zu machen. Hier also sollte nun, so erwartete man mit Bestimmtheit, das »soziale« Drama endlich entstehen.

Während er in der Stille an diesem neuen Werke arbeitete, brauste in Berlin der Wettkampf auf der Bühne fort. Da war soeben P. K. Rosegger, der liebenswürdigste aller deutschen Volksschriftsteller, auf dem ihm so ungewohnten dramatischen Kampfplatze erschienen, gleichfalls mit einem sozialen Drama. Dem Sinne nach ist es zweifellos das schönste, das die ganze Zeit hervorgebracht. An dramatischer Kraft bleibt es zwar freilich weit zurück hinter dem, was die Bühne in Wirklichkeit erfordert, aber wenn die »Einsamen Menschen« ein Drama sind, so ist es Roseggers »Am Tage des Gerichts« gewiß in viel höherem 223 Sinne. Die wunderbare Weise aber, wie es schlichte Naturwahrheit, ein tiefes soziales Mitgefühl und einen geradezu erhabenen Standpunkt freier Sittlichkeit vereinigt, hebt dieses Werk hoch empor über die meisten seiner Art. – Auch hier ist die eigentliche Heldin eine Frau aus dem Volke, eine Förstersfrau. Im ersten Akt wird ihr Mann erschossen vom armen »Tonl«. Verzweiflung hat diesen zur That getrieben. Er ist schon einmal wegen Wilderns vorbestraft worden. Vergebens hat er seitdem Arbeit zu bekommen versucht. Alle weisen den bestraften Menschen hartherzig ab. Auch der Förster. Da wird Tonl wieder zum Wilddieb und schießt, ertappt, den Förster nieder. Martha, die Förstersfrau, muß es schaudernd mit ansehen. Tonl wird verhaftet. Im zweiten Akte, der voll ist von köstlichem Banditenhumor, harrt er im Kerker stumm und mürrisch seines Schicksals. Dies soll sich in nächster Zeit vollziehen, am »Tage des Gerichts«. Im dritten Akte aber sehen wir schon, wie die Förstersfrau sich aufmacht, um als Belastungszeugin die Wanderung zum Gerichte anzutreten. Sie kommt dabei an der Hütte des armen Tonl vorüber und findet dessen Frau und Kinder, ohne sie sogleich zu erkennen. Die entsetzliche Armut und das schreckliche Elend der verkommenen Familie rührt sie aufs tiefste. Sie, die Armut nie gekannt hat, thut plötzlich einen tiefen Blick in die verzweifelte Lage so eines armen Ausgestoßenen, und aus den Erzählungen von Tonls verzweifelndem Weibe wird ihr plötzlich klar, wie anders ein Verbrecher oft erscheint, wenn man seine ganze Vorgeschichte kennt: wenn man erfährt, wie das Gute in seiner Seele untergegangen ist in Verzweiflung an Gott und Menschen und sich umgewandelt hat in rechtlosen Groll gegen die Glücklichen. Mit umgewandeltem Herzen schreitet Martha den Weg weiter zum Gericht, wo die Zeugenvernehmung mittlerweile bereits beendet ist. Mit einer köstlichen Satire beginnt jetzt der Gerichtsakt. Die Plaidoyers haben soeben angefangen. Der Staatsanwalt erklärt: wenn je ein Mörder seiner That überführt worden sei, so sei es Tonl. Und gleich darauf der Rechtsanwalt: wenn je die Unschuld eines Angeklagten klar erwiesen sei, so sei es bei diesem Tonl der Fall. In diesem Augenblicke tritt Frau Martha ein und man beschließt, sie schnell noch zu vernehmen – sie ist ja die einzige Augenzeugin. Aber wie sie jetzt auf den stummtrotzigen Tonl blickt und tief in seiner verirrten Seele zu lesen glaubt, da verschmäht sie die blutige Rache, die ihr ja doch den geliebten Toten nicht wiedergeben kann. Sie antwortet gütig, ausweichend, menschenfreundlich, als zweifle sie an seiner Schuld. Da starrt sie Tonl an wie ein Wesen aus einer höheren Welt. Es ist das erste Mal, daß dem Armen und Verstoßenen teilnahmvolle menschliche Güte in dieser Weise entgegentritt. Bezwungen von dieser neuen Erfahrung und beschämt darüber, daß die Frau seines Opfers für ihn spricht, wirft er sich auf die Knie nieder und bekennt freiwillig seine That. Und während über dieser Szene voll heiliger Weihe langsam der Vorhang herniederrauscht, scheinen Staatsanwalt und Verteidiger sich auszuwachsen zu den Vertretern der menschlich-starren Gerechtigkeit und der göttlichen, alles verzeihenden Liebe. Man scheint keinem alltäglichen Gerichtstage, sondern einer Art von Weltgericht beigewohnt zu haben, und der Sinn des Ganzen bietet sich in dem Gedanken dar, daß die Strafe mit dem 224 Verbrechen aus der Welt verschwinden würde, wenn es gelingen könnte, jeder Menschenseele das ihr angeborene Gute liebevoll zu erretten. Die Wirkung dieses Schauspiels war tief und still, wie die einer ergreifenden Predigt, aber zu einer starken äußeren Wirkung war das wenig dramatische Drama freilich nicht geschaffen.

