Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Drittes Kapitel.

Die Modernen Münchens vereinigen sich zu einer »Gesellschaft für modernes Leben«

In München war neben der »Gesellschaft« mit ihren immer schärfer werdenden rücksichtslosen Angriffen auch eine andere Zeitschrift ins Leben getreten, die unter dem Titel »Münchener Kunst« sich in den Dienst der litterarischen Revolution stellte. Als eine »Illustrierte Wochen-Rundschau über das gesamte Kunstleben Münchens« deutete sie doch gleichzeitig schon auf dem rosagefärbten Umschlag der ersten Nummer (1. Nov. 1889) ihr Programm an mit den Worten:

»Die Münchener Kunst« stellt sich rückhaltlos in den Dienst jener Richtung, welche von der bloßen Schönheits-Anschauung und Anbetung vergangener Tage bewußt und entschieden sich abwendet und, geleitet von einem kraftvoll sich äußernden Wirklichkeitssinn, ihr Ziel in dem intimsten Einklang der Kunst mit dem reich- und tiefbewegten Leben, insbesondere der Gegenwart, sucht. Dieses rückhaltlose Eintreten für die realistische Kunstanschauung soll uns jedoch nicht abhalten, bedeutsamen Leistungen der älteren Kunstanschauung mit pietätvoller Würdigung gegenüberzutreten.«

Mit dem Herausgeber dieses neuen Kampfblattes, Julius Schaumberger (geboren in München am 29. Aug. 1858), trat wieder ein neuer Mann vor die größere Oeffentlichkeit. Aber auch Michael Georg Conrads Geist schwebte darüber. Gleich für die erste Nummer hatte er seine »Begegnung mit dem französischen Dramatiker Emil Augier« geschildert. Und in einem Aufsatz über Conrads bisher erschienene Romane brachte diese selbe Anfangsnummer über ihn die begeisterten Worte: »Michael Georg ist er vorbenannt, als ob man's schon dem 197 Täufling angesehen hätte, was für ein geistiger Drachentöter und Kraftmensch dereinst aus ihm werden würde, und der ›Ungespundete‹ möchte ich ihn nachbenennen. ›Der Ungespundete‹ – das heißt nicht, ein frischer, fröhlicher, tapferer Geist schlechthin, sondern diese Eigenschaften verkörpert in einem süddeutschen Manne.« Aber der eigentliche Stamm der Mitarbeiter des Herrn Schaumberger bestand aus jungen, noch unbekannten Männern. Da war der eben aus Berlin herübergekommene Otto Julius Bierbaum aus Schlesien (geboren am 28. Juni 1865). Seine Studien, die sich bisher in Leipzig, München und Berlin auf Philosophie, Rechtswissenschaft und Chinesisch erstreckt hatten, brach er nun völlig ab, und dafür ging's mit vollen Segeln in die Litteratur hinein. Vor allen Dingen die Kritik der bildenden Künste wählte er zu seinem Gebiet. Neben ihm stand der dreiundzwanzigjährige Hanns Freiherr von Gumppenberg (geboren in Landshut am 4. Dezbr. 1866). Als Sohn eines hohen bayrischen Postbeamten und als Sprößling einer alten Adelsfamilie hatte er eine vornehme Erziehung erhalten. Früh war er in das Königlich bayrische Pagenkorps eingetreten, und nach Beendigung seiner Gymnasialzeit hatte er in München litterarische Studien getrieben und namentlich zum engeren Schülerkreis des Goetheforschers Professors Bernays gehört. Aber als eigentliche Lebenslaufbahn schwebte ihm von jeher die des Dramatikers vor, und wirklich hatte er auch schon im zweiundzwanzigsten Lebensjahr das Glück, sein Erstlingswerk auf der Münchener Hofbühne dargestellt zu sehen. Es war das eine nordische Tragödie, »Thorwald« genannt. Aber die skizzenhafte und wenig bühnengerechte Durchführung des düsteren Stoffes hatte ein größeres Publikum nicht anzuziehen vermocht. Immerhin galt er für einen der Hoffnungsreichsten aus der jungen Geisteswelt Münchens, und mit 198 jugendlichem Kraftbewußtsein stürzte er sich in die neue Bewegung hinein, ohne zu bedenken, daß er eigentlich nicht allzuviel Berührungspunkte mit ihr hatte. Jedoch herrschte in München damals noch nicht die Berliner Einseitigkeit. M. G. Conrad war eine vielseitigere und unendlich reichere Natur als der philologische Diktator von Berlin, und gern ließ er unter dem schützend vorgestreckten Schilde seines Reckenarms jeden kämpfen, der sich eines inneren Dranges bewußt war. Und so durfte Gumppenberg auch in der naturalistisch geplanten Zeitschrift um das verlorene Ideal klagen:

»Unruhvolle, harte Zeit,
Zeit der kühnsten Geistessiege –
schon dem Kinde in der Wiege
hältst dein Schicksal du bereit!
Was im Sturme wir errangen,
ist im Sturm uns auch entgangen;
Nimm sie wieder, deine Qual –
gieb dafür ein Ideal!

Menschen in der Arbeit Last,
in des Schmerzes Geierkralle,
Jung und Alte – alle, alle
brauchen einen hohen Gast,
der an ihre Schwelle trete,
der in brünstigem Gebete
löse ihre schwerste Pein.
Aber wir – wir sind allein!

Siegreich war dein Himmelsflug,
heil'ge Kunst! Ich seh' dich thronen
auf dem Schutt der Religionen,
selber Göttin dir genug!
Hohen Geistern schaffst du Heil –
wer da reich ist, nimmt sein Teil;
Doch die Blinden und die Armen,
können sie an dir erwarmen?

Du, die nie ein Mensch geschaut,
die kein Name jemals nannte;
Liebe, deren Abgesandte
sangen einst den süßen Laut
von Erlösung und vom Frieden –
bist du ewig nun geschieden?
Bringst du uns vom Himmel her
keine frohe Botschaft mehr?

Liebe, die im Morgentau
heimlich uns ins Auge lächelt,
die in Abendlüften fächelt,
auf der Berge stolzem Bau
sehnend oft das Herz beschlich –
Liebe, offenbare dich
deinem Volk dies letzte Mal!
Gieb auch uns ein Ideal! –«

Schon an diesem Sehnsuchtsgedicht konnte man erkennen, wie hoch sich der ideal gesinnte Gumppenberg innerlich über manchen Genossen erhob, denn Schwung und Seelenadel verliehen ihm die Künstlerweihe auch in dieser unklaren Periode.

Auch der alte Herr Heinrich von Reder – noch immer ein treuer Kumpan der Jugend – steuerte von seinem eigenartigen »Skizzenbuch« bei. Wenn man erfährt, daß diese seine kleinen Gedichte alle in demselben Versmaß geschrieben und alle gleich lang sind, so sollte man nicht glauben, daß so urwüchsige kleine drollige Schnurren darunter sind, wie die folgende:

»Der Mond steht in der blauen Luft
mit vollen gelben Backen
und malt aus langer Weil' mit Gold
der dunklen Wolken Zacken.

Er schaut herab zum Erdenkloß
mit bleicher Schadenfreude
und kratzt sich an dem Ringgebirg',
sieht drunten er die Leute.

Er lächelt, weil er ausgebrannt
muß kein Geschlecht mehr tragen,
das immer nur das Eine sinnt,
einander tot zu schlagen.«

199 Georg Schaumberg (geb. in Ansbach am 30. Okt. 1855), der bisher nur den Schwank und das leichte Lustspiel gepflegt hatte – man darf ihn nicht mit Schaumberger verwechseln –, gab sich in dieser ersten Nummer außerordentlich pessimistisch, wenn er also die Sünde sprechen ließ:

»Ob ihr in brünstigem Gebet
zum Christengott euch wendet,
ob ihr zu Allah gläubig fleht,
daß er Erlösung spendet –

Ob ihr nach dem Messias schreit
um meine Macht zu brechen,
und Tempel auch an Tempel reiht,
die Menschheit loszusprechen –

Ob büßend ihr den Körper quält,
der Sinne Lust zu dämpfen,
euch mit den frömmsten Waffen stählt,
mich siegreich zu bekämpfen;

Vergebens ist's, die Welt ist mein,
wer will sie mir entringen?
Kein Gott vermag's, kein Heil'genschein,
nie wird es euch gelingen.

