Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Drittes Kapitel.

Das Wiedererwachen der Wirklichkeits-Erzählung.

Gewiß waren diese jungen neuen Propheten in der Litteratur nicht die Einzigen, die im Gegensatz zur geschichtlichen Dichtung die Darstellung auch der Gegenwart wieder forderten. Neben den Aelteren, wie Spielhagen und Paul Heyse, waren längst Andere auf den Platz getreten, die auch in den siebziger Jahren die Wirklichkeit mit lebensvollen Farben schilderten. Will man nur einige Beispiele herausgreifen, so muß man hier an erster Stelle Karl Emil Franzos nennen, der mit seinen Kulturbildern aus Galizien: »Halb Asien« eine ganz neue 38 ethnographische Welt der Darstellung erschlossen und bald darauf in prächtig anschaulichen Romanen dichterisch verwertet hatte. Gerade im Jahre 1880 hatte er den ersten Höhepunkt seines Könnens erreicht mit seinem Meisterwerke »Moschko von Parma«, das mit episch behäbiger Vortragsweise eine wunderbare Kraft der Gestaltung und wirkliche Gedankentiefe vereinigt. Aber freilich lag die ganze Welt der Franzosschen Dichtung in der fernen Donau-Ebene und nicht in der modernen Großstadt.

Von Oesterreich her kamen auch die Erzählungen zweier namhafter Dichterinnen. Als die größte Romanschriftstellerin deutscher Zunge galt damals schon Marie von Ebner-Eschenbach (geb. zu Zdislavic in Mähren am 13. Septbr. 1830). Ihre »Dorf und Schloßgeschichten« (1884) hatten die scharfe Beobachtung und die kraftvolle und gemütstiefe Darstellungsgabe dieser Erzählerin gezeigt. Sie wesentlich hatte dazu beigetragen, nach den Tagen der liebenswürdig oberflächlichen Marlitt und ihrer Schülerinnen Werner, Heimburg u. s. w. wieder einmal den litterarischen Wert des Frauenromans zu beweisen, an dem man am Anfang und in der Mitte des Jahrhunderts nicht gezweifelt hatte. Eine moderne Oesterreicherin trat jugendkräftig der älteren Landsmännin bald zur Seite in der Person von Emilie Mataja (geb. zu Wien am 20. November 1855), deren Erzählung »Der geistliche Tod« (1884) eine der erschütterndsten Prosadichtungen der Gegenwart ist: das Leiden und Sterben eines liebenden Priesters ist in Prosa nie gewaltiger geschildert worden. Sie nannte sich Emil Marriot.

Zehn Jahre älter als sie stand Sophie Junghans unter den 39 Wirklichkeitsschriftstellerinnen ihr zur Seite (geb. zu Cassel am 3. Dezember 1845), die namentlich mit ihrer »Erbin wider Willen« (1881) sich als seine Seelenkennerin offenbart hatte.

Aber die Zeit verlangte mehr und mehr nach Romanen aus der Reichshauptstadt, und so war denn von Fritz Mauthner »Der neue Ahasver« erschienen – seit Paul Heyses »Kindern der Welt« der erste Berliner Roman wieder mit echten Wirklichkeitsfarben.

Und die Berliner Erzählung wurde nun der begehrte Tummelplatz für die Dichter der neuen Generation. Ernst von Wildenbruch ließ seine außerordentlich lebensvollen Novellen in jenen Jahren langsam erscheinen. Und wenn auch deren Meisterstück, »Die Kinderthränen«, in Frankfurt a./Oder spielte, so bot doch auch eine trefflich geschilderte Erzählung ein Sittenbild aus Berlin: »Die heilige Frau«; die Geschichte des armen Ladenmädchens, das seinem vornehmen Liebhaber vertraut und ihm Glück, Ehre und Leben opfert, ist hier trotz aller poetischen Auffassung als ein typischer Vorfall mit echter Wahrheit mitten in das Berliner Treiben hineingerückt.