Eine solche aber errang ein anderes Drama, das gleichfalls einen schuldlos schuldigen Mörder zum Gegenstand hatte: die immer wieder auftauchende Behauptung, daß der vor Jahren verurteilte Albert Ziethen, der schon lange Zeit im Zuchthaus saß, in Wahrheit unschuldig sei, hatte wohl die leicht erregbare Phantasie des Dichters Richard Voß veranlaßt, einen unschuldig Verurteilten zum Helden eines Dramas »Schuldig« zu machen: »Thomas Lehr« wird nach langer Zwangshaft als unschuldig erkannt und aus dem Zuchthause entlassen. Heimkehrend findet er seine Familie in gräßlichem Zustand, seine Frau beherrscht von einem Wüstling, seinen Sohn von der Versuchung befallen, zum Mörder zu werden. In seiner Verzweiflung läßt er sich dazu hinreißen, mit der dem Sohne entwundenen Axt selbst den Mörder seiner Ehre zu erschlagen – und nun muß er als wirklich Schuldiger zurück ins Zuchthaus. Noch ehe dies krasse, aber wirkungsvolle Stück durch Barnays großartige Darstellung im »Berliner Theater« einen starken Sensationserfolg errang, hatte der junge Dichter Wilhelm Meyer-Förster ganz unabhängig von Voß denselben Stoff bearbeitet in seinem Drama »Unschuldig«, das später im königlichen Schauspielhaus umgetauft wurde in »Unsichtbare Ketten«. Hier war der Held ein junger Arzt, der wegen mangelnder Beweise aus der Anklage des Mordes entlassen worden war. Ueberall schleicht ihm der Verdacht nach, er findet keine Praxis wieder, ein Anfall seines Jähzorns bringt gar die Mutter auf den schrecklichen Verdacht, an dem sie zu Grunde geht. In seiner Verzweiflung erschießt er seine Braut und ist nun gleichfalls ein wirklicher Mörder. – Infolge einer ungeschickten Bühnenbearbeitung versagte das Stück bei der Aufführung – desto stärkeren Erfolg hatte ein anderes Mörderdrama.

Felix Philippi, der einst mit Deutschinger zusammen in Augsburg die erste Aufführung von Ibsens »Gespenstern« veranlaßt hatte, errang ihn beim Publikum mit seinem »Alten Lied«. Da ist ein Rechtsanwalt Dr. Cornelius, der einem entlassenen Zuchthäusler Vorwürfe darüber macht, daß er aus einem anständigen Menschen durch Eifersucht zum Mörder geworden ist. Im nächsten Augenblicke aber erfährt Cornelius, daß seine eigene Frau ihn schamlos hintergeht, und er greift in blinder Wut zur Mordwaffe. Es ist das alte Lied, daß die Leidenschaften Herr werden über den Verstand.

Nur ganz lose waren in diesem äußerlich sehr wirksamen Stück Liebe und soziale Gegensätze miteinander verknüpft. Aber eine entfernte Aehnlichkeit in der Idee verknüpft es mit Roseggers Meisterwerk: der Versuch, einen Mord aus sozialen Gründen zu erklären. Das Gleiche versuchte einige Wochen darauf Karl Emil Franzos in seinem »Präsidenten«. Ja, auch er – einer der allerbedeutendsten und beliebtesten Erzähler – wollte zum sozialen Dramatiker werden. Und so bearbeitete er einen seiner packendsten Romane zu einem wirkungslosen Theaterstück. Ein Gerichtspräsident soll eine Kindesmörderin aburteilen und 225 entdeckt in ihr seine eigene natürliche Tochter. Er hat früher einmal mit einem armen Mädchen ein Verhältnis gehabt, das er später gelöst hat seiner Carrière wegen. Nun steht die Tochter der treulos Verlassenen wiederum als eine Gesunkene vor ihm. Sich selbst muß er die Schuld an ihrem moralischen Fall zuschreiben, da er sie ja um den Vater betrogen hat. Der Versuch, sie zu befreien, verstrickt ihn in neue Kämpfe, aus denen er schließlich keinen anderen Ausweg findet, als den Selbstmord. – Dieser Stoff war als Roman mit großer Meisterschaft von Franzos gestaltet worden. Das daraus geformte Drama zerflatterte und blieb wirkungslos.

Doch – die Mörder zu entschuldigen war nun einmal das Lieblingsthema der Dramatiker. Am meisten mochte dazu der großartige Mörderroman des Russen Dostojewskij »Schuld und Sühne« beitragen, der unter dem Titel Raskolnikow in Deutschland immer bekannter wurde. Der frühere Schauspieler Hans Olden, der schon in der ersten Nummer der »Freien Bühne« für Tolstoj eingetreten war, brachte jetzt auch dem andern Russen eine Huldigung dar, indem auch er ein Mörderdrama ersann. Die eigentliche Veranlassung dazu hatte ihm zwar freilich ein schrecklicher Mordprozeß aus der Berliner Gesellschaft gegeben. Eine gebildete Frau, die Gattin eines jüdischen Rabbiners, hatte ihren eigenen Bruder dazu angestiftet, ihren Mann zu töten; zum Glück war aber dieser Mordversuch nicht gelungen. – Nach der Methode der Realisten griff Olden diesen Fall »aus dem Leben« heraus und machte daraus ein Bühnenstück. Ein junger Mann, der seine Schwester sehr liebt, entdeckt, daß diese 226 unglücklich verheiratet ist. Er erschießt seinen Schwager daher bei einem Spaziergang im Tiergarten, kurz ehe er ins Ausland abreist. Nach seiner Wiederkehr verrät ihn sein schuldiges Gewissen. – Doch besaß Olden nicht die volle Dichterkraft, um diesen seltsamen »Glückstifter« seelisch glaubhaft zu machen.

Doch war hier mit dem Mörderproblem ein anderes verknüpft, das ja seit Jahren schon das Lieblingsthema der Realisten war: das der leidenden Frau in der unglücklichen Ehe. Auch dies sollte nun noch naturalistischer behandelt werden. Zwei Wiener Autoren, G. Schwarzkopf und E. Karlweis, hatten sich zusammengethan, um »eine Geldheirat« so trocken und nüchtern zu schildern, wie sie im Leben häufig genug vorkommt. Das gelang ihnen so gut, daß auch ihr Schauspiel in allzugroßer Nüchternheit stecken blieb.

