Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Das Drama ist wieder frei von der Alleinherrschaft eines ästhetischen Dogmas.

So wogen denn jetzt wieder alle Stilarten lebensfreudig durcheinander auf der deutschen Bühne, und die Zwangsherrschaft des Naturalismus zum mindesten scheint beendet. Während Schaumberger in seinen »Künstlerdramen« (1893) bis zu seiner »Pepi Danegger« (1898) dem Realismus des modernen Lebens treu blieb, suchten andere nach wie vor diesen Realismus auf die Geschichte anzuwenden, wie der Leipziger Universitätsprofessor Paul Barth in seinem »Tiberius Grachus« und Ernst Wachler in seinem »Kaiser Tiberius«. Mit seinem historischen Lustspiel »Wie die Alten sungen« (1895) errang Carl Niemann starke Bühnenwirkung. Georg Engel griff in »Hexenkessel« in die Zeit der Freiheitskriege, in »Hadasa« in biblische Zeiten. Feinsinnig war Jacobowskis geistvolle Komödie »Diyab der Narr« und gleichfalls von guter Bühnenwirkung (1896), während Lienhard mit seinem zweiteiligen Drama »Till Eulenspiegel« trotz des liebenswürdigen Humors die Kraft seines »Naphtali« nicht erreichte. In allen Stilen versucht sich mit gutem Bühnenerfolg Rudolf Lothar. Auf den kecken Wurf 307 »Cäsar Borgias Ende« ließ er die Tragödie »Rausch« folgen, das eigenartige Märchenspiel »Der Wunsch«, das Drama »Ritter Tod und Teufel«, das »Königsidyll« und das geistreich erfundene Possenspiel: »König Harlekin«.