Jedoch merkte man noch bei den meisten großen Talenten, daß sie von auswärts ihren Weg nach Berlin hereingefunden hatten. Zur schnellsten Berühmtheit gelangte damals Hermann Heiberg aus Schleswig (geb. am 17. Novbr. 1840). Als er mit seinem »Apotheker Heinrich« im Jahre 1885 den Gipfel seines Könnens erstieg, ließ er das tragische Schicksal der Frau, die dem Egoismus des kaltherzigen Mannes erliegt, noch in einem kleinen, fernen Orte spielen, und in dem Augenblicke, wo er mit »Esther's Ehe« (1886) sich energisch dem Berliner Roman zuwendete, begann auch seine Begabung und sein Erfolg schnell abzunehmen.

Auch als Konrad Telmann (eigentlich Zittelmann) in seinem großen Erstling »Götter und Götzen« ein reiches und volles Bild von Streben und Strebertum, von Standesvorurteilen und Geldknechtschaft, aber auch von Künstlerschwung und echtem Idealismus entrollte, ließ er zwar die mannigfach verschlungenen Fäden der vielen Familienschicksale von einem Hause in der Großstadt ausgehen, aber es war die Großstadt vor dem siebziger Kriege! Der Krieg und seine Folgen kamen in dem Romane vor, aber das eigentliche Großstadtproblem lag ihm nicht zu Grunde.

Aber als der Roman »Die Betrogenen« den Namen Max Kretzers bekannt machte (1882), fühlte man, daß hier wirklich ein Berliner Volksschriftsteller 40 entstanden sei, der in die Tiefen der Weltstadt aus eigener Erfahrung hineingeschaut hatte, der die furchtbaren Räder der Riesenstadtmaschine beobachtet hatte als ein emporringender Geist. Charles Dickens ist aus ähnlichen Gründen ein Klassiker der Großstadtpoesie geworden. Er mochte stark eingewirkt haben auf Kretzer, der zu ihm ein sehr ernstes, melancholisches Gegenstück bilden würde. Nach einem langen Kampf ums Dasein in der Weltstadt stand Kretzer damals in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahre. Der geborene Posener (geb. 7. Mai 1857) hatte sich dabei schnell in die Berliner Verhältnisse eingelebt, und wie er sich mühsam Schritt für Schritt seine Bildung erwarb, erfaßte ihn immer stärker der Drang zum Schreiben. »Die beiden Genossen« hieß der erste Roman, der von ihm bekannt wurde (1881). Der Verfasser steht darin der Sozialdemokratie in voller Gegnerschaft gegenüber. Er schildert, wie in einer kleinen Stadt ein aus Berlin ausgewiesener Agitator erscheint und alle Welt für den Kommunismus begeistert. Doch wird er schließlich entlarvt und widerlegt. Im selben Jahre erschien als Buch »Sonderbare Schwärmer«, ein Werk, das zwei Jahre zuvor in der Bürgerzeitung unter dem Namen »Bürger ihrer Zeit« gebracht worden war. Dieser Roman spielte schon in Berlin, aber auf Wunsch seines Verlegers hatte Kretzer die Namen der Straßen und Plätze leicht verschleiern müssen. Zu vollster Kraft aber schwang sich Kretzer erst in seinem Roman »Die Verkommenen« empor (1883).

In der That ein Gemälde von geradezu furchtbarer Großartigkeit! Im Laden eines Pfandgeschäfts treten uns die Figuren zuerst entgegen, und von hier aus wächst die Handlung mit unerbittlicher Gewalt durch die finsteren Arbeiterviertel von Berlin hindurch und bringt dem Herzen Gestalten nahe, an denen man sonst auf der Straße achtlos oder gar mit Widerwillen vorübergehen würde. Lange hatte kein Romanschriftsteller in Berlin die Fähigkeit besessen, alltägliche Vorgänge so erschütternd aufzufassen und so dramatisch auszumalen. Die Abführung eines Arbeiters vom Hofe einer riesigen Mietskaserne gestaltet sich zu einem Vorgang, der an die Bändigung eines königlichen Raubtieres erinnert. Und dieses Mietshaus selbst mit seinen unendlichen Fensterreihen und seinen Massenwohnungen dahinter – wie steht es uns leibhaftig vor Augen! Wie schauen wir 41 durch alle Fenster hinein, wie fühlen wir uns auf den Treppen und. Korridoren heimisch, wie prägt sich jeder Winkel unserm Gedächtnis, nein, unserm Auge ein! Wir lernen Familien kennen, die dort hausen, wir sehen junge Genies vergeblich nach Erlösung ringen, wir sehen die Unmöglichkeit dieser Eltern, ihre Kleinen daheim zu beaufsichtigen, wir erleben das Unglück mit, das den Unbewachten widerfährt, und wir sehen, wie – verständnislos nach dem Buchstaben des Gesetzes – die jammernde Mutter noch wegen Fahrlässigkeit zur Strafe gezogen wird.