Das Mörderthema aber, das nun einmal in der Luft lag, verfeinerte sich allmählich. Zwar brachte der Berliner Kritiker Eugen Zabel gemeinsam mit dem Hamburger Ernst Koppel den »Raskolnikow« selbst auf die Bühne, aber man fing doch jetzt an, den Mord mehr im geistigen Sinne aufzufassen.

Mit einem ähnlichen Stoff sprang Ludwig Fulda in die Arena: »Die Sklavin« nannte er sein neues Schauspiel, worin eine Frau allerdings fast noch ärger als eine Sklavin von ihrem Manne behandelt wird. Sie darf nicht lesen, was ihr Freude macht; sie muß schweigend zusehen, wenn ihr Mann mit Freunden Skat spielt; und dieser verbietet ihr den Mund, wenn sie bei den ernsten Gesprächen der Männer mitreden will; nur wenn die sinnliche Begier in ihm erwacht, scheint er sie zu lieben und verlangt, daß sie ihm zu Willen ist. Wie sie das plötzlich nicht mehr aushalten kann, geht sie davon und will sich mit einem, von ihr geliebten, Baumeister verheiraten. Aber ihr erster Gatte giebt sein Herrenrecht an seine Sklavin nicht auf, und da ein gerichtlicher Scheidungsgrund nicht vorliegt, so bleibt ein Prozeß aussichtslos. Da beschließt sie mit dem Manne ihrer Wahl in freier Liebe zu leben. – Mit diesem Stück, das einen vorübergehenden Erfolg errang, hatte Fulda sich nun völlig, in Form wie Gedankeninhalt, auf den Boden der einst von ihm bekämpften modernen Richtung gestellt. Aber seine Eigenart hatte er dabei so gut wie ganz verloren. Das Stück machte den Eindruck einer vortrefflichen Schülerarbeit, die nach den Vorschriften von Holz, Brahm und Hauptmann sauber und nett ausgeführt war und von den drei Lehrmeistern mit der Zensur 1a bezeichnet werden konnte. An Frische aber stand es hinter den Lustspielen aus Fuldas Anfängen weit zurück. Denn diese waren aus der Seele ihres geistigen Vaters geboren, während Fulda jetzt seine Buchstaben nur ängstlich und mühsam in die vorgezogenen Schönschreiblinien der Berliner Allerweltsmeister malte.

Einen gab es, der sich mächtig empörte über diese vollkommene Selbstknechtung Fuldas – das war sein väterlicher Freund, der alte knorrige Nibelungendichter Wilhelm Jordan. Von Frankfurt a/M. aus sandte er seinem einstigen Liebling eine öffentliche poetische Ermahnung, voll Zorn gegen die Berliner: 227

Ludwig, Ludwig, komm nach Hause!
Nicht als übereilt sanguinisch
widerlege schöne Hoffnung.
Komm! Verkümm're nicht berlinisch!
Vielverheißend war dein Anlauf;
wähltest eigne, saubre Pfade! –
Nippe nicht am Jüngsterfusel
dich auch krank. Es wäre schade.

Mußt auch du zum Bühnenfutter
Ehefäulnis dir erwitzeln,
um, auf Märchenglück versessen,
hohle Weiber toll zu kitzeln,
bis sie schwören, daß nur Buhlschaft
sie von heil'ger Schande rette,
denn des Sakramentes Pflichtband
sei nur schnöde Sklavenkette?

Komm nach Hause! Große Forscher,
willensstarke, geniale
Staatenlenker, siegeskund'ge
Feldherrn, tapf're Generale
war die Spreestadt stets geeignet
uns zum Segen zu erziehen;
aber Dichter hohen Ranges
sind noch niemals dort gediehen.

Nicolai, Onkel Spener,
Tante Voß, besorgten's nüchtern,
Goethen, Schillern, dann auch Rückert
südwärts wieder zu verschüchtern.
Tieck nur blieb, der die Romantik,
die verstorbene alte Hexe,
lebend log, und Raupach saß im
Meisterstuhl der Dramenfexe.

Was man heute dort bejubelt
und bezahlt mit reichem Lohne,
ist gepaust mit Unratfarben
durch französische Schablone.
Artig Eignes kannst du malen,
brauchst nicht für den Markt zu pinseln,
noch der kranken Weltverkläger
Unkenrufe nachzuwinseln.

Keusch und vornehm wieder dichte,
singe nicht im Jüngsterchore,
rüste echten Sieg, verzichte
stolz auf modisches Furore. Sei nicht mußesiecher Hulda
Lüsterlaunen liebedienisch.
Komm nach Hause, Ludwig Fulda,
sonst verkümmerst du berlinisch! –

Und Jordan war nicht der einzige, der von der älteren Generation noch Einspruch erhob gegen die junge. Freilich – Lubliner hatte das schnell wieder aufgegeben. Erfolgbedürftig, wie er war, hatte er sich schleunigst selbst daran gemacht, in einem »realistischen« Drama die »soziale Frage« zu lösen. Und er fand diese Lösung sehr einfach: der Kaiser muß Befehl geben, daß Fortbildungsschulen für das Volk geschaffen werden; dann braucht ein armer Werkführer nicht mehr seine genialen technischen Ideen in sich verrosten lassen – aus Mangel an Vorkenntnissen. Im Hinblick auf diesen »kommenden Tag« schließt der »Dichter« sein Stück sehr stimmungsvoll patriotisch; und da nun damals Wilhelm II. die Schulreform kräftig in die Hand nahm, so läßt sich begreifen, warum der vielgewandte Herr Lubliner plötzlich nach dieser Seite hin seine Verbeugung machte. Sehr rührend bezog er sich in der Vorrede zur Buchausgabe auf jenen Apostel, dem einst ein Heide im Traum erschien mit der Bitte, auch sein Volk zu bekehren. So sei auch ihm öfter ein Arbeiter erschienen mit der Bitte, auch über seinen Stand einmal ein Stück zu schreiben. Dies Versprechen hatte Lubliner nun eingelöst, und Europa konnte aufatmen.