Von einem Extrem zum andern schwankend schuf Hauptmann seinen »Fuhrmann Henschel«. In dem Helden des Stückes ist wieder einmal viel starke Beobachtungs- und Schilderungsgabe an einen Schwächling verschwendet worden. Der soziale Hintergrund des Stückes zeigt uns die Gegensätze eines vornehmen Gasthofs in einem schlesischen Kurorte. Wir wissen, daß Hauptmann einem solchen Orte entstammt. Und dennoch hätte man wohl ein großartigeres Bild solcher Gegensätze sich denken können, als es das Fuhrmannsdrama bietet. Nur die eine Seite zeigt sich hier – nur die Eingeborenen stehen da in ihrem Kampfe um das Dasein, das sie den reichen, kranken Gästen verdanken. In den Kellerräumen des großen Gasthofes mit seinen »vierzig Stuben, drei großen Sälen und nischte drin wie Ratten und Mäuse« befindet sich die armselige Wohnung des Fuhrmanns Henschel. Man ahnt von Anfang an schwere Seelenkämpfe, wie Henschel seiner sterbenden Frau schwören muß, daß er die Magd nicht heiraten werde, aber diese Seelenkämpfe hat uns Hauptmann nicht geschildert. Vielmehr malt er das sogenannte »Milieu« immer breiter aus. Mehr und mehr erwacht das Badeleben. Der zweite Akt bringt einen fröhlichen Maitag, an dem das vielverheißende Husten des ersten Kurgastes ertönt, den der verkrachte Schauspieler und Schankwirt mit einem frivolen Liede vom Schwindsuchtskandidaten triumphierend begrüßt. Frau Henschel ist tot, und Hanne jagt ihren einstigen Liebhaber, den jungen Kutscher, davon. Der eilt thränenden Auges von der Thränenlosen, die ebenso hartherzig ihr eigenes Kind aus früherer Zeit verleugnet und gemein genug ist, die Schande ihres Falles einer entfernten Schwester aufzubürden. Sie macht Jagd auf Hochwild. Sie will Frau Henschel werden. Und der brave Fuhrmann kommt gerade vom Kirchhofe und von dem teuren Grabe, am Geburtstage der Toten. Er kann nicht ohne sie leben, weil er ohne Frau ein steuerloses Schiff ist; er spricht schon von einem »kleenen festen Strickl«, mit dem er seiner Not ein Ende machen will. Da hat Hanne leichtes Spiel. Sie braucht nur zu »flennen« und zu behaupten, sie wolle gehen. Den Gedanken erträgt der rückgratlose Riese nicht! Ohne Frau und nun auch ohne Magd! Wie willig leiht er Herrn Siebenhaars billigen Gründen sein Ohr. Ja, der trauernde Witwer hat schon auf dem Grabe der Gattin um ein Zeichen gefleht, das ihn von seinem Versprechen entbinde; er kann nun schon nicht mehr leben ohne die Hand der tollen Hanne. Und auf Siebenhaars Zureden beschließt er schnell, mit ihr zu reden – da aber fällt der Vorhang. – Dies Gespräch, das den Seelenkampf Henschels uns hätte vorführen müssen, überschlägt Hauptmann. Er macht es sich bequem und zeigt uns die beiden als verheiratetes Paar – im dritten Akt. Der Gatte ist mit seinem Fuhrwerk auf Reisen, und ein frivoler junger Kellner ist bereits der erklärte Liebhaber der Frau Hanne. Henschel hat gewußt, daß Hanne vorher schon einem Kinde das Leben geschenkt. Er hat's ihr nicht nur verziehen, nein, er erlöst das Kleine aus der widerwärtigen Erziehung durch den immer 308 betrunkenen Großvater. Er bringt's der Hanne, um von dieser dafür mit Schimpf empfangen zu werden. Es fangen ihm an die Schuppen von den Augen zu fallen. Doch nur sehr langsam. Wachs in den Händen der starken Frau, hat er seinen treuen Gehilfen Hauffe entlassen, nur weil Hanne ihn nicht leiden mochte. Wie einen Hund hat er ihn auf die Straße laufen lassen, den alten Arbeiter, der steif geworden ist als treuer Diener seines Herrn. Wie einen Hund wirft er ihn aus der Schenkstube des singenden Wirtes heraus, um die nur allzugerechten Anklagen des brotlos gewordenen Arbeiters gegen die verheiratete Dirne nicht anhören zu müssen. Und es geht nun dem braven Henschel so, wie es allen Helden französischer Ehebruchsdramen ergeht – sie sind die einzig Blinden, wo alles sieht. Immer von neuem muß er in der Wirtshausszene die Anklagen gegen seine Frau hören, und da er den Schwager nicht behandeln kann, wie den abgelohnten Diener, so geht ihm endlich ein furchtbares Licht auf, und er verlangt zornrasend nach seiner Frau. Die geradezu erbarmungswürdige Schwäche dieses Helden hat es erreicht, daß der Zuschauer aufatmet bei diesem Zornesaufbruch – wie tierisch wild er auch erscheinen mag, er ist doch ein Zeichen wiedererwachender Kraft – aber nur ein allzu flüchtiges. Schon im nächsten Akt zeigt es sich, daß der schwachherzige Fuhrmann nur für einen Augenblick aus der Rolle gefallen war. Er sitzt schwermütig daheim und schaut in den Mond und in die Wolken, träumt von den Toten, fragt sich, ob seine erste Frau und sein Kind wirklich durch Hannes Schuld gestorben sind, dabei fängt er an, einen Entschluß zu fassen, der seine ganze innere Haltlosigkeit auf der Höhe zeigt. Es wird ihm klar, daß einer von beiden gehen muß: er oder die Hanne. Hanne ist bereit dazu, aber er meint: »Du versorgst ja alles Fuhrwesen wie ein Mann. Aber wie gesagt, auf mich kommt's nicht an . . . . Und Berthel? Was soll aus dem Mädel werden?« Nun, Berthel ist das uneheliche Kind der Hanne, das die Mutter beständig verleugnet und zu dem trunkfälligen Großvater zurückschicken will. Soll dies Kind die Hauptsache sein, so muß Henschel gerade leben bleiben, und die unnatürliche »natürliche« Mutter muß gehen. Trotz alledem kommt Henschel zu dem entgegengesetzten Entschluß. Scheinbar entschlossen, mit Hanne schlafen zu gehen, läßt er sich von dieser noch alle herrischen Kommandos gefallen und schleicht still, ganz still ins Nebenzimmer, um sich – als thue er ganz etwas Beiläufiges, sozusagen mitten im Gespräche – aufzuhängen. Daß er das ohne alles Pathos so vollzieht, so, daß der Schauspieler hier gar keine Gelegenheit hat, sich einen »Abgang« zu machen, das hat man als besondere Kunstoffenbarung Hauptmanns gerühmt. Ja, es entspricht dem Charakter dieses Henschel, aber was ist das für ein Charakter! Er liebt Hanne und weiß es nicht. Er verspricht, Hanne nicht zu heiraten, und bedenkt seine Worte nicht. Er heiratet sie doch, und er kennt sie nicht. Er wird von ihr betrogen und ahnt es nicht, er erfährt die Wahrheit und hat nicht die sittliche Kraft, den unlauteren Verhältnissen ein Ende zu machen. Der Strick ist ja bequemer! Der starke Riese hatte anfangs eine liebende Frau zur Seite, und diese wollte ihn schützen mit dem abgezwungenen Versprechen. Warum hat er es gebrochen? Aus leidenschaftlicher Liebe zu Hanne? Selbst auch nur aus 309 übermannender Sinnesglut? Von alledem steht nichts zu lesen, ist nichts zu sehen. Er selber sagt es am besten: »Ich bin eben halt so hineingetapert!« Und für diesen tapernden Helden soll man sich im Ernste erwärmen? Er vertritt zuletzt eine eigentümliche Weltanschauung. Er will niemandem eine Schuld beimessen. Zur Hanne sagt er: »Du kannst nischt dafier, du brauchst nicht zu flenn'n!« Und von sich selbst sagt er: »Schlecht bin ich geworrn, bloß ich kann nischt dafier«, und am passendsten faßt er seine Weltauffassung zusammen in den Worten: »Wie's kommt, aeso kommt's! Was will eens da machen.« Das ist sehr tragisch ernst gemeint und erinnert doch so sehr an Jochen Nüßlers berühmtes Phlegmawort in Reuters »Stromtid«: »Wat sall ick dorbi dauhn?« – Für Reuters männliche Kraft war so ein Jochen Nüßler nur eine komische Gestalt – für Hauptmanns eigene innere Schwäche ist solch ein Mensch rührend, der sich niemals als der Thäter seiner Thaten fühlt, weil er nur immer den Weg trottet, den ihm die Umstände anweisen. So hat sich denn Hauptmanns empfindlichster Mangel nie deutlicher gezeigt, als in dieser Fuhrmannstragödie. – Der äußere Erfolg des Stückes war groß. Wesentlich trug dazu die vortreffliche Aufführung im »Deutschen Theater« in Berlin bei. Der Schauspieler Rittner, dessen Spiel bei der Eröffnung dieser Bühne dem wildgenialen Feuer des jungen Schiller gegenüber versagt hatte, – der mattherzigen Lebenswahrheit des jungen Hauptmann wurde er vollkommen gerecht. So unmöglich sein »Ferdinand« gewesen war, so vorbildlich wurde sein »Fuhrmann Henschel«. Aber auch in Wien errang das Stück einen starken Erfolg und wurde geradezu zur Rettung für den Direktor des Burgtheaters. Dort war nämlich Burkhardt mittlerweile in Schwierigkeiten geraten und hatte seinen Abschied genommen (18. Jan. 1898). Sehr schnell darauf wurde durch kaiserlichen Erlaß zu seinem Nachfolger der Kritiker der »Vossischen Zeitung« in Berlin, Dr. Paul Schlenther, bestimmt. Es ist nicht Aufgabe einer Litteraturgeschichte, den Kabalen und Intrigen nachzuspüren, die diesem Direktionswechsel vorausgegangen sein mögen. Ausführlich berichtet darüber Hermann Bahr in seinem »Wiener Theater« (Berlin 1899, Seite 168–190). Mochte stattgefunden haben was wollte, zunächst begrüßte Jung-Wien in dem Brahm-Schüler jedenfalls einen Mann, von dem man glaubte, daß er der Jugend würde gerecht werden, während die ältere Generation die Köpfe darüber schüttelte, daß das berühmte Theater einem Berliner Zeitungsschreiber anvertraut wurde. Die nächste Enttäuschung traf aber die junge Partei. Das sogenannte Jung-Wien sah seinen Hauptführer wohl in Hermann Bahr, der seinen Wohnsitz dauernd in Wien genommen hatte, eine Zeitlang als Redakteur der »Deutschen Zeitung« thätig gewesen war und dann ein eigenes Organ gründete unter dem Titel »Die Zeit«. Er hatte in den Jahren 1890–91 seine bisherigen Aufsätze in zwei Sammlungen herausgegeben, deren eine er herkömmlich »Zur Kritik der Moderne«, deren andere er aber prophetisch »Die Ueberwindung des Naturalismus« taufte. Allerdings hatte er von jeher darauf hingedeutet, daß mit dem bloßen Naturalismus die litterarische Zukunft nicht zu erobern sei. Sein eigentümlicher, geistreich unruhiger Stil, wie ihn namentlich seine »Russische Reise« (1893) auf der Höhe zeigt, hatte 310 sich in allen möglichen sonderbaren Stoffen ausgetummelt und ließ noch lange den französischen Einfluß erkennen, so in den Skizzensammlungen: »fin de siècle« und Caph. Die perversen Neigungen seiner Helden und Heldinnen zeigen sich im tollsten Hexensabbath, aber gleichzeitig auch mit einer unheimlich packenden Kraft dargestellt, in seinem Schauspiel »Mutter«. Später schlug er einen eigentlich Wienerischen Ton an in Schauspielen, die daher auf Oesterreich in der Wirkung im wesentlichen beschränkt bleiben mußten, wie das »Tschapperl«, »Der Star«, der »Athlet« u. s. w. Am abgeklärtesten stellte sich sein Stil später in seinen Kritiken dar. Auch wo man ihm nicht zustimmen kann, muß man ihm fast immer einräumen, daß er etwas Geistreiches zu sagen hat. Ja, seine Wienerische Behaglichkeit, die seinem Stil echte Lokalfärbung verleiht und dabei gemütliche Breite mit geistreichen Ueberraschungen vereinigt, läßt ihn als einen der intressantesten Typen des österreichischen Journalismus erscheinen. Der Zorn aber scheint ihn immer zu packen, wenn er auf Schlenther zu reden kommt. Eine seiner Auslassungen mag hier folgen als charakteristisches Zeichen der schweren Enttäuschung »Jung-Wiens«:

»Es dauerte ein bischen lange, bis er überhaupt begann. Er hatte etwas viel mit Bücklingen durch alle Instanzen, Rührungen über den gewissen »Geist des Burgtheaters« und Angelobigungen an seine Clique im Cottage zu thun, und kaum war er mit der Bewunderung des alten Intendanten fertig, so fing er mit der des neuen von vorne an; nie ist allen Funktionären inständiger, flehentlicher hofiert und geschmeichelt worden. Ich weiß nicht, ob das so klug gewesen ist, als der Herr Schlenther meint. Er kennt die Wiener nicht. Die Wiener haben es nicht sehr gern, wenn jemand in alles hineinkriecht, und mit einem Erstaunen, das von Mißachtung nicht mehr gar zu fern war, sahen sie zu, wie der Berliner Gelehrte auf einmal die albernsten Phrasen der Wiener Vorstadt anzustrudeln mit jedem Bänkelsänger um die Wette beflissen war. Endlich aber mußte er doch beginnen. Es ging nicht mehr. Man war schon ein bischen ungeduldig geworden. Seine Freunde aus dem Cottage, die Verschwörer gegen Burkhardt, liefen mit großen Worten in der Stadt herum; man werde etwas erleben, nun sollte man erst sehen, wie unfähig jener gewesen, denn dieser sei in allem das Gegenteil! Sie hatten nicht gelogen. Wir erlebten wirklich etwas. Er war wirklich das Gegenteil. Er begann endlich. Er begann mit einem Stück, das Burkhardt abgewiesen hatte. Es fiel durch. Ein anderes folgte, das Burkhardt nicht geben wollte, bis er einen Nachfolger für Mitterwurzer hätte, um unseren alten Ibsen nicht mutwillig lächerlich zu machen. Es fiel durch. Ein drittes kam, das Burkhardt für die Witt und Kainz aufgehoben hatte, die mit ihrer reifen Kunst die Spielerei wohl gehalten hätten. Es fiel durch. Herr Schlenther wollte auch seine »Entdeckung« haben; ein Fräulein . . . . kam, eine entsetzliche Novize, die auf der Bühne noch nicht stehen und nicht gehen konnte. Sie fiel durch. Herr D . . . . . mußte einen Liebhaber spielen. Er fiel durch. In der Not trommelte Herr Schlenther ein paar Gäste aus der Provinz her. Sie fielen durch, alle fielen durch.« –

