Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Erstes Buch.

Neue Propheten. – Gärungen und Wetterleuchten.

Erstes Kapitel.

Neue dichterische Anregungen in der Reichshauptstadt.

Im Jahre 1882 hatte Berlin ein dramatisches Ereignis zu verzeichnen, wie man es lange nicht erlebt hatte. Zwar war es nicht im Königlichen Schauspielhause zur Wahrheit geworden, denn dort schlief das litterarische Interesse. Auch die Berliner Kritik hatte es nicht erweckt; denn wir wissen, daß diese nur nach einer Wiederbelebung des Lustspiels verlangte. Aber tief im Innern der Altstadt Berlins, zwischen dem Alexanderplatz und dem Rosenthaler Thor, in der Münzstraße sah der alte große Bau des Victoriatheaters plötzlich allabendlich die ganze geistige Welt Berlins in seinen Mauern. Die »Karolinger« hieß das geschichtliche Schauspiel in stürmischen Jamben und in wuchtigen Szenen, das aller kritischen Vorhersagung zum Trotze nicht nur den Jubel der Beschauer hervorrief, sondern auch die Kasse des vergessenen Theaters füllte. Und Direktor Scherenberg, der hier mit dem Wagnis dieses Stückes dem trägen Königlichen Schauspielhause mit einem Schlag den Rang abgewonnen hatte, durfte an diesem Tage seinen Namen in die Litteraturgeschichte einschreiben; denn er hatte eines der stärksten deutschen Bühnentalente aus vergeblichem jahrzehntelangen Ringen nach Anerkennung erlöst. Der Name des Dichters aber, der jetzt erst weiteren Kreisen wirklich bekannt wurde, ward nun auch sogleich in ganz Deutschland genannt.

Kaum konnte man es für möglich halten, daß dieser Mann so lange auf eine Aufführung hatte warten müssen, denn nicht nur brachte er in seiner Begabung alles mit, was zum mindesten einen äußerlichen Erfolg verbürgen mußte, sondern auch seine Familienbeziehungen schienen ihm von vornherein die Hoftheater zu öffnen; und doch war gerade das Gegentheil der Fall gewesen.

Ernst von Wildenbruchs Vater war Generalkonsul in Beirut in Syrien gewesen, als ihm sein Söhnlein Ernst geschenkt wurde. Später kam er als 15 Gesandter nach Athen und Constantinopel. Und dieser hohe Staatsbeamte selbst stand in nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Königshause, dem er an so hervorragender Stelle die Arbeit seines Lebens gewidmet hat. So darf Ernst von Wildenbruch selbst für einen Sproß aus Hohenzollernstamm gelten. Und treu den Gepflogenheiten preußischer Adelsfamilien, wurde er für den Dienst der Waffen bestimmt. Er hatte bis dahin einen wechselreichen Bildungsgang durchgemacht. Mit zwölf Jahren war er zugleich mit den Eltern nach Deutschland zurückgekehrt. Dann hatte er erst das Pädagogium in Halle und darauf das französische Gymnasium in Berlin besucht. Endlich hatte man den vierzehnjährigen Knaben (geb. 3. Februar 1845) in das Kadettenhaus zu Potsdam gebracht, und nun sah er sich von selbst in die Laufbahn gedrängt, in die er als junger Leutnant im ersten Garderegiment eintrat gleich seinen beiden Brüdern. Doch schon nach zwei Jahren nahm er seinen Abschied, um sich in Magdeburg zum Abiturientenexamen vorzubereiten. Denn ihn lockte jetzt das Studium. Und für den preußischen Junkersohn, dem der Waffenrock nicht zusagt, ist ja die Laufbahn des höheren Beamten die zweite Möglichkeit, den Ueberlieferungen treu zu bleiben. Aber schon im nächsten Jahre eilte er wieder zu dem Heere, denn gerade damals entbrannte ja der deutsche Bruderkrieg. Heimgekehrt aus dem Feldzuge von sechsundsechzig, setzte er in Berlin sein Studium fort. Den jungen Referendar aber rief der siebziger Krieg wieder zu den Waffen. Drei Jahre später gab er seine epischen Gesänge heraus: »Vionville« und »Sedan«. Hoher Schwung der Sprache und glühende Vaterlandsliebe zeigten sich schon hier, aber man merkte diesen flammenden Versen und der bewegten Handlung schon an, daß der Verfasser nicht eigentlich für das Epos bestimmt sei. Es fehlte die Ruhe der behaglich fortschreitenden Erzählung. Statt ein zusammenhängendes, lebensvolles Bild der Schlacht von Sedan zu geben, wird die Handlung zu drei vereinzelten Bildern auseinandergetrennt, und allzu oft überschwemmt das Gefühl und das Pathos des Dichters verwirrend den schlichten Gang der Erzählung. Und das gleiche gilt von dem geistreichen Gedicht: »Die Söhne der Sibyllen und Nornen«, das die beiden Rassen der romanischen und germanischen Völker in ihren Eigentümlichkeiten einander gegenüberstellt. Alle diese Dichtungen wie auch die »Lieder und Gesänge« vermochten auch nicht den stürmischen Sänger in den Vordergrund des Tages zu heben, wiewohl »Sedan« bald eine zweite Auflage erlebte. Er verfolgte indessen seine Laufbahn weiter. Nachdem er eine Zeitlang als Assessor in Frankfurt a./O. thätig gewesen war, wurde er im Jahre 1877 in das auswärtige Amt des Deutschen Reiches berufen. Das erste, was die Oeffentlichkeit wieder von ihm erhielt, war die Künstlergeschichte »Der Meister von Tanagra« – in seiner Art ein kleines Meisterwerk. Mit feinster Seelenmalerei ist hier dem unbekannten Künstler nachgespürt, der die kleinen »Tanagrafiguren« geschaffen hat, jene genialen Nippesgestalten, die sich neben den gewaltigen Offenbarungen der großen griechischen Meister so seltsam ausnehmen. Lebensvoll erfindet Wildenbruch die Geschichte eines bescheidenen jungen Künstlers, der neben dem kraftgenialen Praxiteles als schlichter Meisterschüler vergebens nach 16 seiner eigenen Kunstentfaltung ringt. Die übergewaltige Sinnlichkeit des großen Meisters erdrückt ihn, der nichts von solcher Sinnenglut in sich verspürt. Des Meisters schöne Freundin Phryne, in ihrer alles begeisternden Nacktheit so urgewaltig von Praxiteles dargestellt, bleibt ihm ein Rätsel: das wilde Treiben bei den Orgien der jungen Künstler von Athen stößt ihn ab – von allen gemieden und verachtet schleicht er sich mit einem stillen Mädchen davon, und in der friedlichen Einsamkeit der Natur, wie er längst auf allen Ruhm und alle Größe verzichtet hat, findet er, von tiefer innerlicher Liebe leise und sanft erwärmt, die so lange vergeblich gesuchte Eigenart – indem er halb unbewußt und wie im Traume die erste jener kleinen, wunderbar feinen, ganz unsinnlichen Gestalten formt, die – wenn auch nicht seinen Namen – so doch seine Kunst unsterblich machen sollten.