Aber als Gegner der ganzen Richtung zeigte sich von der Bühne herab noch immer Paul Lindau in seiner »Sonne«. Ein junges Weib, Mathilde von Hohenrade, will gleich Ibsens »Nora« von Mann und Kindern gehen, da ein Schaumschläger der modernen Richtung sie bethört. Sie und die gleichfalls bethörte Bankiersfrau Dora Alexis samt ihren bedeutungslosen Männern stellen die Schattenseiten des modernen Lebens dar, während die junge Sabine Berg die 228 poetisch gedachte Verkörperung der Sonne darstellt und ihr Bräutigam, der Rechtsanwalt Gregor, den Sinn des Stückes ausspricht in den Worten: »Wer mir die Freude am Leben raubt, der bringt mich um mein höchstes Gut.« Das richtet sich also gegen den modernen Pessimismus, und über den Naturalismus heißt es: »In der modernen Kunst scheint die Wahrheit erst da anzufangen, wo die Seife aufhört.« – In ähnlicher Weise bekämpfte Paul Heyse den Wahrheitsfanatismus in seinem Schauspiel »Wahrheit«. – Aber Lindau war damals schon von Berlin nach Strehlen bei Dresden übergesiedelt.

Sein Nachfolger als erster Kritiker am »Berliner Tageblatt« war Sudermanns Genosse Otto Neumann-Hofer geworden. Gleichzeitig ward dieser der Herausgeber des »Magazins für Litteratur«. Die Redaktion Bleibtreus hatte dort nicht lange gedauert. Aber der modernen Richtung war die Zeitschrift treu geblieben, als sie 1888 in den Besitz des Dresdener Verlegers Ehlermann überging und Wolfgang Kirchbach eigens von der bayrischen Hauptstadt nach der sächsischen zog, um die Redaktion zu übernehmen. Jetzt kaufte der Enkel des Begründers, Sudermanns Verleger Lehmann, die Zeitschrift und übertrug die Redaktion seinem Vertrauensmann. Da nun gleichzeitig derselbe Verleger auch eine Zeitschrift für moderne Romane unter dem Titel »Romanwelt« schuf und auch deren Leitung den Händen Otto Neumann-Hofers anvertraute, so nahm der Führer der Sudermann-Partei nunmehr auf einige Jahre eine dreifach gesicherte litterarische Machtstellung in Berlin ein. Es geschah dies um dieselbe Zeit, wo Fontane sich ganz von der kritischen Thätigkeit zurückzog und Schlenther nun als Führer der Hauptmann-Partei die einflußreiche Kritik der »Vossischen Zeitung« einseitig und vorurteilsvoll beherrschte. Brahm legte später die Redaktion der »Freien Bühne« nieder, nachdem ihm früher schon eine ganze Reihe von modernsten Autoren die Mitarbeiterschaft gekündigt hatte und später die Wochenschrift in eine Monatsschrift umgewandelt wurde. Sein Nachfolger wurde Wilhelm Bölsche, ein treuer Genosse der Hauptmann-Partei.

Ja, von einer »Hauptmann-Partei« kann man jetzt mit Fug und Recht reden; denn dieser begabteste Ausgestalter der dichterischen Theorie von Holz und Schlaf hatte seine jungen Meister längst in den Schatten gestellt. Diese beiden scheinbar so Unzertrennlichen aber beschlossen gerade jetzt sich zu trennen. Sie setzten vorher ihrer Freundschaft selbst zwei litterarische Denkmale. Das eine war durchaus gut zu heißen. Sie sammelten nämlich alle ihre gemeinsamen Arbeiten unter dem Titel »Neue Geleise« (Berlin 1891). Der Titel war insofern berechtigt, als ja auf diesen »Geleisen« in der That eine ganze Reihe Jüngster ihre kleinen Dampfmaschinchen dahinsausen ließ, und auch Hauptmanns Lokomotive rollte noch immer auf diesen Schienen. Und daß auf ihnen kein Schnellzug in die Ewigkeit sausen würde, konnten damals nur Weiterblickende erkennen. Auf alle Fälle aber bleibt die Sammlung ein interessantes Dokument, um so mehr, als die Eitelkeit der Autoren eine ganze Auswahl von Zeitungskritiken hatte andrucken lassen. Arg enttäuscht aber wurden ihre treuesten Anhänger durch die letzte Veröffentlichung der Dioskuren: »Der geschundene Pegasus«. Der 229 vielversprechende Titel ließ erwarten, daß hier eine große Satire auf die Dichtung der Zeit erfolgen sollte. Aber statt dessen erhielt der bestürzte Käufer ein großes Buch in Bilderbogenformat in die Hand, das im Stil von Wilhelm Buschs geistreichen Scherzbüchern – aber leider ohne dessen Geist und Scherz – einen Tag aus dem Leben der beiden Dichter der Familie Selicke schildert. Die von Schlaf gezeichneten Bilder sind ganz geschickte Nachahmungen von Buschs eigenartigem Karikaturstil und dürfen als anspruchslose Selbstironie vorbeigelassen werden. Aber fast Mitleid erregend ist die Hilflosigkeit, mit der Holz sich quält, neckische Verse zu schmieden über seine und seines Freundes Schlaf Erlebnisse in ihrer Wohnung zu Nieder-Schönhausen, beim Mittagsmahl in Berlin im »schwarzen Truthahn« und nachher im »Café zum gebratnen Floh« und in verschiedenen Kneiplokalen; und nur ganz flüchtig wird in zwei Strophen ein »litterarischer Verein« gestreift. Als Probe des gequälten Witzes mag die Schlußstrophe hier stehen:

»Doch jetzt, o Leser, dir zur Qual
die unvermeidliche Moral.
Kannst du's vermeiden, heiß' nicht Schulze,
plagt dich die Gicht, trag mit Geduld se,
schlürf' sogar Austern, knacke Nüsse,
doch schinde niemals Pegasüsse!« –

Von nun an trennten sich die beiden Freunde. Arno Holz veröffentlichte im selben Jahre noch sein Schriftchen »Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze« (Berlin 1891), das er »seinem lieben Freunde« Joh. Schlaf widmete. Er erzählt darin ausführlich von seinem neuen Kunstprinzip und wie er dazu gekommen. Ich habe seinen Gedankengang schon ausführlich im vorigen Kapitel besprochen. Ein zweiter Band, der zwei Jahre später folgte (Berlin 1893), ist, wie hier schon erwähnt sein soll, nur eine übermäßig ausführliche Beantwortung einer eingehenden Kritik, die Karl Erdmann in der Beilage zur »Allgem. Ztg.« veröffentlicht hatte. So war Holz ganz zum Theoretiker geworden und wußte auch auf diesem Gebiet nichts Neues mehr hervorzubringen.