So weit der zornige Hermann Bahr. In der That hatte man in Wien vielfach die Methode nicht gut geheißen, die Schlenther aus seiner Rolle im jüngst deutschen Feldzuge her gewöhnt war, bei allen Gelegenheiten durch Tisch- und Grabreden für seine »Richtung« wirken zu wollen. Man wollte dramaturgische Thaten sehen. Als Schlenther den in Berlin längst aufgeführten »Fuhrmann Henschel« in Wien auf die Bretter brachte, ergriff er gleich wieder die Gelegenheit, ein Bankett zu Ehren Hauptmanns veranstalten zu lassen, bei dem ein Mitglied der Akademie – der Geologe Prof. v. Sueß – die Festrede hielt. – Noch am 7. Mai 1900 schrieb 311 der Wiener Korrespondent der Frankf. Ztg. – eines doch sehr modern gesinnten Blattes –: »Die Gesellschaft des Theaters an der Josefstadt erfüllt die Zwecke ihres Daseins so vollkommen, daß die ernstesten Kritiker dem bequemen Herrn Schlenther vorhalten durften: Das Theater an der Josefstadt hat ein Bühnenensemble, sogar das Beste, – für seine Zwecke – in Wien. Herrn Schlenther rührte das wenig, wußte er doch, daß er hiergegen bessere Bankettreden halten kann als Herr Wild.«

Eine Entdeckung des neuen Theaterdirektors war ja auch dieser in Berlin längst gespielte »Fuhrmann Henschel« nicht. Ja, auch ein Wiener Autor, mit dem Schlenther bald in Konflikt geriet, war schon zuvor von Burkhardt auf das Burgtheater gebracht worden: Arthur Schnitzler (geb. 15. Mai 1862). Mediziner von Beruf, hatte er sich mit einer Sammlung von dramatischen Szenen unter dem Titel »Anatol« eingeführt und mit seinem ersten Schauspiel »Das Märchen« wenig Glück gehabt. Den Typus des langweilig normalen Wiener Lebemannes nimmt er am liebsten zum Gegenstand seiner Satire. Das Verhältnis eines solchen mit einem gleichfalls wenig eigenartigen Wiener Mädchen bildet den Gegenstand seines zweiten erfolgreicheren Schauspiels »Liebelei«. Das tragische Moment besteht hier darin, daß der Lebemann erschossen wird von einem anderen, dessen Gattin er gleichfalls liebt. Das Mädchen erfährt also, daß der Mann, dem sie alles hingegeben hat, neben ihr noch eine andere geliebt hat, mehr noch als sie selbst. Der Stoff, der sich besser für eine novellistische Skizze geeignet hätte, ist etwas zu dünn und zu bedeutungsarm für ein wirkliches Schauspiel. Zu großer dramatischer Kraft erwuchs sein nächstes Drama »Freiwild«, das für die schutzlosen Bühnenmädchen wirkungsvoll eine Lanze bricht. Eine übertriebene Zuspitzung der humanen Sentimentalität aber zeigt »Das Vermächtnis«, worin ein Sohn sterbend seinen Eltern sein Verhältnis vermacht, und worin es den Eltern als grausame Barbarei angerechnet wird, daß sie nach dem Tode des unehelichen Enkelkindes diese »natürliche Schwiegertochter« nicht ständig als Kind des Hauses um sich haben wollen. Als ob denn alle Schwiergereltern mit einer gesetzlich anerkannten Schwiergertochter in Sympathie leben könnten! – Am dramatischsten wirkt Schnitzler in seinen Einaktern (1899), unter denen der groteske»Grüne Kakadu« und der in Jamben geschriebene »Paracelsus« nach einem neuen Stil ringen. – Auch Hartleben stellte vier Einakter zusammen unter dem Titel »Die Befreiten«, denen später die nur theatralisch wirksame Offizierstragödie »Rosenmontag« folgte.

In das Wiener Burgtheater, das unter Schlenther in seiner althergebrachten Verehrung für Brahm zu einer Art Filiale des »Deutschen Theaters« in Berlin wurde, hielt nun auch Georg Hirschfeld seinen Einzug und zwar mit dem schwächsten seiner Werke: »Agnes Jordan«. Völlig undramatisch werden hier in fünf Akten fünf Bilder aus dem langen Leben einer Frau lose aneinandergereiht. Das Ganze macht den Eindruck auseinandergeschnittener Kapitel eines Romans. Im ersten Akt heiratet Agnes einen trivialen jungen Kaufmann, dem seine Frisur lieber ist als ihre Zärtlichkeitsbezeugungen. Im zweiten Akt ist sie mit ihm und ihren Kindern im Bade und muß es sich gefallen lassen, daß er mit ihren 312 Schwiegereltern bricht und anderen Damen die Kur macht. Im dritten Akt kann sie seine Brutalitäten nicht mehr aushalten und geht wie »Nora« von Mann und Kindern davon, aber im vierten Akt läßt sie sich durch den Jammer der Kleinen zur Rückkehr bewegen. Im fünften Akte ist ihre Tochter bereits Braut, und die Söhne sind zu zwei stattlichen Männern herangereift, die über den kohlköpfigen Vater lachen und die tapfere treue Mutter verehren, weil sie ihnen ihr Leben zum Opfer gebracht hat. In dieser herkömmlichen langen und figurenreichen Romanwüste bilden nur die weichen Stellen, die Kinderszenen, einige Oasen; und eine gewisse Lebensweisheit, die über dem letzten Akte lagert, wirkt zuletzt etwas versöhnlich. Aber geradezu naiv prägt sich zum Schluß der Gedanke aus, daß alle Menschen, die der gleichen Zeit entstammen, auch im Charakter einander gleich sein müssen.

So war mit dieser seiner schwächsten Schöpfung in das ehrwürdigste Theater des deutschen Sprachgebiets der junge Autor eingerückt, der einst einem Münchener Studentenverein seine Entdeckung verdankte.