Zweifellos hat Wildenbruch solche Dichtungen auch sich selber zum Trost geschrieben bei seinen ewigen Mißerfolgen. Sandte doch einst der General-Intendant des Hoftheaters in Karlsruhe dem mahnenden Dichter seine Werke mit dem liebenswürdigen Todesurteile zurück: er sei nun einmal kein Dramatiker und solle sich das Leben nicht mit falschen Hoffnungen verbittern. – Aber daß er ein echtes Dichterherz in der Brust trug, das bewies Wildenbruch in den Augenblicken der Enttäuschung, wenn er seinen tiefen Schmerz, aber auch seinen unbeugsamen Mut poetisch aussprach, etwa in der Ballade »Der Emir und sein Roß«. Ein Emir ist im Kriege schwer verwundet worden und liegt in tiefer todesähnlicher Betäubung. Da erfährt seine Tochter von dem Arzte folgendes: Der Vater kann gerettet werden, wenn er nach seinem Erwachen nie mehr etwas von seinem früheren Lebensberufe erfährt; sobald aber wieder einmal Schlachtensehnsucht und Thatendrang die Seele des kranken Mannes erregen, dann muß er sterben. Und so pflegt die Tochter ihn denn und sorgt dafür, daß der genesende Greis den Vergessenheitstrank schlürft und in einem stillen Garten sorglos dahinlebt. Aber ihn quält das dunkle Gefühl, daß ihm etwas fehle. Und wie er einmal wieder sein treues Schlachtroß wiehern hört:

»Da am Herzen brachen strömend
auf die Wunden, sterbend sank er,
in den Armen hielt ihn klagend
Gülnahar, doch er mit Lächeln
sprach; »Nun fand ich das Verlor'ne –
    weine nicht – ich bin gesund.« –

Mit dem »Emir« meint Wildenbruch sich selbst. Auch er soll auf Thatendrang und Dichterschaffen verzichten, um still und äußerlich glücklich lange leben zu dürfen, aber auch er weiß, daß er den Tod im ehrlichen Kampfe vorziehen würde. In wie reinen und edlen Versen spricht er sich selber Mut zu in dem schlicht schönen Liede: »Trost in Hoffnungslosigkeit«, aus dem noch heute Hunderte in gleicher Lage Erhebung und Stärkung schöpfen mögen. Nachdem er erst in gläubigem Vertrauen von einer späteren Vergeltung im Jenseits gesprochen hat, sagt er: 17

»Heil dem, der reines Sehnen
in tiefer Seele trägt
und es, wenn auch in Thränen,
ehrfürchtig hegt und pflegt.

Wohl drückt Erfolg dem Leben
aufs Haupt den blüh'nden Kranz,
mehr als Erfolg ist Streben,
und Echtheit mehr als Glanz.

Viel besser, sagen können:
Mehr bin ich, als ihr wißt,
als schamvoll zu bekennen,
daß man zu hoch dich mißt.

Verklein'rung schlägt die Zähne
ins schönste Menschenwerk;
heut' stehst du hoch, doch wähne,
bald geht's hinab den Berg.«

So trug Wildenbruch sein Ideal treu im Herzen, in Frankfurt a./O., wo schneidige Kollegen des Jambendichters heimlich spotten mochten, und in Berlin, wo es ihm oft nicht besser erging. Eines der wenigen Häuser, wo man ihn früh erkannte, war das der Schriftstellerin Elise von Hohenhausen in Berlin. Diese geistreiche Greisin ragte in die Weltstadt hinein, wie eine Erscheinung einer hingeschwundenen Epoche. Hier blühte noch in stiller Verborgenheit der »litterarische Salon«, der am Anfange des 19. Jahrhunderts Berlin beherrscht hatte. In ihrem großen, altertümlich vornehmen Saale in der Landgrafenstraße sammelte die weißhaarige, liebenswürdige Frau mit dem Ansehen einer Hofdame mit warmem Herzen und schöngeistigem Streben eine geistige Aristokratie um sich, und besonders Prinz Georg von Preußen – als Dichter, wie ja bekannt, Conrad genannt – las dort gern seine Poesien vor. Das Gleiche that nun dort auch Ernst von Wildenbruch, aber er teilte mit seinem großen Vorbilde Schiller die Eigenschaft, ein schlechter Vorleser seiner eigenen Werke zu sein, und oft genug mieden zahlreiche Gäste des Hauses den »Salon«, wenn der allzufeurige Dichter seine Verse herunterstürmte.