Nicht so Johannes Schlaf. Dieser stellte sich mit einem selbständigen Skizzenbändchen ein: »In Dings da« (Berlin 1892). Es ist hier das Holzsche Kunstgesetz befolgt. Diese Stimmungsbilder aus einer kleinen Stadt sind stofflich betrachtet absolute Nichtsse, nur auf die Ausführung ist der ganze Wert gelegt; eine weiche träumerische Stimmung, die überall hindurchschimmert, hat sich auch später immer wieder als Schlafs Eigenart gezeigt. Und diese Weichheit kennzeichnet auch trotz aller damit verbundenen Kraßheiten den Helden seines Dramas, das er gleichzeitig erscheinen ließ: »Meister Oelze« (Berlin 1892). Vergebens erinnert der Titel an die große tragische Welt von Kretzers herrlichem »Meister Timpe«. Timpe war ein Riese, und der Zusatz Meister bedeutete, daß er für seinen Beruf kämpfte und starb. Oelze ist natürlich ein Schwächling, und sein Beruf kommt für das Drama gar nicht in Betracht. In einem thüringischen Dorfe lebt er, geplagt von seinen Gewissensbissen. Er hat nämlich im Verein mit seiner Mutter deren Mann umgebracht. Seine Stiefschwester Pauline ahnt dies 230 Verbrechen, und die ganze »Handlung« des dreiaktigen Dramas besteht darin, daß diese Stiefschwester den verbrecherischen Bruder, der obendrein im letzten Stadium der Schwindsucht steht, durch ihre beständigen Anspielungen zu Tode quält. Sich räuspernd, hustend, blutspeiend, äußerlich über Gott und Himmel cynisch redend, sitzt dieser jammervollste Schwächling, den die Mörderzunft je hervorgebracht hat, in seinem Sessel und wehrt mit kühlem Spott die Angriffe seiner Schwester ab. Wie feige er aber in Wahrheit ist, das verrät er besonders durch zwei Eigenschaften: erstens läuft er immer zum Zimmer hinaus, wenn seine Mitschuldige, die alte, längst blödsinnig gewordene Frau Oelze, ihr Bett verläßt; zweitens verlangt er von seinem kleinen Sohn, daß er Pastor werden soll. Also innerlich glaubt dieser Meister Oelze an Gott und Himmel und ist erbärmlich genug, seine eigene Schuld dadurch sühnen zu wollen, daß er seinen Sohn zum Geistlichen bestimmt. Sein Glaube ist also nicht Frömmigkeit, sondern nur ein unbestimmtes Angstgefühl. Und dabei ist Oelze auch noch zu feige dazu, diesen seinen inneren Glauben öffentlich zu bekennen. Und statt nun wenigstens den Sohn, wenn dieser nun einmal Geistlicher werden soll, von vornherein für solchen Beruf zu erziehen, so brüstet er sich vielmehr in Gegenwart des Knaben mit dem cynischsten Atheismus. Ja, er redet dem Jungen geradezu ein, er solle nur darum Theologie studieren, weil die Pastoren das meiste Geld verdienen. Er erzieht den Knaben geradezu zum Heuchler, und das scheint ihm schon trefflich gelungen zu sein; denn auf der Bühne zeigt jener sich als ein rüdiger Bengel, der nur seine Freude daran hat, Tiere und Menschen zu quälen; aus der Schule aber bringt er die besten Zeugnisse über Religion und über Betragen mit. Und beim Anhören eines solchen Zeugnisses stirbt der Vater zum Schluß mit den Worten: »So . . . Soo . . . Pas – ter . . .« – Es ist kaum zu sagen, mit welchem Maß von Verachtung man von dieser Jammergestalt Abschied nimmt. – Der soziale Zug fehlt ganz in diesem Schauspiel, und mehr und mehr fing man auch schon an, das eigentlich soziale Element mit dem rein erotischen zu verwechseln, wie es sich auch im mißlungenen Verführungsschauspiel »Helga« zeigte, mit dem Hans Hopfen vergeblich auf dem Kampfplatz der sozialen Dramatik erschien. Ja – vergeblich! Das war das immer wiederkehrende Ergebnis aller dieser unablässigen Versuche von alt und jung. Zu einem wirklichen Drama erwies sich die »soziale Frage« immer wieder als zu spröde, auch da, wo man sie in ihren dramatischsten Punkten erfaßte. So brachte der Berliner Rechtsanwalt Richard Grelling (geb. am 11. Juni 1853) in seinem Schauspiel »Gleiches Recht« (1892) eine ganze stürmische Arbeiterversammlung auf die Bühne. Sie wirkte natürlich dramatisch, aber es war ihrem Verfasser, einem eifrigen Schüler des Naturalismus, nicht gelungen, diese Versammlung organisch in ein wirkliches Drama hineinzupassen. – Vorübergehend wenigstens einen Theatererfolg erzielte dagegen der Schauspieler Vischer mit seiner »Schlimmen Saat«. Daß eine Frau aus dem einfachen Volke mit ihren Kindern zu hoch hinaus will, ist hier die Veranlassung für eine theatralisch sehr geschickt aufgebaute Handlung, in die sich völlig zwanglos Schlagworte der sozialistischen Weltanschauung einfügen wie: einen Charakter könne sich heut nur ein Reicher leisten. Nur schade, daß es 231 der straff geschlossenen Handlung an Charakteren fehlt, die durch ihr eigenes Sein das Interesse der Zuschauer dauernd fesseln könnten. – Die ganz entgegengesetzten Fehler und Vorzüge kennzeichnen das Stück, mit dem das junge Haupt der realistischen Schule nun hervortrat.