Mit einem Wort: Vor Geist und Sinnen entrollt sich uns ein verzweifelter Kampf guter und schlechter Menschen mit den unerbittlichen Mächten der Not und des Elends, und mit gellendem Aufschrei versinkt vor uns alles endlich in einen tiefen Abgrund. Wohl mag das Bild übertrieben sein; wohl darf man von einem Kunstwerk eine versöhnlichere Wirkung verlangen, – aber das Buch giebt sich ja nicht wie ein reines Kunstwerk, sondern als ein Werk, das Mitleid und Menschenliebe diktiert haben und das – schon nach der Vorrede zu urteilen – weniger einen dichterischen, als einen sittlichen Zweck verfolgt. Die wohlthuende Wärme dieser Auffassung aber unterscheidet es wesentlich von Zolas Schöpfungen. Denn diesem sind die Menschen nur Versuchstiere für seine »Experimentalromane« – bei Kretzer aber spricht deutlich das Herz mit.

Der Roman erschien als Feuilleton in dem damals gegründeten »Deutschen Tageblatt«, das im Gegensatz zum Berliner Tageblatt entstanden war und christlich-soziale Interessen vertreten sollte. Verschiedene Dichter gruppierten sich um dasselbe: Hans Herrig, der Lyriker und Dramatiker, dem freilich die Kraft für ein wirkliches Drama abging, der aber in seinen satirischen Epen »Die Schweine« und »Der dicke König« viel Geist zeigte, leitete das Feuilleton. Zu seinen Mitarbeitern gehörte bald ein neuer Litteraturstürmer: Bleibtreu (geb. 31. Jan. 1859).

Karl Bleibtreu war in die Litteratur auf anderem Wege eingetreten. Als Sohn des bekannten Schlachtenmalers Georg Bleibtreu war er in künstlerischer Luft aufgewachsen. Zwei Dinge waren ihm, wo nicht in die Wiege, so doch auf den Pfad seiner Erziehung gelegt: Warme Vaterlandsliebe und ein früh eröffneter Sinn für die Gedankenwelt des Krieges. Der Ruhm der neuesten deutschen 42 Waffenthaten, die in den Werken seines Erzeugers neues Leben gewonnen hatten, umklang auch des Sohnes jugendliche werdende Phantasie, und seinem hellen Verstande erschloß sich gleich der Werdegang der Geschichte des deutschen Geistes. Eine echte Dichtermutter gab seinem Bildungsgange früh künstlerische Ziele. Alle Dichter der Weltlitteratur öffneten dem Knaben ihre Schätze. Und so hielten in seinem jungen Geiste die Großen der Welt Wache: Caesar und Hannibal, Friedrich und Napoleon, Goethe und Schiller, Shakespeare und Lord Byron. Noch besuchte er die Schule, als es ihn schon drängte, jenen nachzustreben, und der erste Sang, den der zwanzigjährige Jüngling der Welt darbot, spielte in germanischer Vorzeit, im dichterisch geweihten Norden. Einen Wikinger wählte Bleibtreu zu seinem ersten Helden, aber einen solchen, der zugleich ein Dichter war. So entstand seine Neudichtung der alten Sage von Gunnlaug Schlangenzunge (Gunlaug Ormstunga). Im nächsten Jahre schon erschien ein zweites Werk des jungen Poeten, das wieder einen Dichter zum Helden hat: »Der Traum aus dem Leben des Dichterlords«. Alle Bestandteile des Titels weisen deutlich genug auf den Helden hin: Lord Byron. Völlig anders ist hier die Handlung und ihre Führung. Mitten in die moderne Welt versetzt uns das Leiden des ersten und größten Verkünders des Weltschmerzes. Von Zitaten wimmelnd, ringt die Arbeit nach psychologischer Vertiefung und neuzeitlicher Färbung und Empfindung. In einzelnen Bildern zieht das Leben Byrons von seiner Kinderzeit bis zu dem Schiff, das seinen Sarg mit sich führt, an uns vorüber. »Eines echten Dichters Entwickelung im Kampfe mit der Welt bis zur völligen Welt- und Selbstüberwindung durch den Schmerz« – das bezeichnete Bleibtreu selbst später als das Ziel, das ihm bei diesem Mitteldinge zwischen Roman und Biographie vorgeschwebt hat. – Blieben diese beiden Erstlinge ziemlich unbeachtet in der weiteren Oeffentlichkeit, so schlug das dritte kraftvoll durch: »Dies irae, Erinnerungen eines französischen Offiziers«. Was den äußeren Erfolg brachte, war die wohlgelungene Einkleidung des kleinen Werkchens, das wirklich in Frankreich selbst für eine mahnende und warnende Schrift eines ungenannt gebliebenen Franzosen gehalten wurde. Was ihm aber den inneren Wert gab, das war die völlige Eigenart dieser Dichtung. Hier hatte der junge Ringer mit einem Schlage seinen Weg gefunden.