Ganz von selbst wurde er dafür sozusagen zum Haupte einer Gruppe von aufstrebenden Litteraten. In einer gemütlichen italienischen Weinstube traf er sich häufig mit Verehrern und Freunden. Darunter sind vor allen die beiden Brüder Heinrich und Julius Hart zu nennen. Diese beiden Unzertrennlichen sind vier Jahre in ihrem Alter auseinander. Heinrich wurde am 30. Dezember 1855 in Wesel, Julius am 9. April 1859 zu Münster in Westfalen geboren. Geschichte, Philosophie und neuere Sprachen hatte der Aeltere in Münster, Halle und München studiert, bis zur Erlangung des Doktorgrades. Der Jüngere hielt auf der Berliner Hochschule nicht einmal seine sechs Semester aus, ehe er sich dem älteren Bruder gleich in den Journalismus stürzte. Im Jahre 1878 waren beide Brüder in Bremen, wo sie die einige Jahre vorher von Oskar Blumenthal begründeten »Neuen Monatshefte für Dichtung und Kritik« übernahmen und als »Deutsche Monatsblätter« fortsetzten. Hier hatten sie auch Ernst von Wildenbruchs Tragödie »Harold« zum Abdruck gebracht, und in Berlin fühlten sie sich als seine treuen Streitgenossen. Die Poesie in den Dienst des Idealen zu stellen, war das Programm auch für die beiden Brüder, und so waren sie – damals wenigstens – beide weit davon entfernt, dem sogenannten »Naturalismus« das Wort zu reden. Sie kämpften nur gegen Weichlichkeit und 18 Verschwommenheit, denn sie wußten und verkündeten, daß auch Homer und Shakespeare die kraftvolle und naturwahre Schilderung der menschlichen Leidenschaften nicht nur nicht für ein Widerspiel des Poetischen, sondern ganz im Gegenteil erst für die wahre Erfüllung des Dichterischen gehalten hatten. Aber gleichzeitig wußten und verkündeten sie ebenfalls, daß plumpe, ungeschlachte Nachahmung der Alltäglichkeit das Wesen der Dichtung in höherem Sinne des Wortes nicht ausmachen kann. Sie selbst hatten sich als Poeten eingeführt, jeder durch eine Sammlung formvollendeter Lieder. »Weltpfingsten« hatte Heinrich die seine genannt (1872) und ausdrücklich auf dem Titel schon hinzugefügt: »Gedichte eines Idealisten«. Julius hatte sein Buch frei nach Schopenhauer »Sansara« getauft (1879). Sein Lebensprogramm ruft der ältere dem jüngeren zu in dem Liede:

      Meinem Bruder Julius.

    (1880. Musenalmanach für 1881.)

»Aus einem Stamm entsprossen,
von einer Erde genährt,
auf Leben und Tod Genossen,
von einer Glut verklärt –
so stehen wir bei einander
Schulter an Schulter gelehnt,
so führen wir aus selbander,
was jeder von uns ersehnt.

Ohne dich, du lodernd Feuer,
erstarrte mir Hirn und Blut, –
aus der Hand sänk' mir das Steuer,
spräch' mir dein Mund nicht Mut.
Ja, wir gehören zusammen,
wie Wind und Wellenschlag,
wie Himmel und Sternenflammen,
wie der Wald und der schäumende Bach.

Wir haben uns nichts geschworen,
kein Blutbund ging vorauf,
wir sind zu eins geboren,
ein Quell, zwei Ströme, ein Lauf.
O Bruder, was auch das Leben
für uns ernstwebend schafft:
eins, eins sei unser Streben,
doch zweifach unsre Kraft.

Rings drängt soviele Kleinheit
in tausend Herzen sich,
wuchernd prahlt rings Gemeinheit,
alle Sehnsucht schier erblich,
alle Sehnsucht nach des Schönen
unwandelbarem Licht,
nur Schwerter hör' ich dröhnen,
helle Lieder hör' ich nicht.

O Bruder, da gilt's zu ringen
einig mit zwiefacher Kraft, –
dann werden wir Balsam bringen
jeder Wunde, die fiebernd klafft,
dann werden mit brennenden Lettern
unsre Namen wir zeichnen ein
der Geschichte rauschenden Blättern
und in der Herzen Schrein.«

Als eine Probe von des Jüngeren Dichtergabe sei das charakteristische Lied hergesetzt, das den Empfindungen eines Reichsdeutschen Ausdruck verleiht, der zum erstenmal sich der Hauptstadt nähert: 19

            Auf der Fahrt nach Berlin.

»Von Westen kam ich, – schwerer Haideduft
Umfloß mich noch, vor meinen Augen hoben
sich weiße Birken in die klare Luft,
von lauten Schwärmen Krähenvolks umstoben,
weit, weit die Haide, Hügel gelben Sands,
und binsenüberwachs'ne Wasserwolke,
fern zieht ein Schäfer in des Sonnenbrands
braunglühendem Reich verträumt mit seinem Volke.