Denn nimmer reißt die Mutter ihr
hinweg von ihrem Kinde;
Aus mir entsprang sie und in mir
wird sie vergeh'n; der Sünde.« –

Endlich erschien auch in der ersten Nummer schon als ein Genosse dieses neuen Bundes Julius Brand (eigentlich Hillebrand). Er erschien zunächst mit einem kleinen Aufsatz über den von ihm sehr verehrten Münchener Schauspieler Carl Näußer, aber er trug sich damals mit großen dramatischen Entwürfen. Brand gehörte so recht seinem ganzen Typus nach in das neueste Stadium der litterarischen Revolution hinein. Bald suchte er das brutale Sinnen-Thema zu schwärmerischem Rausche zu steigern, bald faßte er es plump und täppisch mit nüchterner Reizlosigkeit. Doch immer suchte er es wenigstens dadurch zur Größe zu erheben, daß er es an geschichtlich bedeutende Menschen anknüpfte. So wurde sein erster dramatischer Held Nero (München 1890). Da Brand sich als Stürmer und Dränger fühlte, so blickte er natürlich mit stolzer Verachtung auf alles das herab, was man sonst dramatische Technik zu nennen pflegt. Aber auch das Zwangsgewand, das die Berliner sich von Arno Holz hatten umschnüren lassen, galt ihm nichts. Und so taumeln denn die Szenen seines »Nero« wild durcheinander, beständig den Ort wechselnd und – als leicht hingeworfene Federskizzen – das Bild des kaiserlichen Wüstlings schildernd. In dem »phantastisch halbdunklen Raum« einer giftmischenden Kupplerin beginnend, steigt die dialogisierte Erzählung durch den Senatsaal in den Kaiserpalast in flüchtigen Zwiegesprächen und langen Monologen, und die absichtlich alltägliche Prosa steigert sich in den Selbstgesprächen des Nero mitunter ganz unvermittelt zu freien Rhythmen und Dithyramben. Daß das Bild des edlen Philosophen Seneka sich in das eines diplomatischen Menschenverächters verwandelt, soll wohl naturalistischen Forderungen entsprechen. Aber wirklich tiefer gehende packende Seelenmalerei findet sich nirgends, obwohl dazu Gelegenheit genug vorhanden wäre, wenn wir sehen, wie die Mutter einen Mord begeht, um den Sohn auf den Thron zu heben; und wie der Sohn dann die Gattin verstößt, den Bruder vergiftet, die Mutter ermorden läßt, Rom in Brand steckt und gegen die Christen wütet, um den Verdacht der Brandstiftung 200 auf diese abzuwälzen. Beim Anblick einer schönen Christin, die er einem Stier hat auf die Hörner binden lassen, packt ihn plötzlich die Reue, und als ein Schwächling tötet er sich bei der Thronbesteigung des Galba.

Es steckt eine gewisse kräftige Begabung in diesem Drama, wie auch in der folgenden Tragödie Brands: »Kaiser Otto III.« (München 1891). Hier wird die ganze gleich flüchtig dialogisierte Regierungsgeschichte des Ottonen von seinem Regierungsantritt an mit seinen Ungarnschlachten, Römerzügen und seinem Eindringen in die Gruft Karls des Großen zusammengehalten durch ein dichterisch ausgestaltetes Motiv. Otto III. läßt in Rom den Creszentius hinrichten und zwingt dessen überlebende Gattin, seine Frau zu werden. Sie lernt ihn lieben, aber da er sie treulos verläßt, tötet sie sich zum Schluß an seiner Leiche. Aber weder das Erwachen dieser unnatürlichen Liebe, noch ihr gewaltsames Ende sind überzeugend entwickelt. Dennoch läßt hier mancher hübsch charakterisierende Zug namentlich in der Gestalt des jungen Kaisers es bedauerlich erscheinen, daß Brand des Glaubens war, leichtfertiges Hinwerfen unausgegorener Szenen sei das Kennzeichen eines genialen Dramatikers.