Man kann wirklich sagen, daß hier eine neue Gattung erstanden war, von der die deutsche Litteratur noch nichts Aehnliches besessen hatte. Wie voll auch Bleibtreu bald darauf den Mund zu nehmen pflegte, wenn es ihm galt, seine eigenen Schöpfungen anzupreisen – darin hatte er recht, wenn er das sonderbare kleine Buch später bezeichnete »als den ersten Versuch, ein historisches Prosaepos zu formen«. Das ist es, und es ist mehr als ein Versuch. Mit scharf eindringender militärischer Sachkenntnis ist der Plan der Schlacht von Sedan hier erfaßt, und mit der Kraft eines ganzen und ursprünglichen Dichters ist er geschildert. Mitten in der kampfumtosten Stadt stehen wir, und die unerbittlich andrängenden blauen Scharen der deutschen Soldaten fluten vor unserm Blick wie in glänzenden Farben gemalt. Die prächtig gezeichneten Charaktere heben sich heraus: der dritte Napoleon, der »grundsätzlich« sich nicht in den Plan 43 der Schlacht mischt; Mac Mahon, hier Mac Glückspilz genannt, der flotte Reitergeneral Gallifet, der prächtig gezeichnete Optimist Wimpffen, der eigens aus Afrika herbeigeeilt ist, um sich hier für alle Ewigkeit mit Schande zu bedecken. Dieser großartigen Schöpfung ließ Bleibtreu ähnliche folgen in kritikloser Eile, und gleich die erste dieser Nachfolgerinnen raubte dem Verfasser einen Teil seiner Freude an dem kaum errungenen Erfolge. »Wer weiß es« behandelte eine spanische Kriegsepisode; aber der erste militärische Beurteiler wies ihm darin ein Plagiat nach. –