Von Westen kam ich, und mein Geist umspann
weichmütig rasch entschwund'ne Jugendtage.
War's eine Thräne, die vom Aug' mir rann,
klang's von dem Mund wie sehnsuchtsbange Klage? . . .
Von Westen kam ich, und mein Geist entflog
voran und weit in dunkle Zukunftsstunden . . .
Wohl hob er mächtig sich, sein Flug war hoch
und Schlachten sah er, Drang und blut'ge Wunden.

Vorbei die Spiele, durch den Nebelschwall
des grauenden Septembermorgens jagen
des Zuges Räder, und vom dumpfen Schall
stöhnt, dröhnt und saust's im engen Eisenwagen . . .
Zerzauste Wolken, winddurchwühlter Wald
und braune Felsen schießen wirr vorüber;
dort graut die Havel, und das Wasser schwallt
die Brücke, hei! Dumpf braust der Zug hinüber.

Die Fenster auf! Dort drüben liegt Berlin!
Dampf wallt empor und Qualm, in schwarzen Schleiern
hängt tief und steif die Wolke drüber hin,
die bleiche Luft drückt schwer und liegt wie bleiern . . .
Ein Feuerherd darunter – ein Vulkan,
von Millionen Feuerbränden lodernd, . . .
Ein Paradies, ein süßes Kanaan, –
ein Höllenreich und Schatten bleich vermodernd.

Hindonnernd rollt der Zug. Es saust die Luft,
ein and'rer rast dumpfrasselnd rasch vorüber,
Fabriken rauchgeschwärzt, im Wasserduft
glänzt Flamm' um Flamme, düster, trüb' und trüber,
engbrüst'ge Häuser, Fenster schmal und klein,
bald braust es dumpf durch dunkle Brückenbogen,
bald blitzt es unter uns wie grauer Wasserschein,
und unter Kähnen wandeln müd' die Wogen.

Vorbei, vorüber! und ein geller Pfiff!
Weiß fliegt der Dampf, . . ein Knirschen an den Schienen!
Die Bremse stöhnt laut unter starkem Griff. . . .
Langsamer nun. Es glänzt in aller Mienen!
Glashallen über uns, rings Menschenwirr'n, . . .
Halt! Und »Berlin!« Hinaus aus engem Wagen.
»Berlin!« »Berlin!« Nun hoch die junge Stirn,
ins wilde Leben laß dich mächtig tragen. 20

Berlin! Berlin! Die Menge drängt und wallt,
wirst du versinken hier in dunklen Massen . . .
und über dich hinschreitend stumm und kalt
wird niemand deine schwache Hand erfassen?
Du suchst – du suchst die Welt in dieser Flut,
suchst glühende Rosen, grüne Lorbeerkronen. . . .
Schau dort hinaus! Die Luft durchquillt's wie Blut,
es brennt die Schlacht, und niemand wird dich schonen.

Schau dort hinaus! Es flammt die Luft und glüht,
horch, Geigenton zu Tanz und üpp'gem Reigen!
Schau dort hinaus, der fahle Nebel sprüht,
aus dem Gerippe nackt herniedersteigen. . . .
Zusammen liegt hier Tod und Lebenslust
und Licht und Nebel in den langen Gassen – – –
Nun zeuch hinab, so stolz und selbstbewußt,
welch' Spur willst du in diesen Fluten lassen?«

Als eigentlicher Lyriker fühlte sich wohl der jüngere; während der ältere damals schon den Plan zu einem Epos in seinem Geiste wälzte, das eine Entwickelungsgeschichte der ganzen Welt auf Grund der Erfahrungen der Naturwissenschaften in poetischem Gewande geben sollte. Von diesem »Lied der Menschheit« werden wir später noch hören.

So boten sich damals Berührungspunkte zwischen allen denen, welche der Poesie große Ziele stecken wollten. Ein Mann, den die Jugend vielfach besonders verehrte, war der Graf von Schack, der Schöpfer der eigenartigen Bildersammlung in München, der poesievolle Erforscher Spaniens, der formreiche Dichter der Nächte des Orients und der Weihegesänge. Ein echter Idealist in jedem Zoll seines Wesens, der niemals ein großes Publikum um sich zu scharen verstanden hatte! Nun aber entflammte die Jugend für ihn, die wieder hungrig war nach einer größeren Kunst, und, alle Gegensätze in sich vereinigend, freute dieselbe Jugend sich an der derben Kraft des Züricher Professors Scherr, weil dieser keinen Autoritätsglauben kannte, weil er jedes Ding beim rechten Namen nannte, weil er mit Kraftworten dareinwetterte und kein Blatt vor den Mund nahm, um das deutlich zu bezeichnen, was er brandmarken wollte; und weil er, der freilich stark manierierte Jünger des großen Carlyle, in all' seiner nackten Ausdrucksweise 21 und oft unwissenschaftlichen Kraßheit doch ein Verfechter des idealen Standpunktes war. Kraft wollte man und nochmals Kraft! Man war »des trocknen Tones« satt. Leidenschaft wollte man und Feuer! Weihe wollte man und Größe! Gerade gegen den Realismus der älteren Generation wandte man sich, weil er zu nüchtern war. Aber den neueren Singsang wollte man auch nicht, weil er zu kraftlos und gedankenarm war! Da lobte man den alten Friedrich Vischer, den letzten großen Schüler des Philosophen Hegel, wie er mit seinem Aufsatz über »Mode und Cynismus« (1879) dareinfuhr mit beißendem Spott. Man stützte sich auf sein »Lehrbuch der Aesthetik oder der Wissenschaft des Schönen«, weil er nicht in der Form, sondern im Gehalt das Wesen der Kunst erblickte. Man lachte mit seinem tollen geistsprühenden Roman »Auch Einer« (1878), weil er von Eigenart und Gedanken blitzte!