Zuletzt hat er noch – immer tiefer in der Sinnlichkeit untersinkend – eine Dichtung »Venus Astaroth« (Leipzig 1891) herausgegeben. Die griechische Göttin der Schönheit ist hier im Titel absichtlich zusammengestellt mit der semitischen Göttin Astarte, an deren Altar reine Jungfrauen ihre Keuschheit opfern mußten zum Ruhme der Göttin der Fruchtbarkeit und der Zeugungskraft. Eine Art von Cyklus vereinigt hier vier 201 Verserzählungen von idealloser Liebe. Eine moderne Künstlergeschichte beginnt. Dann folgt eine Umdichtung der Tannhäusersage. Der aus dem Venusberg entkommene Minnesänger erfleht vergebens vom Papst in Rom Verzeihung, und wie ihm dann die Bildsäule der Venus kalt und stumm bleibt, da folgt er den Lockungen eines glutäugigen Mädchens, das im Rausche des Genusses sich ihm als Astaroth zu erkennen giebt. Unter dem Titel »Der Sonnenpriester« folgt dann eine Verherrlichung des Kaisers Heliogabal, der sich zum Baaldienst bekannt hat. Er verlockt eine reine Priesterin der Vesta, der Keuschheitsgöttin, und läßt den Marzianus sterben, um dessen Weib sein nennen zu können – bis er selbst durch den Verrat seines Freundes stirbt.

Nach einem idealen Helden dagegen verlangte Hanns von Gumppenberg und versuchte sich an dem gewaltigen Stoff eines Dramas »Der Messias«. Den echten Dramatiker verrät hier gleich die Auffassung des Judas. Er erscheint als stolzer, prunkender Prophet, der selbst seine Jünger um sich geschart hat und am Jordan dem sanften Jesus und seiner bescheidenen Schar die Taufe streitig machen will. Aber er ist bedeutend und groß genug veranlagt, um die reine Erhabenheit Jesu allmählich bewundern zu lernen und sich vor ihr zu beugen. Ja, Judas wird erst in dem Augenblicke zum Verräter an seinem Ideal, wo Gumppenberg selber es von seiner Höhe herabzieht. Um den Messias nur menschlich darzustellen und ihm als tragischem Helden auch eine tragische Schuld zu geben, stellt Gumppenberg nämlich die Geschichte von der Auferweckung des Töchterleins des Jairus als eine bewußte Täuschung 202 dar, zu der Jesus sich durch das schnöde Verlangen des Volkes nach Wundern hinreißen läßt. Freilich ist dieser Einfall des Dichters keineswegs glücklich. Denn abgesehen von dem Verletzenden, das eine solche Entweihung einer so hehren Gestalt mit sich bringt, läßt sie auch den Helden des Dramas unwahrscheinlich erscheinen – denn, nun kann er ja selbst nicht mehr an sich glauben und hat zudem Hoffnungen im Volke erregt, die er zum zweiten Male nicht erfüllen kann.

Daß diesem kühnen Drama aus tausend Gründen sich die öffentlichen Bühnen verschließen würden, war sonnenklar. Und da nun auch in den Münchener Kreisen sich schon eine ganze Anzahl von unaufgeführten Dramen angesammelt hatte, und man obendrein in der schönen Isarstadt so viel aufregende Kunde von der »Freien Bühne« und der »Litterarischen Gesellschaft« in Spree-Athen hörte, so drängte sich der Münchener Jugend der Gedanke auf, hier ebenfalls zunächst eine große Vereinigung zu schaffen, die der modernen Kunst den Weg bahnen sollte, und dieser Gedanke fand nun seine Verwirklichung. Das Restaurant »Parsival« in der Herrenstraße zu München war damals der Sammelplatz der litterarisch Unzufriedenen, und hier faßten eines Tages Schaumberger und Gumppenberg, Schaumberg und Bierbaum den Plan, eine »Gesellschaft für modernes Leben« zu gründen. Als eine vollzählige Versammlung der »Modernen« Münchens den Plan gutgeheißen hatte, wurde auch Detlev von Liliencron, der damals dem Münchener Parsivalkreise angehörte, und der Bildhauer Rudolf Maison mit in den Vorstand gewählt, und M. G. Conrad übernahm auf allgemeinen Wunsch den Vorsitz. Und so wurde denn folgende Ankündigung an die Oeffentlichkeit erlassen:

»Unter dem Namen »Gesellschaft für modernes Leben« hat sich in München eine Vereinigung mit folgenden Zielen gebildet:

Die »Gesellschaft für modernes Leben« stellt sich zur Aufgabe die Pflege und Verbreitung modernen, schöpferischen Geistes auf allen Gebieten; Soziales Leben, Litteratur, Kunst und Wissenschaft. Zu diesem Zwecke trifft die »Gesellschaft für modernes Leben« folgende Veranstaltungen. 1. Vortragsabende, in welchen einschlägige Fragen theoretisch und durch Vorlesung moderner Geisteswerke jeder Gattung beleuchtet werden. – 2. Errichtung einer freien Bühne, welche unter dem Schutze des Vereinsgesetzes auch solche Werke zur Aufführung bringen wird, denen sich die öffentlichen Theater noch verschließen. – 3. Sonderausstellungen von solchen Werken der der Gesellschaft angehörenden bildenden Künstler, welche für die moderne Entwickelung besonders kennzeichnend sind. – 4. Herausgabe einer Zeitschrift, welche die Anschauungen der »Gesellschaft für modernes Leben« nach außen vertreten soll. – Der »Gesellschaft für modernes Leben« sind unterschiedslos alle Personen als Mitglieder willkommen, welche die Kämpfe des modernen Geistes mit ehrlicher Anteilnahme verfolgen. – Der Monatsbeitrag, welcher den Mitgliedern freien Eintritt zu allen öffentlichen Gesellschaftsveranstaltungen und kostenfreie Zusendung der Wochenschrift »Die Moderne« sichert, beträgt eine Mark. Der erste Vortragsabend mit näherer Entwickelung des Programms findet anfangs Januar statt. – Beitrittserklärungen nehmen die Unterzeichneten entgegen. –

München, im Dezember 1890.

I. A. der»Gesellschaft für modernes Leben«:

Dr. M. G. Conrad, Rudolf Maison, Detlev Frhr. v. Liliencron, Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Hanns von Gumppenberg, Georg Schaumberg

Schnell wurde von den Zeitungen in und außerhalb Münchens die beabsichtigte Gründung besprochen, und so war die Spannung aufs Höchste gestiegen, als 203 am 29. Januar 1891 auf einer Insel in der schönen Isar sich die Räume des Restaurants »Isarlust« mit Neugierigen füllten und die hohe Gestalt M. G. Conrads auf der Rednertribüne erschien. Mit seiner feurigen, warmherzigen Beredsamkeit sprach er über »die Ziele der Gesellschaft für modernes Leben«. Den Hauptpunkt seiner Ausführungen trafen die Sätze:

»Und an der Wende dieses Jahrhunderts sind wir an einem Punkt angelangt, der jüngst in einer denkwürdigen Sitzung dem Kaiser selbst das Wort abpreßte: »Meine Herren, so kann es nicht weiter gehen.« Es müssen Uebergänge geschaffen, Brücken gebaut werden vom Alten ins Neue, von der Antike mit ihrem Epigonenschweif in die Moderne. Der harmonische, vernünftige, menschlich-edle Neubau des Lebens muß vor gefährlichen Krisen behütet werden. Daran mitzuwirken, sind bereits anderwärts, in Paris, Berlin u. s. w., freie Vereinigungen gegründet worden, die sich teils als Ergänzungen, teils als kühne Versuchsstationen an das Bestehende anschließen. – Die Kunststadt München darf in solch nützlichem Thun nicht zurückbleiben. Auch für uns ist die Zeit gekommen, mit Energie und Klugheit der Moderne eine Pflegestätte zu bereiten. Auch wir wollen den Weizen des neuen Geistes zu frischem Mehl und Brot bearbeiten und dem Volke, das nach Neuem und Kräftigem hungert und des alten Breies genug hat, darbieten. Da gilt es freilich, manches Vorurteil zu besiegen, manche thörichte Furcht zu zerstreuen. Die Furcht besteht oft nur in einer Scheu vor Worten, in einer Angst vor ungewohnten Gesichtern. Die starken Leidenschaften, die rücksichtslosen Entschleierungen, die psychophysischen Zergliederungen in der neuen Kunst erfüllen den Gewohnheitsmenschen mit geheimem Grauen. Er spricht wohl gern den Spruch des alten Römers mit Stolz nach: »Ich bin ein Mensch und nichts Menschliches soll mir fremd sein.« – Allein, wenn's zum Treffen kommt, nimmt er doch davor Reißaus und schreit nach der Polizei. – Darum sollen sich erst die Starken und Gleichmütigen vereinsmäßig zusammenfinden, damit die Angst- und Heulmeier die Versuche mit der neuen Kunst und Litteratur nicht stören. Die geistreichen Leute sollen sich vergesellschaften, die mit dem Kritiker Taine des Bekenntnisses leben:

»Auf freiem Felde begegne ich lieber einem Schaf, als einem Löwen; aber hinter einem Gitter sehe ich lieber einen Löwen, als ein Schaf. Die Kunst ist eine solche Art von Gitter, sie beseitigt den Schrecken und läßt nur das Interesse übrig.«

»Also lassen wir einmal in Kunst, Litteratur und Theater die guten alten Schafe laufen und sehen wir uns die jungen Löwen an!«

Dieses Wort von den Löwen und Schafen sollte nun für die nächste Zukunft zum Schlagwort für den Münchner Litteraturkampf werden. Die anwesenden Gegner schrieben sich diesen Vergleich sofort in ihr Notizbuch. Zwar zollte man den Conrad'schen Ausführungen rückhaltslos Beifall und ließ sich Bierbaums Vortrag über »die deutsche Lyrik von heute« eben so willig gefallen, wie man den Vorträgen jüngstdeutscher Gedichte durch die Münchner Hofschauspielerin Anna Dandler freudig zustimmte. Dann aber erfolgte das eigentliche Ereignis des Abends, über das der ultramontane »Bayrische Courier« am folgenden Tage (31. Januar 1891) folgendermaßen berichtete:

»An der gewaltigen Mähne kenntlich trat sodann ein junger »Löwe«, Herr Hanns von Gumppenberg, auf, ohne daß es glücklicherweise zu einer Panik kam. Herr von Gumppenberg gefiel sich darin, »Deutsche Lyrik von gestern« zu parodieren und die Werke anerkannter Dichter ins Lächerliche zu ziehen. Das Auditorium kam schließlich zu der Ansicht, daß der Redner besser thäte, mit seinem Witz seine in den weitesten Kreisen unbekannten Trauerspiele zu beleben, die zu parodieren sich allerdings niemand die Mühe geben wird. Als der junge Löwe den Sang der Alten schließlich einfältig und abgeschmackt nannte, da protestierten verschiedene geduldige »Schafe« und Rufe, wie »Pfui«, »Besser machen!« machten dem »Parodisten« entschiedenes Mißfallen kund.« –

204 Natürlich war das eine ganz irrtümliche Auffassung von Gumppenbergs Absicht. Der Parodist will ja nicht verhöhnen, sondern nur das Charakteristische humorvoll herausheben. Als Blumauer seine »Aeneis« schrieb, hat ihm doch sicherlich nichts ferner gelegen als eine Verhöhnung des Vergil; und Fritz Mauthners »Nach berühmten Mustern« hatte man in ganz Deutschland herzlich belacht, ohne darin eine Verhöhnung der beliebten damaligen deutschen Dichter zu erblicken. Ja, Mauthner war auch einer der ersten, der Gumppenbergs »Parodieen« in Berlin warm anerkannte und namentlich diejenige auf Wilhelm Jordan als sehr gelungen bezeichnete.

          Nachtlied.
Lieg' ich weltbemäkelt
unlustabgeekelt
nachts im Grübelrausche,
bis ich, überrege
meiner Blutklopfschläge
Ticketon erlausche!

Müde dann der Pfühle
such' ich Schattenkühle
auf dem Windaltane,
wo aus Erdwehstreite
in die Milchstraßweite
ich hinaus mich ahne. –

Tausend Silberscharen,
Zitterflitt'rer, fahren
bess're Bundesbahnen:
klammernd klein dagegen
Sorgen, Singen, Segen,
Menschenplapperplanen!

Doch sogleich dem Kleinmut
folgt zu stolzem Mein Mut.
Allrat ließ ja reifen
auf dem Staubgestirne
Denkerdämmerhirne,
Selbst sich zu begreifen!