Ein jedenfalls früher schon entstandener eigentümlicher Roman Bleibtreus gelangte erst nach dem dies irae zur Veröffentlichung: »Der Nibelungen Not«. War Gunnlaug Schlangenzunge im Tone nordischer Lieder gehalten, so hatte Bleibtreu sich hier bemüht, den Stil alter Chroniken nachzuschaffen. Aber nicht das Nibelungenlied etwa erzählt er hier – nein, der Grundgedanke versucht es, den Verfasser dieser größten aller epischen Dichtungen germanischer Zunge in seinem Leben zu schildern. Vielleicht mag Scheffels so wohl gelungener Versuch mit dem Dichter des Waltariliedes hierbei mitgewirkt haben. Bleibtreu erfindet sich einen bürgerlichen Dichter, Konrad von Bechelaren, der als Geheimschreiber im Dienste des Bischofs von Aquileja zufällig Einblick in eine lateinische Fassung der Siegfriedsage erhält, und den die Erinnerung an deren gewaltige Gestalten auf allen seinen Zügen begleitet. Die Vasallenpflicht bindet den Bischof an den Herzog von Oesterreich; mit diesem geht er auch in den Kreuzzug und faßt unterwegs einen grimmigen Haß gegen Richard Löwenherz von England. Später 44 veranlaßt er dessen Gefangennahme in deutschen Landen, und das bringt ihn in Verbindung mit dem Hofe des Hohenstaufen-Kaisers Heinrich VI, und endlich wird der vielgereiste Konrad Geheimschreiber bei der Kaiserin Konstanze. Er durchlebt die Feindschaft der beiden Gatten und wird mittelbar in das Verbrechen des Gattenmordes verwickelt, mit dem Bleibtreus Dichterphantasie das Gewissen der schönen Kaiserin belastet. Dadurch wird aber auch das Gewissen Meister Konrads beschwert, und der sucht und findet befreienden Trost in der Dichtung. Er hat nun alle Stimmungen der Siegfriedsage mit durchlebt, und ähnliche Gestalten wie dort sind auch durch sein Leben gegangen. Der jäh und früh verstorbene Kaiser Heinrich verklärt sich ihm zum Siegfried. Die finstern Leidenschaften der Kaiserin leihen tiefergreifende Züge her für die Gestalten der Brunhild wie der Kriemhild. Die Erinnerung an den großen Barbarossa verdichtet sich ihm zum edlen Ritter Dietrich von Bern, und der kraftgewaltige übermütige Richard Löwenherz – sowie sein halber Namensvetter Heinrich der Löwe – verschmelzen in der Gestalt des grimmen Tronjers Hagen, zu der freilich Meister Konrad auch aus der eigenen Seele manches hinzuthut: wie er denn auch in der Figur des Markgrafen Rüdiger eine Art von Selbstbildnis schafft. Zum Spielmann Volker hat ihm Walter von der Vogelweide Modell gesessen; und ähnlich ergeht es mit den andern Figuren. Eine wissenschaftliche Entdeckung glaubte Bleibtreu gewiß damit nicht gemacht zu haben, aber ganz geistreich ist immerhin der Gedanke: in der Seele des Nibelungendichters Erlebnisse zu vermuten, wie sie das Lied selbst schildert – und aus diesem Grunde wurde später Bleibtreu ein eifriger Verteidiger der Wöber'schen Aufstellung, wonach Heinrich von Traunstein aus ähnlichen Gründen für den Dichter des gewaltigen Liedes erklärt wirdDie Reichersberger Fehde und das Nibelungenlied, Meran 1885 bei Plant; vgl. auch K. Bleibtreu: Die Entdeckung des wahren Nibelungendichters in Berl. Monatsh. f. Litteratur 1885, herausgegeben von Heinrich Hart, S. 537–558..

Zweifellos ist diese Dichtung älter als »dies irae«, wenn sie auch später erschien, aber sie zeugt dafür, daß Bleibtreus Streben in jüngeren Jahren ein zielbewußtes einheitliches gewesen ist. Ueberall zog ihn das Große an. Auch seine »Norwegischen Novellen« verraten Vorliebe für die derbe, knorrig volkstümliche Gestaltung. Noch fehlte völlig der bestimmende Einfluß des modernen Naturalismus.