Ja, man lachte gern mit den Spöttern, die bei den Tagesgrößen die Achillesfersen aufdeckten. Mit Windesschnelle verbreitete sich durch ganz Deutschland Fritz Mauthners übermütige Satire »Nach berühmten Mustern«. Hier fand man der Reihe nach alle Berühmtheiten auf dem modernen Parnaß mit Geist und Satire karikiert. Und man wollte ja Neues. Das sollte Großes und doch Wahres sein. Nicht mehr die Ausmalerei des Kleinen, nein, den kühnen Schwung wünschte man wieder zu hören. Allgemeine Gesetze und Normen stellte man nicht nur nicht auf, sondern man bekämpfte sie grundsätzlich. Jeder starken Persönlichkeit sollte die Bahn freigemacht werden. Das war im allgemeinen auch die Absicht der Brüder Hart, als sie im Jahre 1882 ihre »Kritischen Waffengänge« herauszugeben anfingen (bis 1884). Der Titel war Vischers dreißig Jahre älteren »Kritischen Gängen« nachgebildet. – Dies Verlangen nach Kraft und Ursprünglichkeit war es, das die Brüder auch mit Ernst von Wildenbruch zusammengeführt hatte.

Doch ein weit dankbareres Publikum fand Wildenbruch noch bei den akademischen Jünglingen. Mit ihnen verband ihn am meisten seine starke Vaterlandsbegeisterung. Die Berliner Universität war jetzt von einer Generation bezogen worden, die zu der begeisternden Zeit des siebziger Krieges eine eindrucksfähige Knabenschar gewesen war. Nun schwärmten sie jubeltrunken von Vaterland und Kaiser. Es bildeten sich die Vereine der sogenannten »Deutschen Studenten«, die damals christlich-nationale Gedanken vertraten und dem geschichtlich bekannten Wartburgfest mit seiner liberal-revolutionären Tendenz am Anfange des 22 Jahrhunderts nun ein studentisches Kyffhäuserfest entgegenstellten. Die Burg, auf der einst der Kämpfer für Glaubensfreiheit Schutz gefunden hatte, war der Sammelpunkt für die protestierende Jugend von damals gewesen, die sich im Kampfe gegen die verfinsternde Reaktion dem großen Reformator verwandt gefühlt hatte. Die studierende Jugend der achtziger Jahre wählte die Burg des gleichsam wiedererwachten Barbarossa zu ihrem freiwilligen Treuschwur für Kaiser und Reich.

Studenten waren es daher auch, die zum erstenmal ein Gelegenheitsstück von Wildenbruch zur Aufführung brachten, sogar vor den Augen des greisen Kaisers. Aber eine wirkliche Bühne erschloß sich darum dem Dichter doch noch nicht. Es bildete sich aus der Studentenschaft ein akademisch-litterarischer Verein, in dem Wildenbruch anfangs sehr geehrt wurde. Allerdings wurde dieser Verein bald stark beeinflußt durch die Universitäts-Professoren, wenigstens durch deren Anschauungen. Nun war damals Wilhelm Scherer über Straßburg nach Berlin berufen worden (1877), wo er mit seiner ganzen anregenden Persönlichkeit bald einen mächtigen Einfluß zu entwickeln begann. Er hatte mit seinen Studien »Zur Geschichte der deutschen Sprache« philologisch sehr anregend gewirkt, hatte dann die mittelalterliche Litteraturgeschichte sehr gefördert und nun, während er seine »Geschichte der deutschen Litteratur« bis zu Goethes Zeit schrieb, wandte er sich der Goethe-Forschung zu. So konnte Hermann Grimm seine Goethe-Vorlesungen einstellen, gab sie aber als Buch heraus (1876), und trotz aller geistreichen Bemerkungen über den Altmeister mußte es vorurteilsfreie Leser oft verletzen durch die heftigen Aeußerungen gegen Schiller, der hier als blinder Nachschreiber, ja als Hemmschuh Goethes hingestellt und sogar in seinem Charakter persönlich verdächtigt wird. Dieser kleinliche Kampf gegen Schiller griff mehr und mehr um sich. Sogar in der fernen Schweiz erzürnte das den wackeren Gottfried Keller: »Wenn die einseitige Lobpreisung Goethes so weiter gehe – meinte er zu einer Zeit, da Schiller stark hinter jenem zurücktreten mußte –, so fange er eine Verschwörung an.«Vgl. Baechtold, Gottfried Kellers Leben, kl. Ausgabe, Berlin 1898. Ja, obgleich Scherer selbst sich von solcher Einseitigkeit fernhielt und in seiner Litteraturgeschichte sogar sehr warme Worte für Schiller fand, so gingen seine jungen Schüler doch über alles Maß hinaus. Ich weiß noch, wie ich damals als junger Student von einem jungen Germanisten gleich bei meiner Vorstellung mit den Worten begrüßt wurde: »Ich bin einer der größten Schillerfeinde!« Und der Schererschüler Otto Brahm nannte sich selbst einen »Schillerhasser«. Durch diese Entwürdigung des Wallensteindichters wurde zwar die Bewunderung für ihn bei der Jugend eingeschränkt, aber durch überschwängliches Lob wurde ihr auch Goethe vielfach verleidet. – Ja – nachdem man ein Jahrzehnt lang vom Katheder Schwung und Pathos verpönt hatte, errang gerade ein pathetisches Drama den denkbar größten Sieg.