Ich glaube kaum, daß der große Meister des Stabreims sich durch dieses Scherzgedicht wird verletzt gefühlt haben. Auch würde man in dem Gumppenberg'schen Vortrag die Parodieen auf Geibel, Storm, Beck, Redwitz, Roquette, August Becker, Wolff, Heine, Dahn und Jordan gewiß nur »amüsant« gefunden haben, wenn nicht gleichzeitig auch die litterarischen Lieblinge Münchens: Lingg, Heyse und Greif parodiert worden wären. Das aber rief die ungegründete Erbitterung des Publikums wach, die sich nun in einem heftigen Zeitungskriege vielfach auch über die ganze Gesellschaft für modernes Leben ergoß. Um den vielfachen Mißdeutungen und entstellenden Berichten über die Reden am ersten Vortragsabende vorzubeugen, beschloß daher der Vorstand der Gesellschaft, die wichtigsten Vorträge im Druck herauszugeben. Als zwanglose »Münchener Flugschriften« erschien denn auch zunächst der Conrad'sche, der Bierbaum'sche und der Gumppenberg'sche Vortrag, dem sich als vierter eine klare und sachliche Rede Schaumbergers anschloß über die Volksbühne und das moderne Drama. Dieser Eifrigste aus dem Vorstand der Gesellschaft für modernes Leben hatte sie im Münchener Arbeiterleseverein gehalten zu dem Zweck, womöglich auch in der Isarstadt eine freie Volksbühne nach Berliner Muster ins Leben zu rufen. Später folgten Vorträge von Panizza über »Genie und Wahnsinn«, von Schwann »Zur geschichtlichen Entwickelung des Gottesbegriffs« und endlich von Conrad »Das Recht, der Staat, die Moderne«. Das fröhliche Leben des Fasching aber, das ja unmittelbar auf den Sturm des ersten 205 Gesellschaftsabends folgte, gab zweien der jungen Matadore Gelegenheit zu einem scherzhaften Kampfesmittel. Schaumberger dichtete ein langes humoristisches Gedicht: »Die Löwen und die Schafe«, und ließ dasselbe nach Art der Karnevalslieder auf rotem Papier drucken. Gumppenberg lief, als altes Bettelweib verkleidet, durch die Straßen Münchens und verteilte das Karmen.

Aber auf den Scherz sollte bald der Ernst folgen. Die ultramontane Presse Münchens richtete unter Führung des Münchener Fremdenblattes namentlich auf Grund von Gumppenbergs »Messias-Drama« gegen die ganze Gesellschaft öffentlich die Anklage des Atheismus. Vergebens erklärte Conrad in der »Augsburger Abendzeitung«, daß er für seine Person nicht auf dem Boden des Atheismus, sondern auf dem des Evangeliums stehe. Die katholischen Zeitungen legten ihm das nur als Feigheit aus, und das Münchener Fremdenblatt glossierte in ähnlichem Sinne (Nr. 61. 1891) auch eine gemeinsame Erklärung Schaumbergers und Bierbaums: daß sie persönlich den Standpunkt Dr. Conrads »auf dem Boden des Evangeliums nicht teilen, sich vielmehr zu allen Konsequenzen des modernen Gedankens auch auf diesem Gebiete bekennen, und daß die Gesellschaft für modernes Leben überhaupt kein Dogma aufstelle, welches es auch sei«. Auch Conrad erklärte in einer geschlossenen Mitgliederversammlung sein evangelisches Bekenntnis mit den Worten:

»Es sei dieses nicht dahin zu verstehen, als wäre er Anhänger irgend eines Dogmas, sondern die Lehren des großen Nazareners gelten ihm in einem viel weiteren Sinne als Richtschnur für die Bethätigung der allumfassenden Menschenliebe und des furchtlosen Strebens nach Wahrheit. Ebenso gut könnte er ähnliche Stellen aus dem Talmud oder von den großen indischen Religionsstiftern entlehnen.«