Das Jahr 1884 aber bezeichnet einen deutlichen Einschnitt in Bleibtreus Entwickelung. Schon der Titel seines ersten Werkes aus diesen Jahren verrät sofort, wie er nun auf neuen Bahnen wandelt. »Schlechte Gesellschaft« heißt die Sammlung naturalistischer Novellen. Zwiefach ist dieser Titel zu verstehen: In der ersten Geschichte wird eine »feine Familie« vorgeführt, wo der Schwiegersohn die Schwiegermutter liebt und dadurch sein Weib vernichtet. In den beiden anderen spielt die Lieblingsfigur der Jüngstdeutschen von damals ihre Rolle: die Berliner Kellnerin! Einmal ist es ein Student, einmal ein berühmter Musiker, der hier – nicht etwa unglücklich macht – nein – unglücklich wird! Ja, das ist die eigentümliche Fassung, die gleich wieder eine Eigenart Bleibtreus zeigt: Hatte 45 Wildenbruch in seiner »heiligen Frau« einen Vorgang dichterisch verklärt, der sich in Berlin nur allzuoft abspielt, so trat Bleibtreu gerade dagegen mit ganzer Schärfe auf. Bei ihm ist in diesem Falle das weibliche Geschlecht das stärkere und zwar gerade am stärksten da, wo es am rechtlosesten ist. So schreibt also Bleibtreu hier eine Klagedichtung für den schwachen Mann, der, einer hohen geistigen Zukunft bestimmt durch Geist und Gaben, jählings auf alles verzichtet, weil er genarrt wird von einem schlechten Weibe. Der Musiker fällt im Duell mit einem früheren Liebhaber der gefeierten Kellnerin, der Student erschießt sich. So sinken die Männer, und die Dirnen lachen. – Helft den schwachen Riesen vor den zaubergewaltigen Venusdienerinnen! – Diese erbärmlich schwächliche Weltanschauung hatte beim ersten naturalistischen Versuch die einstige geistige Kraft Bleibtreus abgelöst. Dagegen bleibt er kraftvoll auf geschichtlichem Boden.

Er hatte seine Schlachtenschilderungen unbeirrt fortgesetzt. »Napoleon bei Leipzig« und »Deutsche Waffen in Spanien« beweisen es. Und Lord Byron war ihm nun der Held zweier Dramen geworden. Das eine nennt sich »Lord Byrons letzte Liebe«, das andere heißt »Seine Tochter«. Das erste war schon im Jahre 1881 in erster Fassung erschienen, also ein Jahr nach dem Roman »Traum«. Völlig umgearbeitet kam es nun wieder zum Vorschein im Jahre 1886, gleichzeitig mit jenem anderen. In dem einen ist der lebende, in dem andern der tote Lord Byron der Held. Schon das beweist, daß das zweite das eigenartigere ist. Lord Byrons letzte Liebe ist sein bekanntes Verhältnis zu der Tochter des Grafen Gamba, der Gattin des greisen Guiccioli. Dieser Ehebruchsstoff, in dessen Mittelpunkt ein genialer Dichter steht und dessen Hintergrund der mißlingende Freiheitskampf gegen Oesterreich bildet – erscheint auf den ersten Augenblick sicherlich als echt dramatisch. Doch ist dies nur Schein. Gerade die Figur eines Dichters läßt sich auf der Bühne am wenigsten gestalten, weil man ihn doch nicht kann dichten sehen, und weil dadurch die Haupterkenntnisquelle für den Charakter des Poeten unsichtbar wird – eben seine Poesie. Gerade bei der 46 realistischen Behandlungsweise Bleibtreus erscheint mitten in den Gesellschaftsszenen und Salons der dichtende Lord unerträglich, der alle Augenblicke seine eigenen Verse deklamiert und dessen geckenhaftes Kokettieren mit seinen weißen Fingern hier nicht aufgehoben werden kann durch das, was der epische Biograph uns zeigen könnte: durch einen Blick in seine abgrundtiefe Gedankenwelt. Und wenn die Gamba's hier dem Dichter zürnen, daß er sein Wort nicht gehalten für Italiens Freiheitskampf, und dieser dafür auf seine dichterischen Thaten verweist, so weiß dies nur der Byronkenner zu würdigen; obendrein aber bleibt es auch für diesen nur eine abstrakte Reminiscenz, aber keine gegenständliche Bühnenwahrheit. Ebensowenig ist es Bleibtreu gelungen, die Herzensgeschichte mit der Geschichte jenes Freiheitskampfes innerlich zu verbinden. Nur äußerliche Effekte giebt die Verschwörung der Carbonari für dieses Stück her, und auch die Boten der Griechen, die am Schluß den Lord zu ihrem Führer wählen, stehen da, wie vom Himmel gefallen. – Eine desto feinere Arbeit ist das zweite Schauspiel, in dem die überlebende Tochter des toten Dichters unverschuldet unter dem Schicksal ihres Vaters leidet. Bei der geschiedenen Frau des großen Toten auferzogen – in der Atmosphäre des klatschsüchtigen London – hat man sie wie von etwas Unreinem ferngehalten von dem Bilde ihres genialen Vaters und möchte sie diesen hassen lehren. Kaum herangewachsen, wird sie mit einem ungeliebten Gatten verheiratet, der argwöhnisch jede Aeußerung ihres Charakters belauert: von der Angst gepeinigt, daß des Vaters wilde Zügellosigkeit in der Tochter erwachen, oder sie dem Wahnsinn anheimfallen müsse. Und während sie mit ihrem Manne als Gast in dem Schlosse ihres Vaters weilt und auf Schritt und Tritt immer lebendiger das Bild dessen, den sie nie gekannt hat, vor ihr auftaucht, deutet man die Fehler ihrer Unerfahrenheit als verwerfliche Anlagen; und wie endlich ein überlebender Freund des Dichters ihr das Bild und die Werke des Verklärten zeigt, da sinkt sie überwältigt von der Fülle des Genius nieder, und von unendlicher Sehnsucht nach dem großen, toten Vater erfüllt, stirbt sie in der Erbgruft der Byrons auf dem Grabe des Unsterblichen. Was diese kleine feine Studie aber für Bleibtreus Entwickelungsgang besonders merkwürdig macht, das ist die Tendenz. Er predigt hier zum ersten Male als eine Naturnotwendigkeit das Gesetz der unbedingten Vererbung. Auch hierin ist er also ein Jünger Zolas geworden, den er bald der Jugend zum alleinigen Führer anpreisen sollte. Und doch – wie wenig Bleibtreus Empfinden gerade auf das Moderne ging, das bewiesen gerade damals seine schönsten lyrischen Gedichte. So eines aus seinem »Tiroler Liederbuch«:

Unheimlich abgestorbne Aeste knarrten,
die greisen Wipfel schwankten rätselvoll.
Seltsamen Gruß die bärt'gen Fichten schnarrten,
der Vögel Abendmesse leis verscholl.

Der Dohle Schrei in grämlichen Basalten
erstarb, es schwieg des Stromfalls Orgelton –
das Herz der Schöpfung schien mir tief gespalten,
wie Mater Dolorosas um den Sohn.

Da, als am Quell ich dürstend hingesunken,
da wurde mir im träumerischen Moos,
als hätte ich vom Nornenquell getrunken,
so lebenüberwindend, todesgroß.

Hier unter diesen trauerernsten Buchen,
genüber schneeversilbertem Gestein,
die alten Minnesänger mich besuchen,
die diese Ostmark ew'gem Ruhme weihn. 47

Ihr hehren unbegreiflichen Gestalten
germanisch keuscher Herzensherrlichkeit,
ehrfürchtig ahn' ich euer segnend Walten,
ein schwacher Enkel eurer Riesenzeit.

Du »dunkles« nicht, du helles Mittelalter,
ich höre deiner Vogelweide Chor,
ich fühle deinen Minneernst, o Walter,
und sich, die Morgensonne flammt empor.

Vom Sonnendunst spinnt sich ein zarter Schleier
von Berg zu Berg, der Amsel Schlag verstummt –
als harre auf den Dichter, ihren Freier,
Natur, in zücht'ge Bräutlichkeit vermummt.

Und später wird's, die Abendschatten sinken
und in mein Herz versagter Liebe Qual,
da sehe ich den Mond versöhnend blinken,
und mich umstrahlt der wahren Minne Strahl.

Der wahren Liebe tröstliche Erkenntnis
versenkt sich wunschlos in das eigne Sein,
aus wunder Seele blutet das Bekenntnis:
Was du verlorst, nur das ist ewig dein.

Als Bleibtreu das Liederbuch, das dieses Gedicht enthielt, eben für den Druck abschloß, kam er mit einer jungen Dichterschar in Berührung, die sich vorgenommen hatte, mit Bewußtsein und Absicht eine »Revolution« in der Litteratur zu erregen. 48

 


 


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