Auch in München hatte sich die Theaterkunst weiter entwickelt. Dorthin war 1895 Max Halbe übergesiedelt und hatte ein sogenanntes »Intimes Theater« ins Leben gerufen. Es veranstaltete im engsten und auserlesensten Kreise Aufführungen unter Verzicht auf allen theatralischen Apparat. Den Vorstand bildeten Halbe, Schaumberger, Schaumberg, Scharff und Josef Ruederer (geb. 15. Oktbr. 1861), der sich besonders durch den Roman »Ein Verrückter« und durch die kraß naturalistische Komödie »Die Fahnenweihe« bekannt gemacht hatte. Es wurden hier zur Aufführung gebracht: der Einakter »Die Gläubiger« von dem dänischen Dramatiker Strindberg; ferner von dem Revolutionsdramatiker aus dem Anfange des Jahrhunderts Georg Büchner (geb. 17. Oktbr. 1813 in Gordelan bei Darmstadt, gest. 19. Febr. 1837 in Zürich) die Komödie »Leonce und Lena« und endlich das moderne naturalistische Schauspiel »Toni Stürmer« von Caesar Flaischlen (geb. 12. Mai 1864 in Stuttgart). Ein Hauptreiz der intimen Bühne bestand darin, daß die Schauspieler und Schauspielerinnen gleichfalls der Schriftstellerwelt angehörten. So wirkten als Darsteller mit: Halbe, Schaumberger, Wolzogen, Franz Held und die geistreiche ungarische Dramatikerin Juliane Déry (geb. in Baja am 12. Juli 1864, gest. am 31. März 1899). Es hatte sich um diese Zeit eine kleine Kolonie norddeutscher Schriftsteller dort zusammengefunden, von deren Zusammenhang mit Berlin Hermann Bahr ein lebendiges Bild entwirft (Wiener Theater S. 347):

»Wenn man im März nach München kommt, so kann man an einem Tage die ganze Stadt, die sonst so behäbig und gemächlich ist, in der größten Aufregung sehen. An diesem Tage wird das Salvator angezapft, das dicke, schlüpfrige und betäubende Bier, das wie eine süße Tinte durch die Kehle rinnt. Da laufen dann die guten Bürger ängstlicher, als es sonst in ihrer breiten, gern verweilenden Art ist, ja beinahe hastig hin, nervöse, daß sie es versäumen könnten. Aber auch das andere München, das Quartier der Kunst, wird laut; Halbe, den geschwinden, zappelnden Poeten der »Jugend«, sieht man sein Rad noch fanatischer treten und sogar den stillen Schaumberger, der sonst verträumt, so dantesk, immer wie im tiefen Schatten von Problemen geht, sieht man dann sich flinker, beinahe ungestüm bewegen. Alle rennen an diesem Tage zum Bahnhofe hin, den Berliner Zug zu erwarten, weil man weiß; heute wird 313 das Salvator angezapft, da kommt Otto Erich Hartleben an; das ist jetzt nach und nach schon zu einer bayrischen Landessitte geworden. Fährt nun der Berliner Zug ein, so steht ein massiver, sehr jovialer Herr winkend am Fenster, der einem alten Studenten aus den »Fliegenden Blättern« gleicht. Er steigt aus und grüßt mit einer gewissen kurzen, ja ungeduldigen Herzlichkeit, weil es ja doch schade um die schöne Zeit ist – man könnte schon längst beim Bier sein. Erst, wenn er endlich draußen sitzt, den Zwicker abgenommen hat, um in seiner Andacht durch kein Bild der Welt gestört zu werden, und nun den dunklen milden Saft innig und weise schlürft, dann geht ihm erst das Herz für die Freunde auf. Er weiß dann nicht mehr genau, was er sagt; laut und ungedämpft läßt er seine Gefühle ausströmen; Bewunderer drängen sich herbei und schauen und zechen ihm zu, und das will in München doch etwas heißen.«

Aber auch nach einem regelmäßigen modernen Theater strebte man in der Isarstadt noch. Und so wurde denn mit gewaltigen Kosten ein schönes neues Haus erbaut, das den bezeichnenden Namen »Deutsches Theater« erhielt. E. Meßthaler, der eine Zeitlang mit einem sogenannten Ibsen-Ensemble gereist war, eröffnete es am 26. Septbr. 1896, mußte aber bald durch einen Nachfolger abgelöst werden. Ein solcher fand sich zunächst in dem Schriftsteller Victor Naumann (geb. 8. Mai 1865 in Berlin), der unlängst mit seinem kühn angelegten, aber in der Ausführung völlig mißlungenen Schauspiel »Ikarus« (1894) am Berliner Hoftheater Aufsehen erregt hatte – und in der Person des Schauspielers Emil Drach, der aber im folgenden Jahre (1897) sich ein Münchener Schauspielhaus begründete, das – wiederum ein Jahr darauf – von Drachs Regisseur Stollberg übernommen wurde. – Endlich gründeten im Jahre 1898 Ernst von Wolzogen und Ludwig Ganghofer die Münchener »Litterarische Gesellschaft«. Nach Differenzen mit Ganghofer zog sich Wolzogen aus deren Vorstandschaft zurück. Auch diese Gesellschaft hat – auf Münchener Bühnen – moderne Dramen zur Aufführung gebracht.

So war eine gewaltige Erhöhung des dramatischen Interesses in ganz Deutschland die wesentlichste Folge der ganzen litterarischen Revolution geworden, und das war ja ein gewiß schätzenswertes Ergebnis. Das andere Ergebnis – das auch ganz und gar nicht schätzenswert gewesen wäre – blieb gänzlich aus: die Erreichung eines einseitig naturalistischen Kunststils. Im Gegenteil, trotz all seines äußerlichen Aufsehens fand der Fuhrmann Henschel nur noch wenig Nachfolger. Der einzige Hauptmann-Schüler, der dem Dichter noch ganz getreu blieb, war Gerharts älterer Bruder Carl Hauptmann (geb. in Salzbrunn 1858). Ursprünglich hatte er als ein eigenartiger Kopf sich der Philosophie zugewendet und als Schüler des Empirikers Avenarius ein größeres Werk zu veröffentlichen begonnen unter dem Titel »Beiträge zu einer dynamischen Theorie der Lebewesen«, deren erster Teil über die Metaphysik in der modernen Physiologie handelt (1893). Dann aber hatte er diese Studien abgebrochen und war seinem Bruder auf das Gebiet des Dramas nachgefolgt. Dabei zeigte er sich in den drei Schauspielen »Marianne«, »Waldleute« und »Ephraims Breite« als ein echter Naturalist und als ein dem Bruder eng verwandtes Talent, dessen Stärke hauptsächlich in der Beobachtung liegt. Als ein österreichischer Hauptmann-Schüler führte sich Philipp Langmann (geb. in Brünn am 5. Febr. 1862) bei der größeren Oeffentlichkeit ein 314 durch sein krasses, aber sehr wirkungsvolles Arbeiterschauspiel »Barthel Thuraser« (1897), das durch eine Aufführung im »Lessing-Theater« in Berlin den Namen des Verfassers schnell bekannt machte, während das ihm stofflich sehr verwandte, aber mit mehr Gemütstiefe gleichfalls sehr dramatisch ausgearbeitete Volksstück »Not kennt kein Gebot« von Rudolf Jenny (geb. Kastelruth in Tirol am 23. Mai 1858) in Norddeutschland so gut wie gar keine Beachtung fand.

Während so neue Jünger des Naturalismus sich hervorwagten, mühte sich der älteste Hauptmann-Schüler vergebens, sich zu einer höheren Kunstform durchzuringen. Ja, als Halbe von München nach Berlin kam, um sein neuestes Schauspiel »Der Eroberer« im »Lessingtheater« aufführen zu lassen, äußert er einem Reporter des Berliner »Lokal-Anzeigers« gegenüber etwas, das so klang, als wenn er in die Bahnen der Klassiker einlenken wolle. Das war ihm denn freilich nicht gelungen. Der Eroberer, ein Seeheld und Naturmensch, der mitten in seinem Streben nach einer Herzogskrone weiblicher Eifersucht zum Opfer fällt, erlebte im Berliner Lessingtheater einen jener lärmenden Durchfälle, wie sie in Berlin seit den Tagen der Freien Bühne üblich geworden waren, und das in München zuerst aufgeführte, und dann im Deutschen Theater in Berlin zu Tode gespielte Prophetendrama »Das tausendjährige Reich« zeigte dieselbe erschreckende Stillosigkeit. Salbungsvolle Reden des Propheten standen in undramatischer Buchsprache im krassesten Gegensatz zu den bei den Haaren herangezogenen Knalleffekten des äußeren Geschehens mit Donner und mit Blitz. – In demselben Winter und fast zur selben Zeit versuchte die Direktion des Deutschen Theaters das neueste Werk ihres Lieblingsdichters vergebens zu größerem Erfolge durchzuzwingen.