Hauptmann hatte nämlich mittlerweile sein neuestes soziales Drama beendet. Es erschien in echt schlesischem Dialekt unter dem Titel »De Waber«, und fast gleichzeitig in einer hochdeutsch gefärbten Fassung als »Die Weber«.

In losen Bildern zeigt das Stück das Leid der Darbenden, gewissermaßen immer wieder dieselbe Situation wiederholend und steigernd. Das erste Bild führt uns in diese Situation ein. Am lebendigsten und deutlichsten entfaltet sie sich an dem Tage, da die Weber ihre mühsam gefertigte Arbeit zum Verkaufe tragen. Ein großes, kahles, graugetünchtes Zimmer bildet den geschäftsmäßig melancholischen Hintergrund. In langen Scharen ziehen Weber – Frauen und Kinder – herein, legen ihr Gewebe auf die lange Bank und warten, bis sie an den Tisch herantreten können, hinter dem der herzlose Pfeifer, selbst ein Weber, jetzt Gehilfe des Fabrikanten Dreißiger, ihre Ware prüft und den denkbar niedrigsten Lohn bestimmt. Von den »dreizehntehalb« Groschen, die ein »Webe« eigentlich kosten soll, zieht er fast stets noch etwas ab für Fehler in der Arbeit oder Mängel am Gewicht. Die große Wage regiert der Lehrjunge, der hier und da schnodderige Bemerkungen mit dem Kassierer Neumann austauscht, während letzterer das Geld mürrisch und geschäftsmäßig den Webern aufzählt. Die lächerlich kleinen Preise, die immer wieder genannt werden, schweben wie das furchtbare Schicksal über den Hungernden. Furchtbarer aber ist die Erbarmungslosigkeit Pfeifers. Da bittet eine Weberfrau erbärmlich und demütig um ein paar Groschen Vorschuß für Brot. Pfeifer hört nicht danach hin. Da fleht der Weber Heiber um Stundung des ihm am vorigen Zahlungstage bewilligten Vorschusses. Er wird nicht erhört. Geschäftsmäßig geht die Sache ihren Gang weiter. Charakterköpfe heben sich aus der Masse der Wartenden heraus. Der alte Baumert trägt in einem Tuch einen geschlachteten Hund bei sich. Er ist ihm vor Wochen zugelaufen, jetzt soll er den so lange schon leeren Kochtopf füllen. In dem energischen jungen Weber Bäcker aber tritt uns die erste Gestalt voll Willenskraft entgegen. Er spottet so laut und keck über die Hungerlöhne, daß der Chef des Geschäfts, Herr Dreißiger, selber hereintritt, um ihn abzufertigen. Die Arbeit wird ihm entzogen, aber er hebt den Kopf noch mehr und setzt es durch, daß der ihm hingeworfene Lohn ihm ordnungsmäßig in die Hand gezahlt wird. Ein vor Hunger ohnmächtig zusammenbrechender Knabe wird von Dreißiger in sein Privatkontor entfernt, damit er nicht noch mehr böses Blut errege, und eine heuchlerische Rede des Chefs, in der er sich noch gar selber das Zeugnis eines humanen Mannes ausstellt, und es von den zitternden Hungersklaven der Fronarbeit bestätigt erhält, macht den Schluß des ersten Aktes. Der Herr will noch zweihundert Weber anstellen, aber sie sollen für ein »Webe« nur noch eine Mark erhalten. Unter dem Murren der Aermsten schließt das erste Bild. Das zweite zeigt uns das Heim des alten Baumert. Die Mutter des vor Hunger 232 zusammengebrochenen Knaben ist zum Besuch. Die Töchter Baumerts liegen dem Weben ob, die Mutter und ihr idiotischer Sohn arbeiten an Spulrädern. Aus ihren Reden entwickelt sich ihre gräßliche Notlage. Auch der Besitzer des Häuschens, dem sie den Mietzins schuldig sind, der alte kräftige Ansorge, hat kaum zu leben, da das Häuschen einzustürzen droht. Da bringt der junge »Jäger«, ein eben vom Militär frei gekommener frischer Junge, Leben in das Haus. Als Offiziersbursche hat er sich feine Manieren und »feines Sprechen« – allerdings sehr mangelhaft – angewöhnt. Er, der Taugenichts daheim, hat beim Militär seinen Dienst vortrefflich gethan. Mit neuem Anzug, silberner Uhr und dem schwindelnd hohen Vermögen von zehn Thalern kommt er daheim an. Er hat die Welt gesehen und höhnt über die gräßlichen Zustände, die er daheim vorfindet. Auch das Lied vom »Blutgericht« hat er mitgebracht. Dies Lied, von dem schon im ersten Akt die Rede war, liest er zum ersten Male bei Baumert vor. In der Nähe hat er's schon gesungen, das Lied vom Blutgericht, das Lied, das die Leute vom Schlage der Dreißiger als Blutrichter und Leiter von Folterkammern bezeichnet. So schülerhaft er das Lied vorträgt, es ergreift Ansorge und den alten Baumert mächtig, den armen Mann, der eben den Hundebraten wieder von sich geben mußte, weil sein geschwächter Magen kein Fleisch mehr vertragen kann. Lauter hallt