Wildenbruch hatte es endlich erreicht – in seinem neununddreißigsten Lebensjahre wurde er zum ersten Male aufgeführt. Der kunstsinnige Herzog Georg von Meiningen hatte zuerst die »Karolinger« zum Leben erweckt, und nun 23 hatten sie unter Direktor Scherenberg ihren Einzug in das Zentrum Berlins gehalten.

Der beifalltobenden Menge gegenüber standen die Kritiker ratlos da. Nun war es immer noch kein Stück aus dem modernen Leben, und doch wirkte es mehr als jedes solche, ja es wirkte mit elementarer Gewalt. Man mochte die Köpfe schütteln über diese sprunghafte Charakteristik, über diese daherstürmende Ueberfülle von Handlung, über diese donnernden Effekte – das alles war der Jugend eben recht. Sie hatte sich so lange nach Bildern mit kühnem Pinselstrich gesehnt, nach männlicher Ueberkraft – hier hatte sie das alles in verschwenderischer Fülle!

Unter dem Drucke der öffentlichen Meinung mußte das Königliche Hoftheater endlich nachgeben. Herr von Hülsen, der Intendant, kapitulierte vor Herrn von Wildenbruch, dem Führer der jungen Herzen. Die »Karolinger« hielten aus dem fernen Stadttheater ihren Einzug in das Königliche Schauspielhaus, und wie ein Sturzbach ergoß sich nun die Fülle der so lange schlummernden Manuskripte des Dramatikers über die deutschen Bühnen.

Nun traten allmählich Vorzüge und Schwächen des neuen Mannes ins vollste Licht. Schon an den »Karolingern« konnte man beide erkennen. Die Vorzüge zeigen sich in der Bewältigung des Stoffes. Wie treten die Personen durch die große Erbschaft in ihren Gegensätzen hervor: Die karolingischen Brüder in ihren Altersstufen, der schwache Vater in seiner schwankenden Ohnmacht, seine zweite Frau in ihrer einseitigen Mutterliebe –: Herzog Bernhard als der Ueberlegene, der dem Kampfe zusieht, um über alle die mehr oder weniger Berechtigten zu siegen als der Einzige, der gar kein Recht hat, aber die überlegene Kraft; und ihm gegenüber die Verkörperung der Reichsidee in dem Bischof Wala. Und wie schwillt dieser Gegensatz an in der Reichstagsszene des zweiten Aktes, wo zuletzt die Völkerscharen aufeinander stürmen, verscheucht von dem alles überwachsenden Manne der Kraft. Wie zertritt dieser im dritten Akte Schritt für Schritt alle reinen Gefühle im Hause des frommen Ludwig, bis er in seinem kahlen Egoismus groß und dennoch glücklos dasteht; und wie naturgemäß muß im vierten Akte alles im Blute ertrinken! Wie reißt das alles fort bei einer ersten Aufführung – und doch – wie kalt läßt es uns bei einer Wiederholung oder gar beim Lesen. Es ist mit das Sonderbarste, was die dramatische Litteratur kennt: das vollständige Skelett eines Dramas von Shakespearescher Größe und Schillerscher Technik – aber eben nur ein Skelett. Es ist der direkte Gegensatz etwa zu einem Goetheschen Tasso: Hier nur Seelenhandlung, die sich fast nie zu Thaten auswächst – dort die gewaltige Ueberfülle äußerer Handlungen, die sich wunderbar planmäßig aufbaut, aber sich fast nie in den Seelen der Handelnden vorbereitet – nie in ihnen nachzittert. Alle diese Personen handeln wie gewaltige Schattengestalten, wie bewegte Riesenkörper – die Seele scheint ihnen überhaupt zu fehlen. – Das bessert sich schon wesentlich im »Harold«. Unübertrefflich ist wieder der Aufbau. Wie scharf prägt sich der Gegensatz zwischen Normannen und Sachsen aus, wie gewaltig wächst der junge Harold, wie er in seinem leidenschaftlichen Vaterlandsgefühl allen Versuchern sein »Nein« entgegensetzt, schließlich dem König 24 selbst – bis er in genialem Trotz mit seiner Mutter ins sichtbare Verderben rennt, um gerade dadurch zum Sieger zu werden. Wie spielend leicht verbindet die Geschichte von dem geraubten jüngeren Bruder England und die Normandie – und doch, wie überschlägt sich der Charakter Harolds vollständig, wenn er dem Normannenkönig, um die Hand seines Töchterleins zu gewinnen, den verräterischen Eid schwört, ohne sich um seinen Inhalt zu kümmern – er, der bisher für nichts gelebt, als für sein Vaterland! Gewiß sind die Szenen großartig, in denen der Heimgekehrte mit Bewußtsein den erschlichenen Eid bricht, von seinem Volke verlassen wird und endlich in der Schlacht von Hastings stirbt. Aber fühlt es denn der Dichter nicht, daß diese Figur alles Leben verloren hat mit dem Augenblick, wo jener unerhörte Leichtsinn beim Eidschwur ihr Wesen in das Gegenteil umwandelte? Man hat beständig den Eindruck, als ließe Wildenbruch sich nicht die Zeit, seine immer gut angelegten Charaktere sich auch in der Folge ruhig ausreifen zu lassen; als sei er von der fieberhaften Angst gepeinigt, das Interesse könne für einen einzigen Augenblick erlahmen, wenn die Handlung nicht unablässig von einem Effekt zum andern jage. Und doch ist ihm in diesem Stück schon ein Charakter mit ganzer voller Seele gelungen: der König Eduard, der alte grübelnde Schwächling, der zu weich ist, um ein wirklicher Verbrecher, zu charakterlos, um ein starker Fürst zu sein, und in dem selbst das Gute nur als Feigheit erscheint. – Man sah aber bald, daß Wildenbruch bemüht war, die Schwächen seiner Begabung auszutilgen; im »Mennonit« wählte er absichtlich einen recht einfachen Stoff, in naheliegender Zeit – aus dem Anfange des Jahrhunderts. Die Mennonitengemeinde steht mit ihrer stillen, friedfertigen Brüderlichkeit, aber auch in ihrer vaterlandslosen Gleichgültigkeit dem beginnenden Befreiungskampfe gegenüber. Der junge Mennonit Reinhold, der die Welt gesehen hat, und dessen Herz für sein Vaterland schlägt, kann den Schmerz nicht überwinden, daß er – nach dem Gesetz seiner Gemeinde – einen französischen Offizier nicht zur Rechenschaft ziehen darf, der ihm eine Schmach angethan hat; und endlich findet er Trost im Tode fürs Vaterland. Hier sind die meisten Figuren auch in den Regungen ihrer Seele fein gezeichnet, und lebensvoll entwickeln sich der Held und seine Geliebte. Aber doch greifen noch so viel Aeußerlichkeiten als Motive maschinenmäßig in die Handlung ein: ein Schlüssel, der unter einer Bibel verborgen ist! eine Hausthür, die sich nicht öffnen läßt! Nur aus den inneren Seelenstimmungen leitet der große Dichter seine ganzen Beweggründe her, nicht aus Schlössern und Riegeln! – Aber unverkennbar war auch in dieser Hinsicht das Vorwärtsstreben Wildenbruchs: er wollte eine reine Seelengeschichte ohne allen äußeren Apparat schreiben und wählte sich dazu einen modernen Stoff: »Opfer um Opfer« zeigt uns zwei Schwestern, die einen Mann lieben – erst opfert sich die eine, dann die andere. Zweifellos ist diese Stoffwahl die denkbar unglücklichste. Was spielt denn der Mann dabei für eine traurige Rolle? Die Schwestern, die sich für einander opfern, opfern damit auch immer die Herzenswünsche des Geliebten. Es ist aber keine Schande für Wildenbruch, daß er mit einem Stoff verunglückte, mit dem auch Lessing und Goethe – in der »Miß Sarah Sampson« und in der »Stella« – keine Meisterwerke schaffen 25 konnten. Auch war Wildenbruch hier auf ganz modernem Gebiete zu sehr von alle den Hilfsmitteln verlassen, die bisher seine treuesten Verbündeten gewesen waren. Darum that er wohl daran, sein nächstes Seelendrama wieder auf historisches Gebiet zu verlegen: Schon der Romantiker Ludwig Tieck hat einmal den englischen Dichter Christof Marlow zum Helden einer Novelle gemacht, und ihn für seine Sünden dichterisch dafür gestraft, daß er ihn erleben ließ, wie sein eigener Ruhm vor dem des größeren Shakespeare versinken muß. Das ist auch der Grundgedanke in Wildenbruchs Stück, und schon darum sprach diese Charaktertragödie die damalige Jugend am meisten an. Die Kritik freilich nahm sie am ärgsten mit, denn die Kritik war auch in dem Stücke scharf mitgenommen worden in einigen karikierten Figuren, von denen eine den satirischen Ausspruch thut: »Ein Rezensent, das ist ein Mann, der alles weiß und gar nichts kann.«