Als aber am zweiten öffentlichen Abend der Gesellschaft Gumppenberg in einem Vortrag über »die künstlerische Behandlung religiöser Stoffe« sein Messiasdrama vom ästhetischen Standpunkte aus mit sehr kräftigen Worten verteidigte, zog ihm der Zorn der katholischen Blätter eine Anklage wegen Gotteslästerung zu, die jedoch von der Staatsanwaltschaft bald wieder zurückgezogen wurde. Aber sein Schicksal ereilte ihn, als er einige Wochen später an einem anderen öffentlichen Vortragsabend ein stark sozialistisch gefärbtes Gedicht von Karl Henckell zum Vortrag brachte – nicht, wie er ausdrücklich erklärt hat, weil er den politischen Standpunkt des Gedichtes geteilt hätte, sondern weil er es zur Charakteristik jenes Dichters für unerläßlich hielt. Da nun die sozialdemokratische »Münchener Post« von Anfang an für die Gesellschaft für modernes Leben Partei genommen hatte, so glaubte man jetzt in weiten Kreisen, in jener Vereinigung eine staatsgefährliche politische Tendenz vermuten zu sollen. Zwar legte Gumppenberg sofort freiwillig sein Vorstandsamt nieder, aber das Vorurteil blieb noch eine Zeitlang bestehen, und er selbst büßte seinen objektiven litterarischen Vortrag mit einer mehrmonatigen Festungshaft. Ebenso identifizierte man seine religiösen Ansichten noch lange mit denen der Vereinigung, obgleich er sich innerlich immer mehr von dieser trennte. Als ein ehrlich ringender Gottsucher wandte er sich vorübergehend in seinem »Dritten Testament« (1891) dem Spiritismus 206 zu, um im nächsten Jahre in seiner »Kritik des wirklich Seienden« (1892) auf spekulativem Wege ein System eines gottesgläubigen Idealismus aufzustellen. Gerade in diesen Wendejahren Gumppenbergs war sein Nachfolger im Vorstande der Gesellschaft für modernes Leben in philosophischer Hinsicht sein ausgesprochener Gegner. Es war dies Oskar Panizza, geboren in Kissingen am 12. November 1853, der Verfasser der »Düsteren Lieder« (1884) und der »Londoner Lieder« (1887); ein scharfer Satiriker namentlich auf politischem und theologischem Gebiete. Mittlerweile hatte sich die Gesellschaft für modernes Leben auch ihr eigenes Organ geschaffen in der Zeitschrift »Moderne Blätter«, die vom 25. März 1891 ab wöchentlich erschien. Eingeleitet wurde sie durch ein Programm-Gedicht von Julius Schaumberger:

Modern! Modern! Was will das Wort denn sagen,
das heut von Mund zu Mund geschäftig fliegt,
mit lautem Weckruf stört das Wohlbehagen,
das träg an der Gewohnheit Kette liegt?
Was will es uns für neue Botschaft bringen,
was ist der Sinn, was ist des Pudels Kern?
Was will dies kühne, kampfesfreud'ge Ringen?
                                  Was ist modern?

Modern ist jener Drang zur Neugestaltung,
der rücksichtslos die alten Formen sprengt
und allem feind ist, was in der Entfaltung
des starken Geistes freie That beengt.
Modern ist jener Trieb, der eigenwüchsig
dem Bann der Ueberlief'rung widersteht
und sich nicht beugt in frommem Kinderglauben
dem Götzenzauber der Autorität.

Modern ist jener schönste aller Züge
in unserer Zeit freiblickendem Gesicht,
der Zug, aus dem der Ekel vor der Lüge,
aus dem die Liebe zu der Wahrheit spricht;
der alle Täuschung haßt und überwindet
der Schmeichelschönheit himmelblauen Dunst, –
der nur die Schönheit in der Wahrheit findet,
Wahrheit im Leben, Wahrheit in der Kunst. –

War es so der Gesellschaft gelungen, sich eine Zeitschrift zu schaffen, so gelang es ihr freilich nicht, eine »Freie Bühne« nach Berliner Muster zu gründen. Trotz mehrfacher Beschlüsse und Versuche scheiterte doch immer wieder die Aufführung, und auch Henrik Ibsen, der zum Ehrenmitglied derselben ernannt werden sollte, gab schließlich in den »Münchener Neuesten Nachrichten« den »Modernen« eine viel besprochene Absage. Wie sehr aber der große Norweger jetzt immer mehr in den Vordergrund der deutschen Litteraturbestrebung zu treten anfing, das zeigte sich um dieselbe Zeit in der großen alten deutschen Kunststadt an der Donau. 207

 


 


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