das Lied durch alle Herzen im dritten Akt im Wirtshaus – Kretscham genannt – zu Peterswaldau, dem Wohnorte Dreißigers. Anfangs geht es da zwar friedlich zu. Ein Geschäftsreisender, der mit dem Wirtstöchterlein seinen Spaß hat, findet die Zeitungsberichte über das Elend der Weber übertrieben. Ein Tischlermeister belehrt ihn darüber, daß hoch oben im Gebirge, den staatlichen Abgesandten versteckt, die Hütten der Armut liegen – der Zuschauer glaubt dies gern, denn er kennt ja das Heim des alten Baumert. Aber der Reisende glaubt es nicht. Der unsinnige Aufwand bei einem Weberbegräbnis, das gerade stattfindet, und das nach altem Herkommen prächtig gefeiert werden muß, scheint seiner Ansicht recht zu geben. Da treten Weber herein: Bäcker und Jäger, die beiden unruhigen Geister, sind darunter. Es kommt zu gefährlichen Reden, die den Ruhigen Grauen erregen. Man merkt, daß eine ungewöhnlich große Weberansammlung stattfindet draußen im Ort. Bald heißt es, man wolle sich impfen lassen, bald, es sei Zahltag bei Dreißiger. Aber das revolutionäre Gepräge der Versammlung verrät sich bald. Eine Rempelei mit dem feigen Gensdarm Kutsche, der schimpfend entweicht, zeigt das erste Stadium des Aufstandes. Dann ertönt laut das Lied vom Blutgericht, jetzt das »Weberlied« genannt, und sogar der alte Baumert taumelt mit hinaus in den beginnenden Aufstand. Der vierte Akt zeigt uns, daß man im Hause Dreißigers den Ernst der Sache noch nicht begriffen hat. Der Blutsauger will gerade mit dem Pastor des Ortes, der feige und verlogen die Religion in den Dienst des Fronherrn stellt, seine Partie Whist spielen; gegen die singenden Haufen da draußen hat man den Büttel gerufen. Ein junger Kandidat, Hauslehrer bei Dreißiger, wagt, ein Wort der Entschuldigung für die Hungernden im Namen des echten Christentums einzulegen – ein Verweis vom Geistlichen und die Entlassung aus seiner Stellung durch Dreißiger ist das einzige Ergebnis. 233 Aber die Partie Whist kommt auch nicht zu stande. Jäger wird gefangen eingebracht. Er ist stolz und frech in seinem Wesen. Er spottet der Fesseln, die man ihm anlegt, denn er weiß ja, daß er draußen befreit werden wird. Und so geschieht's. Panik verbreitet sich auf diese Nachricht hin im Hause. Alles denkt nur noch an Flucht. Frau Dreißiger klammert sich in ihrer rasenden Angst an den Kutscher, der sie zum Wagen führt. Die mutigen Rappen fürchten sich vor niemandem. Die Flucht gelingt, alles rettet sich, aber die Weber, nun im Rausch der Revolution in eine Räuberbande umgewandelt, dringen in Dreißigers Haus ein und schlagen alles kurz und klein. Im letzten Akt ist der Ruf ihrer Thaten schon nach Langenbielau gedrungen. Dort steht unter anderen das stille Haus des friedlichen, gottergebenen Webers Hilse. Er hat sein Morgengebet gerade beendet, in dem er alltäglich Gott bittet, ihn Demut zu lehren, damit er des Lebens Not als Läuterungsmittel der Seele erkenne. Seine Frau und sein jungverheirateter Sohn Gottlieb haben diesen sanften Glauben von ihm erlernt. Die Schwiegertochter Luise nur ist anderer Meinung. Ein silberner Löffel aus Dreißigers Besitz, den Hilses kleine Enkelin gefunden hat, ist das erste Zeugnis für das, was in Peterswaldau geschehen ist. Schleunigst läßt ihn Hilse durch seinen Sohn auf das Amt tragen: er verschmäht gestohlenes Gut. Da erscheint ein Arzt, der von dem Ausstand erzählt. Genauere Kunde bringt der originelle Lumpensammler Hornig, der schon im Gasthof im dritten Akt zugegen war – horchend und schürend, aber nicht handelnd eingegriffen hat. Er meldet, daß die wildgewordenen Weber ihm auf dem Fuße folgen. Und sie kommen daher, in bacchantischem Zuge, sie verlangen, daß Hilse und die Seinen sich ihnen anschließen, aber Hilse widersteht. Selbst wie sein Sohn endlich von dem allgemeinen Feuer angesteckt ist, bleibt er daheim, nicht aus Furcht – ist er doch ein alter Invalide aus dem Kriege – sondern aus Ueberzeugung. Er will rechtlich bleiben bis zum Schluß. Da rückt draußen das Militär an, von den Webern mit Steinwürfen begrüßt. Alles flieht, nur Hilse bleibt im Bewußtsein seiner Rechtlichkeit am Fenster vor dem Webstuhl sitzen, wo Gott ihn nach seiner Meinung hingesetzt hat. Da schlägt von außen eine Kugel zum Fenster herein und tötet ihn. Der einzig Unschuldige ist der Einzige, den wir auf der Bühne sterben sehen. Mit diesem schrillen Mißton endet das Stück. –