Shakespeare hat seine genial barocke Komödie »Die bezähmte Widerspenstige« bekanntlich mit einer scherzhaften dramatischen Einleitung versehen. Ein Lord läßt da einen Betrunkenen im Zustande der Bewußtlosigkeit mit prächtigen Gewändern umhüllen und läßt ihn bei seinem Erwachen als stolzen Lord begrüßen. Aus diesem Splitter eines Einfalls, den der genialste Dramatiker der Welt beim Abfassen einer leichtgeschürzten Schnurre achtlos so nebenbei von sich warf, schnitzte Hauptmanns mühseliger Kunstfleiß eine sechsaktige Komödie: »Schluck und Jau« – viel zu langatmig für den kleinen daraus hervorschimmernden Grundgedanken von der Wertlosigkeit alles Erdenglanzes vor den Augen des furchtbaren Gleichmachers Tod. Soviel auch die Hauptmann-Gemeinde aus diesem Stück machen wollte, – von dem bei der Aufführung wieder mal ein ganzer Akt wegblieb, – die ruhig denkenden Freunde des begabten Dichters konnten dieses Stück seiner nicht würdig erachten. – Auch Sudermanns Rückkehr zum Naturalismus führte nicht zum Sieg. Die mit Spannung erwartete Aufführung seines »Johannisfeuer« in Berlin bereitete in künstlerischer Hinsicht eine Enttäuschung.

Doch trug das Deutsche Theater ein Jahr zuvor einen stürmischen Erfolg davon mit dem neuesten Werke eines Mannes, der als Hauptmann-Schüler begonnen und sich dann der herkömmlichen Bühnendichtung zugewendet hatte. Max Dreyer (geb. 25. Septbr. 1862 in Rostock) hatte als naturalistischer Novellist angefangen, war dann 1892 mit einem kleinen dreiaktigen Drama »Drei« 315 hervorgetreten, das in frischem natürlichen Dialog schildert, wie ein etwas pedantischer junger Gelehrter in den Bund mit seiner geistreichen Frau auch einen genialen Künstlerfreund aufnimmt, der dann schließlich das Herz der Gattin seines Freundes gewinnt. So alt der Stoff war, so frisch war doch seine Neugestaltung. Die ganz natürliche Art, wie die drei ihrem Schicksal entgegengetrieben werden, hat etwas Fesselndes an sich. Erst drei Jahre später wurde Dreyers zweites Drama aufgeführt: »Winterschlaf« (1895). Es hat im ganzen Gedankengang Aehnlichkeit mit Halbes »Jugend«, nur daß der Gesamteindruck hier nicht so ein erfrischender war wie dort. Ließ Halbe ein junges Mädchen einsam in einem katholischen Pfarrhause aufwachsen und an der ersten Liebe jauchzend zu Grunde gehen, so läßt Dreyer seine junge Heldin in einem einsamen Forsthause ihre Jugend vertrauern; und – wie Halbes Hannchen vom jungen Kaplan – so wird sie von ihrem Verlobten wider Willen, einem brutalen jungen Forstgehilfen, beständig in Zwangsaufsicht gehalten. Eine Mutter hat sie nicht mehr; ihr Vater, ein biederbrummiger Waldbär, versteht sie nicht; und eine alte, nörglig mokante Tante trägt namentlich während des eintönigen Winters im erfrorenen Walde nicht eben zur Erhöhung der Gemütlichkeit bei. Da wird im erstarrten Zustande im Schneesturm ein junger Schriftsteller zu ihr getragen, der im Forsthause wieder zum Leben erwacht und mit seinen hochfliegenden sozialreformatorischen Plänen das Herz des jungen Mädchens erobert. Schon hat sie des Vaters Einwilligung erlangt, zu einer Verwandten ihres neuen Freundes in die Stadt zu ziehen, da durchkreuzt ihre Pläne der Forstgehilfe in letzter Stunde durch ein frivoles Mittel. Mit roher Gewalt entehrt er sie und verwüstet dadurch ihr Glück und ihr Leben. – Von solchen düsteren Stoffen aber, die beim Publikum wenig Anklang fanden, wandte Dreyer sich ab und neigte sich mehr der Konvention zu: so im Lustspiel »In Behandlung«(1897), das oberflächlich mit der Frauenfrage spielt, und in der ausgelassenen »Großmama«. Nach dem erfolgreichen Gesellschaftsstück »Hans« (1898) und ein paar gleichfalls wirkungsvollen Einaktern trug er einen großen Sieg davon mit seinem »Probekandidaten« (1900). Hier ist das alte Problem aus Gutzkows »Uriel Acosta« ins Moderne gewendet; es handelt sich wenigstens auch hier um einen Märtyrer seiner Ueberzeugung, der zum Widerruf gezwungen wird und dann nochmals seinen Widerruf widerruft. Gutzkow hat bekanntlich in seinem schwungvollsten Jambendrama den Widerruf des jüdischen Philosophen Uriel Acosta – abweichend von der Geschichte – dadurch zu erklären versucht, daß der kühne freie Denker das Martyrium der Selbstverleugnung seiner großen Gedanken nicht nur seiner Mutter, sondern auch seiner Braut zuliebe auf sich nimmt. In ähnlicher Weise ergeht es dem Helden des Dreyer'schen Stückes. Es handelt sich hier um einen jungen Probekandidaten, der in seinen naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunden Dinge gesagt hat, die nicht zum Religionsunterricht passen wollen. Er wird daher vom Herrn Direktor unter nachdrücklicher Beeinflussung eines kirchlichen »Präpositus« vor die Wahl gestellt, entweder auf seine Anstellungsaussichten zu verzichten, oder im Konferenzsaal vor versammelten Schülern die von ihm geäußerten Ansichten zu berichtigen. Aus Rücksicht auf Mutter und Braut entschließt er sich zu diesem 316 Schritt. Wie er aber seinen Schülern in die jugendhellen, vertrauensvollen Augen blickt, da vermag er es nicht über sich, gegen seine Ueberzeugung zu sprechen: er wiederholt seine ursprünglichen Aeußerungen noch einmal – und damit ist sein tragisches Schicksal besiegelt.

Durch diese Verlegung des Acosta-Stoffes in die moderne Welt hat das Thema sicher an erschütternder Tragik eingebüßt. Ein mittelalterlicher Jude, den seine eigene Gemeinde verflucht, hatte sicher ganz anders zu leiden, als ein moderner, blutjunger Gymnasiallehrer, der seiner freidenkerischen Ansichten wegen entlassen wird, und dem sich gerade deswegen leicht eine um so glänzendere Laufbahn bei der liberalen Presse öffnet. Auch hat Dreyer die modernen Verhältnisse entschieden übertrieben, wie ihm in der freisinnigen »Vossischen Ztg.« ein Gymnasiallehrer überzeugend nachgewiesen hat. Für den kirchlichen »Präpositus«, für dessen Einspruch sich ein preußischer Gymnasialdirektor sicher schönstens bedanken würde, beruft sich Dreyer auf Mecklenburg. Auch sind die Gymnasiallehrertypen zweifellos mit dem Stift des Karikaturenzeichners entworfen – denn solch eine Gesellschaft von moralischen Feiglingen und komischen Gesinnungslumpen dürfte doch wohl schwerlich typisch für den gebildeten Stand der deutschen Gymnasiallehrer sein. Kurz und gut – um ein Gedankendrama wirkungsvoll zuzuspitzen, mußte der Verfasser erstens übertreiben und zweitens die tragische Wirkung durch eine satirische ersetzen.

Gute Lustspiele sind immer noch selten. Zwischen Blumenthal und Kadelburgs oberflächlicher Theaterware und den Naturalisten breitet sich eine Fülle minderwertiger bühnischer Lach-Rezepte aus. – Als ein ehrlich aufstrebendes Talent mit frischen Zügen sei Max Kempner-Hochstädt genannt.