Die maßgebenden Berliner Kritiker waren nun damals nach der Schätzung des Publikums noch immer Karl Frenzel und Theodor Fontane. Dieser wurde damals als Dichter noch wenig beachtet, obgleich seine Balladen vom »Ziethen aus dem Busch« und vom »Prinzen Louis Ferdinand« seit den sechziger Jahren in aller Munde waren; obgleich seiner wundervollen Ballade »Douglas« längst Loewes Musik die Unsterblichkeit verliehen hatte. In Berlin schätzte man ihn am meisten wegen seiner prächtigen »Wanderungen durch die Mark«, die zum erstenmal die stillen, aber großen Schönheiten dieser geschichtlich nun so bedeutungsvoll gewordenen Landschaften aller Welt darlegte. Daß der greise Poet dazu berufen sei, während der letzten zehn Jahre seines Lebens noch eine bedeutende Rolle in der Litteratur der Jugend zu spielen, das ahnte damals gewiß niemand.

Vorläufig saß der soldatisch große Mann, der seit dem Jahre 1870 seinen Posten als Redakteur des englischen Teils der »Kreuzzeitung« aufgegeben hatte, fast allabendlich im Königlichen Schauspielhause, um Theaterberichte für die »Vossische Zeitung« zu schreiben. Und er schrieb sie wie ein guter alter Onkel, der sich's im Schlafrock im Sorgenstuhl am Kamin bequem macht und so recht gemütlich seinen Neffen etwas vorplaudert. Manchmal mischte er einen burschikosen Berliner Witz oder ein Gleichnis von jener drastischen Anschaulichkeit dazwischen, wie es die Berliner lieben. Auch er war ein Realist wie Frenzel, nur mit dem Unterschied, daß jener bei den Franzosen, er aber bei den Engländern das Heil sah. Wenn Fontane ein Stück von Wildenbruch an seinem Auge vorüberziehen sah, dann schüttelte er öfter bedenklich das Haupt, und dieses bedenkliche Kopfschütteln konnte man auch in seiner Kritik wahrnehmen, aber weh that er dem Dichter dabei nicht, denn er that niemandem gern weh. Und ebenso wenig sah Frenzel sein Ideal verkörpert in dem neuesten Theatersieger; aber auch er verletzte durch seine feinsinnigen, geistreich und vornehm geschriebenen Auseinandersetzungen niemanden. Diese beiden aus der guten alten Zeit wahrten gern Anstand und Sitte auch da, wo sie tadelten. Aber das war um sie her längst anders geworden.