In allen Revolutionsdramen unserer großen Dichtungsepoche handelt es sich um die Empörung gebildeter Bürgerkreise mit gebildeten Ideen und gebildeter Sprache. Alle Tiraden des Pathos und der Leidenschaft passen in ihren Mund, denn die Revolution weckt die rednerischen Talente, und ein aufmerksamer Beobachter aller politischen Versammlungen lernt schnell, daß das Pathos den meisten Politikern der Rede zur zweiten Natur wird. Hier also ist es leicht, Dramen zu schaffen. Aber die revoltierenden Arbeiter! Die Revolten aus Hunger! Die Empörungen der Verschmachtenden, der Blassen, Elenden und Abgezehrten – sie vertragen keine leuchtenden Farben. Und so kam es, daß der Führer der Arbeiter den sozialistischen jungen Brauseköpfen der achtziger Jahre meist gelang, aber die Arbeiter selbst waren entweder die Stummen, oder ihre dramatische Sprache 234 entbehrte der Wahrheit; es waren Salonarbeiter, unwahr, wie die gezierten Schäfer des ausgehenden Mittelalters. Schon Gustav Freytag meint in seiner Technik des Dramas, ein gewisser Bildungsgrad sei nötig für die Helden der Tragödie. Und dann noch eins. Es macht wenig Eindruck, wenn jemand sein eigenes Leid klagt, man muß ihn leiden sehen. Die Wirkung der Tyrannei, wie sie Schillers »Tell« so großartig malt, und wie sie aus Goethes »Egmont« so ergreifend herausklingt, ist greifbar, sie ist gegenständlich – aber das stille Leid des Hungers, dem keine Worte verliehen sind, schien nur dem Epiker sich zur Behandlung zu eignen. Denn auf der Bühne muß man sprechen, und dem Menschen, der über seinen Hunger spricht, glaubt man selten. Diese beiden Schwierigkeiten hat Hauptmann überwunden. Seine Arbeiter sind echt. Man würde ihre blassen Augen und abgezehrten Körper sehen, auch wenn man die szenischen Bemerkungen überschlagen würde beim Lesen. Ihre Wohnhöhlen strömen die Atmosphäre der Armut aus, und das Motiv mit dem Hundefleisch ist von erschütternder Wirkung. Glänzend ist es gelungen, in dem Einleitungsakt die Stimmung des allgemeinen Hungers über das ganze Theater zu verbreiten, und vortrefflich ist die dramatische Steigerung, die darin liegt, daß von dem Weberlied erst nur gesprochen wird, daß es dann recitiert, dann gesungen, von immer größeren Massen gesungen wird und endlich zum Sturmlied anschwillt. Aber, während so die eine Hauptsache vortrefflich gelungen ist, ging das andere Element leider ganz verloren. Echt ist der Hunger und echt die Revolte, aber es fehlt ganz die Figur, die bis dahin an Stelle der Hungernden stand, der Verkünder der Idee. Es fehlt ganz der begeisterte Führer. Jäger und Bäcker sind auch nur Instinktnaturen. Sie leiten die Empörung, weil sie zur Verzweiflung getrieben sind – das »wohin«? vermögen sie ebensowenig zu ahnen, wie die anderen, die in die Bewegung hineintaumeln. Warum fehlt die Figur des Gebildeten, der eine rosige Zukunft träumt, und den mit den aufständischen Haufen die Menschenliebe verbindet? Warum fehlt der Feuerkopf der Idee? Vielleicht weil der Weberaufstand der vierziger Jahre keinen kannte? Das wäre doch kein Grund, denn das Stück macht doch nicht den Eindruck eines historischen Dramas. Die Bemerkung »Schauspiel aus den vierziger Jahren« wirkt auf den Leser doch nur wie der Zusatz, den Schiller auf Dalbergs Wunsch seinen modern gedachten Räubern hinzufügte, wodurch das Stück in die Zeit des Landfriedens zurück verlegt wurde. – Oder sind die idealen Feuerköpfe etwa nicht wirklich? Ja, Hauptmann selber weiß ja, daß es diese Typen giebt. Mit wenigen Strichen hat er ja den Kandidaten angedeutet, der als junger Theologe sich verpflichtet fühlt, für die Hungernden Partei zu nehmen. Warum wurde aus ihm keine ausgeführte Figur? Diese Frage ist nicht müßig. Denn dadurch, daß das Drama ganz am Gegenständlichen stehen bleibt, geht ihm ein Hauptreiz verloren. Es ist kein Charakter darin, der sich entwickelt! Wie echte Bildhauerarbeit stehen auch hier wieder die Menschen in ihrer Zuständlichkeit da. Und zweitens, das Drama verliert dadurch an dauerndem Interesse. Das Thema des Stückes lautet nur: »Dreißiger muß bessere Löhne zahlen!« Aber es ergiebt sich daraus keine Weltanschauung. Dreißiger soll es nur thun, weil ihm sonst 235 eines Tages das Haus über dem Kopf angesteckt werden könnte. Den Fabrikanten droht die Revolution, wenn sie nicht anständig werden, aber an die Herzen der Menschen appelliert niemand. Gewiß, der schweigende Appell für ehrliche Herzen liegt schon in dem Anblick des Elends. Aber das Elend existiert seit dem Bestande der Kulturstaaten, – es abzuschaffen, dazu mahnt nur die humane Weltanschauung, heiße sie Christentum oder heiße sie Nächstenliebe –: Hauptmanns »Weber« enden hoffnungslos. Daß das Gewehr gegen die Schleudersteine siegen muß, ist selbstverständlich; daß der unschuldige alte Hilse das erste Opfer wird, soll beweisen, daß es keine Gerechtigkeit in der Weltleitung giebt. Die letzte Hoffnung läge in der Feuerseele einer Jugend, die sich für Ideale der Menschheit begeistert. Sie ist vorhanden in der heutigen Welt, aber in Hauptmanns Stück fehlt sie. Der Dichter der »Weber« selbst gehört ihr an, aber er ignoriert sie in seinem Werke.

Dennoch bildet dies Hauptmannsche Stück den Höhepunkt des damaligen Kampfes. Ist es auch keineswegs ein soziales Drama im höchsten Sinne, ist es auch nur ein Tendenzstück, das historisches Verständnis voraussetzt und der Zukunft nur im Zolaschen Sinne als ein Document humain gelten wird – für die damalige Zeit war es von ungeheuerer Wirkung. Denn seine Tendenz entsprach keiner einseitigen Partei, und gerade damals hatte ungeachtet der beginnenden Nietzsche-Verehrung die Stimmung des sozialen Mitgefühls in allen Kreisen den Höhepunkt erreicht.

 


 


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