Ja die modernste Generation selbst wurde jetzt schon von Anhängern der jüngsten Richtung mitunter zum Gegenstand der Satire gemacht. Schon früher einmal hatte das Richard Skowronnek versucht (geb. 12. März 1862). Er hatte sich anfangs mit dem interessanten dramatischen Charakterbild »Im Forsthause« verheißungsvoll eingeführt, war dann aber später zu einem leichtherzigen tantiemenfreudigen Lustspieldichter des »Königlichen Schauspielhauses« in Berlin und sogar Hoftheater-Dramaturg geworden, – aber nur auf kurze Zeit. In seinem Lustspiel »Die kranke Zeit« trat er satirisch gegen die Jüngsten auf. Weit geistreicher that dies nun Otto Ernst Schmidt, der sich als Schriftsteller Otto Ernst nennt (geb. in Ottensen am 7. Oktober 1862), der fleißige und 317 feinsinnige Leiter der »Freien litterarischen Gesellschaft« in Hamburg. Durch mutige und stimmungsvolle Gedichte hat er sich eingeführt und mit seiner »Größten Sünde« (1895) sich an der modernen sozialen Dramatik wuchtig zu beteiligen versucht. Doch fehlte ihm die eigentliche dramatische Kraft. Dagegen erwies er sich als sehr begabter satirischer Plauderer, wie denn sein »Süßer Willi« eine köstliche Satire auf Hamburger Protzentum und thörichte Erziehung ist. Sehr erfolgreich war dann aber seine Komödie »Jugend von heute« (1899), die von Dresden aus nach Berlin kam, dort im Königlichen Theater großes Aufsehen erregte und dann in Deutschland die Runde machte.

Auch weibliche Hände streckten sich längst schon nach dem Lorbeer des Dramatikers. Die oberflächlich geistreiche Elsa von Schabelsky (geb. am 18. April 1860 zu Stupky in Rußland) vermochte jedoch nicht die nötige dramatische Konzentrationskraft zu erlangen, und so erregten ihre Lustspiele »Der berühmte Mann« und »Agrippina« sowie ihre Schauspiele »Notwehr«, »Gisela«, »Irrlichter«, »Das liebe Geld« (1894) u. s. w. nur vorübergehendes Interesse. Auch Olga Wohlbrück (geb. 5. Juni 1867 in Wien), eine begabte Novellistin, die damals mit dem Lyriker Maximilian Bern verheiratet war, war wenig erfolgreich, da ihr Schauspiel »Das Recht auf Glück« an zu weicher Empfindsamkeit krankte. Mit viel Begabung aber ringt Elsbeth Meyer-Förster um die Theater-Lorbeeren, namentlich mit ihrem »Gnädigen Herrn«, den die Berliner »Sezessionsbühne« erfolgreich darstellte. Erfolgreicher war Elsa Bernstein, die Gattin eines bekannten Münchener Schriftstellers, die sich Ernst Rosmer nannte. Bereits ihr erstes Schauspiel »Wir drei«, das sie in üblicher litterarischer Koketterie schlechthin als »fünf Akte« bezeichnete, zeigte ihre ganz außergewöhnliche Begabung zur lebhaften, fein auspinselnden Charakteristik einzelner Figuren. Aber diese sonderbare Sascha – ein Gemisch aus Künstlerfeuer und Sinnenglut, die vorübergehend die Ehe ihrer Freundin Agnes mit dem Alltags-Schriftsteller Ebner auseinanderreißt, um sie später wieder zusammenzuflicken, – ist eben eine jener problematischen Figuren, die nur in der breitausmalenden Art des Romans ganz verständlich werden können. Daher gehen dann auch die meisten dieser fünf Akte in breit dahinflutenden, steigerungslosen Gesprächen unter, in denen über alle modernen Probleme vom modernsten Standpunkt aus geredet wird. Die Taine-Zola'sche Weltanschauung, die hier Ebner vertritt, daß der Mensch nur ein Produkt seiner Abstammung, Erziehung und Umgebung sei, kann eben zu allem Möglichen in der Welt, aber nicht zu einem wirklichen Drama führen. So ist daher auch dies Rosmer'sche Schauspiel – wie so viele Dramen der neuesten Epoche – Seite für Seite interessant im Einzelnen, aber als Gesamtwerk verschwommen und ohne Lebenskraft auf der Bühne. Von ihren weiteren Dramen – so »Dämmerung«, die Komödie »Tedeum«, die Tragödie »Themistokles« und »Die Mutter Maria«, das Schauspiel »Dagny Peters« – hatte den meisten Erfolg das Märchendrama »Die Königskinder« (1895.) Es schildert die Abenteuerfahrt eines jungen Königssohnes, der aus seinem elterlichen Palast in die Welt hinausgelaufen ist, um die Menschen kennen zu lernen und die Welt zu sehen. Unkundig der Gefahren trägt er nichts 318 bei sich als seine Krone. In einem Zauberwalde bei einer Hexe findet er eine Gänsemagd, die dort gleichfalls zur Hexe erzogen werden soll. Von ihrer Schönheit bezwungen, drückt er ihr seine Krone aufs Haupt und will sie entführen. Aber sie findet nicht den Mut zu fliehen, und so verläßt er sie wieder, um sich in der benachbarten Stadt als Schweinehirt zu verdingen, denn er will gehorchen lernen, ehe er zu herrschen anfängt. In der Stadt erwartet man an jenem Tage gerade einen König, um dessen Entsendung die Bürger die alte Hexe gebeten haben. Aber zur bestimmten Stunde erscheint statt dessen die Gänsemagd, die – durch einen alten Spielmann ermutigt – nun doch sich von der Hexe losgerissen hat. Gerührt sinkt sie in die Arme des Königssohnes; aber die Bürger des Ortes wollen in den unscheinbaren Kindern kein Königspaar erblicken und vertreiben sie empört aus der Stadt. Die Bürgerkinder aber glauben an die Königskinder und ziehen im tiefen Winter unter Führung des Spielmanns hinaus, um die beiden zu suchen. Aber schon ist es zu spät. Vom Hunger zur Verzweiflung getrieben hat der Königssohn seine Krone um ein Stück Brot verkauft, um sich und die Gänsemagd vom Tode zu retten.

Königssohn.
Hast schon wieder ein wenig Rot auf Wang' und Mund.
Da! Noch das Krümlein! Ist dir gesund.
Nimmer werd' ich den Acker lästern.
Wie gut ein Brot, ich hab's nicht gewußt,
da ich's schmeckte vor Langem.                                        

Gänsemagd.
                                                      Du irrst, es war gestern.

Königssohn.
                                Gestern? Ach nein.
Die Wolken lagen grau auf dem Moos,
                              im Höhlengestein
frierend saßest du mir im Schoß.

Gänsemagd.
War's eine Höhle? Ein Prunkgemach,
              das schimmerblaue Zieraten deckten.
Nur leise brach
          Am Mittag herein die Sonnenfeier,
wenn wir auf seidenen Kissen streckten.
Hast du vergessen?

Königssohn.
Kann meine Gedanken nimmer ermessen –
Sinkt vor mir ein silberner Schleier.
Lindentraum?
Sonne? Blüten? Ergrünt die Erde?
Der Brunnen murmelt?                                

Gänsemagd (sieht sich um).
                                        Meine Gänseherde
hast mir wieder verscheucht.
Mir deucht –
Kamst du eben vom Bergessaum?
Bin ich erschrocken.

(Es schneit immer stärker.)

Königssohn.
Nachttropfen tauen dir noch in den Locken,
weiße Blüten schüttelt der Baum –
Wie jung du leuchtest in Duft und Zierde –
Wie staunen dich an
meine Knechte und Ritter!
Mir flammt es! Dich heimzuführen – Begierde –
Ich trag dich hinan
die goldbreiten Stufen,
auf das Gitter!
Ich höre sie rufen,
Jauchzen dröhnt durch das ganze Reich;
Komm, o komm, meine Königin!

Gänsemagd.
Mir ist müde und wohl zugleich,
weiß kaum, wo ich bin.
So sommerschläfrig! So schwer die Glieder!

Königssohn.
Mich schwindelt's nieder . . .

Gänsemagd.
Laß uns ruhn – bald wieder zu erwachen.