Schon Paul Lindau hatte nach Berlin die schärfere Tonart aus Frankreich mitgebracht. Er hatte in seiner »Gegenwart« gern kräftig zu Tode gespottet, was ihm nicht gefiel, und das ahmten nun die jüngeren Kritiker nach, ohne an die Gefahr zu denken, wie leicht man bei solchem Spott die Sache mit der Person verwechseln kann. In das neugegründete reichshauptstädtische Blatt – das »Berliner Tageblatt« – wurde dieser Ton eingeführt durch denselben Schriftsteller Oskar Blumenthal, der einst in Bremen die »Monatshefte« an die Brüder Hart abgetreten hatte und nun in seiner Stellung an der großen Tageszeitung sich durch seine kritische Mordarbeit bei den Berlinern bald den Spottnamen des »blutigen Oskar« erwarb. Auch ein anderer junger Kritiker tauchte damals auf, der später ein Führer der Revolution zu werden bestimmt war. Fontane wünschte bei der bevorstehenden Begründung des Deutschen Theaters einen Gehilfen zur Seite zu haben. Man wandte sich ratsuchend an Professor Scherer, und dieser empfahl seinen Lieblingsschüler – den damals sechsundzwanzigjährigen Dr. Brahm, den »Schillerhasser«.

Die Gründung des Deutschen Theaters! Wie viele stolze Hoffnungen knüpften sich nicht hieran! Es sollte die Reichshauptstadt erst recht auch zur Kunsthauptstadt machen! Da das Königliche Schauspielhaus seine litterarischen Pflichten beharrlich verkannte, als Neuheiten die oberflächlichsten Lustspiele bot und die Klassikervorstellungen langsam im alten Schlendrian einschlafen ließ, so entsprach die Gründung allerdings einem Bedürfnisse, und zwar, was die Klassikervorstellungen anbetraf – in glänzendster Weise.

Adolf L'Arronge, der bekannte Theatermann, Possen- und Lustspieldichter, scharte alles um sich, was die deutsche Bühnenwelt an glänzenden Namen besaß: Klara Ziegler, 27 Franziska Ellmenreich, Anna Haverland, Friedrich Haase, Ludwig Barnay, August Förster u. s. w. Natürlich geschah, was geschehen mußte: Die Berühmten nahmen sich gegenseitig Licht und Luft und stritten so lange miteinander, bis einer nach dem andern sein Aktionärverhältnis löste, und vom alten Stamme nur noch L'Arronge selbst, der stark manierierte Siegwart Friedmann und der klug besonnene künstlerische Leiter des Ganzen, der treffliche August Förster, übrigblieben. Er ist der Schöpfer des neuen dramatischen Stils für die junge Generation geworden. Er bildete aus der lieblichen Anna Jürgens eine brauchbare Liebhaberin, er schulte die junge Theresina Geßner, er brachte den Jungen Sommerstorff zur künstlerischen Höhe und er ließ vor allen Dingen zwei junge Genies sich entfalten: den Charakterdarsteller Max Pohl und den jugendlichen Helden Josef Kainz. Letzterer war zwar eigentlich ein Schüler Ludwig Barnays gewesen. Seitdem dieser in seiner glänzenden Inszenierung von Schillers »Don Carlos« das »Deutsche Theater« in die Reihe der ersten Bühnen der Welt eingeführt hatte, war Kainz als kühner Neuerer bekannt. Nun galten die Goethe'schen Vorschriften nicht mehr, daß der Schauspieler dem Publikum den Rücken nicht zuwenden dürfe u. dgl. mehr, und an Stelle des herkömmlich tragischen Pathos trat der Geschwindmarsch der Kainzschen Sprechweise. Man nannte daher Kainz einen Realisten, und doch war er damals ein Künstler von idealster Gesinnung, der es lebhaft bedauerte, daß außer den Klassikervorstellungen fast nichts Bedeutendes in dieser schönen Kunstanstalt gespielt wurde. Französische Machwerke wie Ohnets »Hüttenbesitzer« entweihten den Spielplan, und Oskar Blumenthals oberflächliche Lustspiele, wie der »Probepfeil« und die »Große Glocke«, wurden hier zum Leben erweckt und für künstlerische Offenbarungen gehalten.

In demselben Jahre 1883 aber, in dem das Deutsche Theater entstand, wurde Berlin litterarisch in ganz anderer Weise erregt durch eine Reichstagsverhandlung. Als man ein Gesetz gegen den verderblichen Colportagebuchhandel beriet, wies Staatssekretär Bödiker darauf hin, daß eine verderbliche junge Litteratur ins Kraut zu schießen beginne, schlimm beeinflußt durch den französischen Naturalisten Emile Zola. Er berief sich dabei auf einen Artikel Theophil Zollings, des Lindau-Nachfolgers in der »Gegenwart«, wo besonders von einem Roman die Rede war: »Die Kinder des Reichs« von Wolfgang Kirchbach. Mit diesem neuauftauchenden Schriftsteller aber haben wir uns nach München zu wenden, wo gleichfalls die litterarischen Gärungen in vollstem Gange waren. 28

 


 


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