Königssohn.
Dann wollen wir fröhlich uns heimwärts lachen,
pflücken uns Rosen und Glück in die Hände.

Gänsemagd.
Rosen – ohn' Ende –

Königssohn.
Im Brautgemach
unterm Königsdach
schlafen wir ein –
Laß mich dich küssen – und stille sein.

(Dicht aneinander geschmiegt, Lippe an Lippe, schlafen sie ein. Der Wind hat sich gedreht und weht von links nach rechts die Flocken über sie hin, daß sie bald wie unter einer feinen weißen Decke liegen. Die Taube schlüpft aus dem Astloch, flügelt ein paarmal um die Schlafenden und zupft die Gänsemagd am Haar.)

Gänsemagd.
(regt sich ein wenig, hebt den Kopf mit halbem Murmeln.)
Der Tod kann nicht kommen – ich liebe dich . . .

(Sie sinkt zurück. Die Taube rupft sich ein Federchen aus der Brust, legt es ihr auf den Mund und bleibt ihr auf der Schulter sitzen.)

Ihr Schlummer geht in den ewigen Schlaf über, und tot werden sie vom Spielmann und seinem Gefolge aufgefunden und zur Stadt heimgebracht. – In diese anspruchslose Märchengeschichte könnte man viel Symbolik hineinlegen: etwa 320 vom ungestümen Idealismus der Jugend, der die Welt im Sturme zu erobern glaubt, aber von Thür zu Thür gestoßen wird und endlich sein Heiligstes für alltägliches Brot verschachern muß, um endlich, vor der Zeit ermattet, zwecklos zu sterben. – In Verbindung mit Musik machte die Dichtung in ihrem Wechsel von Naturalismus und Romantik vielfach einen tiefen Eindruck. Als eigentlicher Märchendramatiker aber scheint sich Max Möller zu entwickeln (geb. 16. März 1868), der von geistreich niedlichen Legenden zu liebenswürdig naiven Einaktern aufstieg und mit »Totentanz« und »Johannisnacht« hübsche Bühnenerfolge errang.

Auch Hanns von Gumppenberg, der sich jetzt als Dichter einer Art von buddhistisch entsagungsvoller Weltanschauung zuneigte, hat diese mit hoher künstlerischer Meisterschaft verklärt. In seiner großen Trilogie »Alles und Nichts« läßt er zwei junge Männer vor einem indischen Märchentempel vor die Wahl stellen, auf welchem Wege sie zum wahren Glück geführt werden wollen. Der eine ist der keck zugreifende Realist, der in Macht, Reichtum und Liebesgenuß die Staffel zur Glückseligkeit erblickt, aber gerade darum das wirkliche Glück nicht finden kann. Der andere wird durch beständiges Entsagen von Stufe zu Stufe höher hinauf geläutert; er durchläuft unter ernsten Schicksalen alle irdischen Rangstufen bis zur Königsmacht, muß aber immer wieder erkennen, daß alle irdischen Erfolge Qual mit sich bringen – und erst wie er ganz entsagt hat, geht er sterbend zum Glück ein. Ein Schluß voll Weihe und Hoheit.

Einen verwandten Gedankengang führt dieser hochbegabte Dichter in seinem »Ersten Hofnarr« aus, wo er einen Sohn Karls des Großen dichtet, den ein lachender und ein weinender Philosoph durch die Welt führen. Der Pessimist will dem jungen Prinzen klar machen, daß Welt und Leben ein Uebel sei. Der lachende Philosoph aber, der kein oberflächlicher Lacher ist, schöpft seinen Optimismus aus einer eigenartigen Weltanschauung, mit der er auch den Prinzen bei der Leiche seiner geliebten Gattin tröstet.

»Wir und alles! Mensch und Tier!
Der Baum, die Blume, die zum Lichte langt,
erstarrte Berge, sturmgepeitschte Meere,
dies ganze Erdenrund und Sonn' und Mond
und aller Sterne Reigentanz im Aether –
Wir alle sind die eine Liebe nur!
Kein Raum kann sie, die Geistige, begrenzen,
und keine Zeit berührt die Wandellose;
Doch eben darum freut sie's, kleiner sich
zu träumen, in unzählige Gestalten
verworrnen Kampfes, ungestillter Sehnsucht
sich auszustreuen, Endlichkeit zu kosten
in freiem Scherz; denn Endlichkeit ist Traum!
Der Liebe Maskenspiel ist feierlich
und groß und schreckhaft auch, als wollt' sie sich
in aller Qual des Nichtigen verlieren;
Und dennoch bleibt es eitel Lustbarkeit,
ein stolzes Spiel der Wahrheit mit dem Trug,
darüber sie im stillen scherzt und lacht! 321
Denn ihre Allmacht bleibt sich froh bewußt,
daß sie die Täuschung von sich werfen kann,
sobald sie will! Bedenke nur, wie du
mit ganzer Sehnsucht Theudechild begehrt!
Und dachtest doch, dich Hermingard zu opfern?
Und liebtest deine Leuba doch, als hättest
du nie zuvor geliebt? Das konnt'st du nicht,
so wie du bist, wenn du in diesen dreien
nicht eins geliebt– ein und dasselbe, Wilfried.
Nur Heimweh nach der größern Liebe, der
auch du entsprungen, lehrte dich Verlangen
nach Theudechild, und sprengte dann im Eifer
für Hermingard beinah das Mummenkleid,
in dem du Menschenglück genießen konntest!
Denn Theudechild und Hermingard und Leuba,
sie waren Masken nur derselben Gottheit,
die sich in dein Vergängliches gehüllt,
und die in dir und jedem Auserwählten
die Augen aufschlägt, mitten hier im Traum
zu wachen, mitten im Gedräng' der Larven
heiter zu wissen; das bin ich, die Liebe,
die spielend ihrer Allmacht sich erfreut!«

Ein junger Gedankendichter von hohem Schwung der Poesie ist auch Elisar von Kupffer. Doch harrt sein längst als Buch erschienener »Herr der Welt« noch der Aufführung und damit seiner Bühnenprobe. – Wildenbruch zeigte alte Bühnenkraft in der »Tochter des Erasmus«, einer Tragödie aus der Reformationszeit, während sein einstiger Plan eines Hohenzollerncyklus von Josef Lauff aufgegriffen wurde, der im »Burggraf« und im »Eisenzahn« patriotische Huldigungsdramen schuf. – Eine Mittelgattung zwischen Lyrik und Drama kam in dem großen Wendejahr 1892 zum erstenmal zur öffentlichen Geltung, nachdem ihr genialer Begründer Richard von Meerheimb (geb. zu Großenhain 1825) bereits lange danach gerungen hatte: das Psychodrama. Ihm lag nichts ferner, als der Gedanke der Umgestaltung der Bühne und des Dramas. Im Gegenteil sind seine Werke nur zur Recitation durch eine einzige Persönlichkeit bestimmt, verzichten von vornherein auf die Bühne und wollen nur neben anderen Dichtungsgattungen auch für sich Lebensberechtigung erringen. Am klarsten hat ein Jünger des Meisters: Felix Zimmermann, für diese neue Kunstform sich erklärt (Neue litterarische Bl. 1. Jahrg. Nr. 1):

»Das Psychodrama ist eine völlig neue, einheitliche Dichtungsform, eigentlich eine Mischform aus dramatischen, epischen und lyrischen Grundelementen, ein Drama in denkbar einfachster, idealster Ausführung. Jeder äußerliche Apparat fehlt; denn nicht für die äußeren Sinne sind diese Vortragsdichtungen geschrieben, sondern die innigste Mitarbeit der erregten Psyche ist nötig, damit der Hörer dieses Drama in seiner ganzen Feinheit begreife und fühle. Aber eben dieses rein geistige Wesen des Psychodramas macht es möglich, daß die Zeit und Raum überflügelnde Phantasie solch einen dramatischen, in Wirklichkeit vielleicht Stunden währenden Vorgang, von den geistigen Wellen der Sprache und des Klanges getragen, mit allen Abstufungen und Aufregungen der Gefühle in wenigen Minuten durchleben kann. Dem Psychodramatiker fällt 322 demnach eine doppelte Aufgabe zu. In den Mittelpunkt einer dramatisch regelrecht gegliederten Handlung stellt er den Psychodramenhelden, in dessen Worten allein sich Wort und That aller anderen mithandelnden Personen mit greifbarer Plastik abspiegeln muß. Die äußerliche, fortschreitende Handlung wird dabei zu unzweifelhafter, geistig-sichtbarer Klarheit gebracht. Zweitens aber läßt der Psychodramatiker in psychologischer Vertiefung und Zerfaserung die innere Motivierung der That, den Seelenkampf des Helden, die Lösung eines seelischen Problems u. s. w. zu gleicher Zeit zum Ausdruck gelangen. Hierbei müssen ihm alle sprachlichen Hilfsmittel zur wortplastischen Malerei von Personen und Szenerie unterthan sein, so daß epische Schilderungskraft und lyrische Glut der Sprache diesem »Dramenextrakte« zu Diensten stehen. Dabei aber »bedingt die Form« nach des Aesthetikers Hermann Hettners Ausspruche »Kürze, feste Begrenzung, epigrammatische Schärfe, klare Gruppierung, großen Stil«. Mit solchen rein geistigen Mitteln der Sprache vermag diese dem Kultus der Schönheit neue Bahnen eröffnende Form Geist und Phantasie des Hörers oder Lesers in ungeahnter Weise zu beschwingen. Die Hauptgesetze des Psychodramas lassen sich also in drei Punkte zusammenfassen: An der Handlung nehmen erstens wie im Bühnendrama mehrere Personen teil; zweitens rollt sich die Handlung wie ein Drama in fortschreitender Entwickelung gegenwärtig und unter thätiger Teilnahme, nicht bloß Schilderung oder Erzählung, des Sprechenden ab; drittens endlich ermangelt das Psychodrama jeder szenischen Darstellung und wirkt unmittelbar vom Geiste auf den Geist.«

Ueber die Berechtigung oder Nichtberechtigung solcher Kunstgattung zu streiten ist zwecklos, wenn diesen theoretischen Erörterungen eine große, starke Schaffenskraft vorausgeeilt ist, wie Richard von Meerheimb sie z. B. in seiner »Kleopatra vor Aetium« bewährt hat, einem gewaltigen Werke, dessen alles bezwingender Anschaulichkeit und erschütternder Kraft sich kein Leser oder Hörer entziehen kann. Leider ist dieses Gedicht zu lang, um es hier herzusetzen, und zerstückelt werden darf es nicht. Darum mag denn eins seiner späteren weit schwächeren Psychodramen hier Platz finden – nur als Probe der Gattung:

                Eine altrömische Mutter.

                                                        Motto: Ohe, jam satis est!   (Plautus.)

»Bild meines Mutius, teurer Ehegemahl,
Schmuck meines Atriums, Hausstütze meines
Witwentums, umschirme mich auch diese Nacht
mit deinem Geisterhauch!
    Ich geh' zur Ruh, – möcht' Ruhe finden
in meinem Elend – doch – horch –
    Was klopft am Eingangsthor zu später Nacht?
    Wer klopft?
    Die Antwort klingt wie Echostimme meines
Sohnes, des Elenden, dem ich das Leben gab.
    Hör' auf zu klopfen – tritt herein!
    Wie siehst du aus, Sohn? Die Augen stier
– das Haar gesträubt – die Stirne schweißgetränkt –
Du zitterst – bebst – Was ist geschehen? – Sprich! –
    Ein Flüchtling bist du! die Nemesis –
die Furien verfolgen dich?! Sie haben ja nie geruht
ob deiner Schandbahn!
    Was thatst du wieder? Warst wieder arg verfolgt
    von Gläubigern?! 323
    Ich soll das Ohr zum Mund dir neigen!?
    Lauter, Mensch! – Gestohlen hast du?!
Bist eingebrochen in der Diana Tempel und hast
der Göttin goldnes Bild herabgeholt vom Altar?
    Und ich soll's verbergen, weil dir die Schergen
auf den Fersen? Den Vater hast du durch
dein Thun – durch Gift und Giftestropfen langsam hin-
gemeuchelt, – und mich, die schwache Mutter, schwach,
mir selbst zum Ekel – hast hinausgetrieben in die
Nacht des Wahnsinns – zur Hehlerin willst du die
Mutter machen!?
    Knie nieder Mensch! – Oeffne die Brust!
Verflucht, dreimal verflucht von deiner Mutter!
Den Dolch hinein in deine Heuchlerseele! –
Stirb, wie ich selbst – mein Haus – bleib
rein – von – Schande!!!
«

Eine Sammlung seiner Psychodramen hatte R. v. Meerheimb in dem Jahre 1887 herausgegeben. Aber in die damals beginnende Zeit der realistischen Dramatik paßten seine Dichtungen wenig hinein, obwohl z. B. Conrad warm für ihn eingetreten war. Aber erst im Jahre, das der Alleinherrschaft des Naturalismus ein Ende bereitete, kam auch für Meerheimb die eigentliche Zeit. Am 1. Okt. 1892 bildete sich nämlich eine »Litterarische Gesellschaft Psychodrama« unter dem Vorsitz von Meerheimb in Dresden, die in den »Neuen litterarischen Blättern« ihr Organ besaß und sich über ganz Deutschland ausbreitete. Ward doch die stellvertretende Vorsitzende die Schriftstellerin Pauline Hoffmann von Wangenheim in Erfurt, die selbst zahlreiche Dramen geschaffen hat. Der erste Schriftführer und eigentlicher Geschäftsverwalter wurde Franciskus Hähnel in Bremen, ein vielseitiger Schriftsteller, der aber vor allen in Festspielen und Psychodramen seine Begabung versuchte (geb. in Hamburg am 15. Mai 1864), so z. B. »Heinrich VII. in Genua«, »An der Weiche«, »Des alten Lehrers selig Ende« und »Eike«. Sein Landsmann, Dr. jur. Jacobi in Bremen, trat als Beigeordneter dem Vorstand bei. Der Dresdner Felix Zimmermann, dessen theoretische Erörterung ich oben wiedergegeben habe, übernahm das Amt des zweiten Schriftführers, und Berlin ward durch Max Dittrich vertreten. Hähnel, am eifrigsten thätig für die Sache des Meisters, gab eine sehr interessante Sammlung psychodramatischer Gedichte heraus unter Mitwirkung von Richard von Meerheimb, Pauline Hoffmann von Wangenheim, Ernst Roeder, Felix Zimmermann, Wilhelm Becker, Alice Freiin von Gaudy und Wilhelm Schubert (Peter Merwin). (Bremen 1893.)

So gipfelt diese neue Richtung des Dramas wieder einmal darin, sich mehr und mehr von der Bühne zu emanzipieren. Nachdem ein paar Jahre lang der Naturalismus den Schein der Bühne nicht kraß genug in handgreifliche Wirklichkeit umwandeln konnte, schlägt nun wieder einmal die Mode in das entgegengesetzte Extrem um, und man will nur den Geist des Dramas gewissermaßen sprechen lassen und das ganze Lebendigwerden auf der Bühne wie einen unnötigen Ballast lästigen Wirklichkeitsscheines beiseite werfen. Es ist dies eine neue Folge 324 der allzu skrupellosen Verwischung aller Grenzen zwischen den einzelnen Kunstgattungen. War in der Zeit des Naturalismus eine Art von dialogisierter Novelle an die Stelle des wirklichen kraftvollen Dramas getreten, so griff bald in der Zeit des wiedererwachten Schönheitssehnens die Lyrik verhängnisvoll hinüber in das Drama und ergoß statt dramatisch belebter Verse weichwohlige Sprachmusik auf die Bühne, um als allerneueste Geburt der Zeit eine Mischgattung entstehen zu lassen, die wir erst kennen lernen können nach einem Ueberblick über die Lyrik der letzten Jahre.

 


 


 << zurück weiter >>