Adalbert von Hanstein
Das jüngste Deutschland
Adalbert von Hanstein

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Viertes Buch.

Die Erstürmung des Theaters und das neue Kunstgesetz.

Erstes Kapitel.

Berlin wird eine Theaterstadt.

Das Theaterleben Berlins hatte inzwischen auch seine Gärungen gehabt, die wesentlich hervorgerufen waren durch die vollkommene Erstarrung der Bühnenverhältnisse. Wohl war im Kgl. Schauspielhaus im Jahre 1886 an Stelle des verstorbenen Herrn v. Hülsen ein neuer Mann getreten, Graf Bolko v. Hochberg; dieser aber hatte zunächst genug damit zu thun, die Klassikervorstellungen neu zu beleben. Auch im Deutschen Theater konnten nur anerkannte Dramatiker Eingang finden. Oskar Blumenthal blieb der Einzige, den man hier als Bühnenschriftsteller entdeckt hatte, und wie sehr man dessen litterarische Bedeutung überschätzt hatte, zeigte sich, als er mit seinem Schwank »In Sammt und Seide« ins lustige Wallnertheater überging.

»Der »Probepfeil« ward abgeschossen,
die »großen Glocken« Bimbam schrie'n;
doch als »ein Tropfen Gift« geflossen,
in »Sammt und Seide« begrub man ihn.«

So spottete Karl Bleibtreu. – Ein ernsteres Gesicht aber bekam die Sache, wenn man sich daran erinnerte, daß gerade um die Zeit der Blumenthal'schen Riesenerfolge Albert Lindner in der Irrenanstalt zu Dalldorf starb, wohin ihn Hunger und Wahnsinn getrieben hatten. Im hellen Zorn mahnte daher Max Kretzer:

»Lachend beim Witze des großen dramatischen Machers,
vernahmst du die Mär von Lindners herbem Geschick:
Schmach über dich, du Volk der Dichter und Denker,
daß deine Adler verenden, während der Maulwurf gedeiht!«

In der That war auch Ernst von Wildenbruch wieder einmal vollständig geächtet von den sogenannten vornehmen Bühnen. Am Deutschen Theater hatte 113 man sich nur flüchtig mit ihm beschäftigt, dann ließ man ihn fallen –: »Herr L'Arronge will den Bruch!« – sagte man in Berlin. Und das Kgl. Schauspielhaus hatte sich ihm gleichfalls wieder verschlossen. Sein neuestes Schauspiel »Das neue Gebot« behandelte das Verbot der Priesterehe durch Papst Gregor VII. unter der Regierung Heinrichs IV. in Deutschland. Absichtlich hatte Wildenbruch nach seiner Art das geschichtliche Bild verändert. Während jenes Verbot in Wirklichkeit eine lange vorbereitete Maßnahme war, die langsam und schonungsvoll Gesetzeskraft erhielt, so macht Wildenbruch daraus eine Gewaltsache von furchtbarer Grausamkeit. In der Gestalt des frommen Priesters Wimar Knecht schildert er einen treuen alten Gottesdiener, der nun plötzlich in seiner gleichfalls alten treuen Lebensgefährtin nicht mehr sein christliches Eheweib, sondern eine gottverfluchte Dirne erblicken soll. Der Leidenskampf dieses Unglücklichen, der sich zum Kampf der deutschen Welt- und Lebensanschauung gegen die römische erweitert, bildet den Inhalt des wirkungsvollen Schauspiels, das nach Wildenbruch'scher Art im Geschwindschritt von einem Effekt zum andern stürmt, aber den Hauptcharakter doch warm und stark hervortreten läßt. Vor allen Dingen aber war es zu deutsch und zu kühn, als daß es nicht überall hätte abgewiesen werden müssen. Und so geschah denn zum zweiten Male, was vor drei Jahren geschehen war. Wiederum fuhren einen ganzen Winter lang alle Staatskarossen aus dem Berliner Westen nach einem fernen Vorstadttheater, wo nun also wiederum ein Stück von Wildenbruch über hundert Aufführungen erlebte. Diesmal aber war der Fall noch merkwürdiger.

114 Die tiefe Gesunkenheit der Berliner Theaterverhältnisse hatte es einem früheren Mitglied des Wallnertheaters möglich gemacht, vom äußersten Osten her das Theaterleben der Reichshauptstadt zu erobern. Ja, im alten Bau des Ostendtheaters hauste Direktor A. Kurtz und fing an, den Berlinern klar zu machen, wie man ein Theater zu leiten habe. Nach einer anfänglich weniger glücklichen Eröffnung hatte er bald mit Wildenbruchs »Neuem Gebote« mit einem Schlage die allgemeine Sympathie auf seiner Seite, und bald darauf zeigte er den Berlinern Henrik Ibsens »Volksfeind«.

Allerdings war er nicht der erste, der diesen merkwürdigsten aller Weltdichter des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Aufführung brachte. Doch war es allerdings auch ein Vorstadttheater gewesen, das ihn in Berlin einführte: das Residenztheater. Hier war auf jenen Mann, der einst Sudermanns weißen breiten Manuskriptrand behalten hatte, ein kunstsinniger Kollege gefolgt: Anton Anno. Er hatte freilich die wenig erfreuliche Spezialität des Hauses beibehalten: das französische Sittendrama. Von dieser Stätte aus verbreiteten sich durch Berlin – also auch wieder vom Osten her – die koketten Gesellschaftsstücke Sardous und Dumas. Doch bildete sich dort auch eine trefflich geschulte Schauspielertruppe, unter der ein Künstler hervorragte: Emanuel Reicher, der bisher an dem kleinen Hoftheater zu Oldenburg in stiller Zurückgeschiedenheit wirkte, ganz der Erziehung des Söhnchens aus seiner ersten Ehe mit der Sängerin Reicher-Kindermann hingegeben – bis eine zweite Ehe mit der Schauspielerin Lina Harf aus Wiesbaden dem innerlich zerrütteten Manne Lebensfreudigkeit und Schaffenslust wiedererweckte. Um nach Berlin zu kommen, hatte er sich für das Residenztheater verpflichten lassen, dessen Richtung ihm sonst wenig zusagte, denn er glühte innerlich nur für die große wahre Kunst Shakespeares. Zum ersten Male wurde man aufmerksam auf ihn durch die geniale Karikatur, die er aus dem Kaiser Justinian in Sardous Drama Theodora machte. Ein Gastspiel des berühmten italienischen Tragöden Ernesto Rossi gab ihm bald darauf Gelegenheit, sich als Jago in Shakespeares »Othello« zu zeigen; und es war kein kleiner Triumph für ihn, daß er neben dem berühmten Gast mit vollen Ehren bestand. Sein eigentliches Gebiet aber lag nun einmal, ohne daß er es damals selber ahnte oder ahnen wollte, in dem Modernen. Bei seiner sorgfältigen Feinheit der liebevollen Ausarbeitung bis in das Kleinste hinein, wie sie sich wohl selten mit so warmer Innigkeit bei einem Schauspieler gepaart hatte, sollte er bald in dem nordischen Grübler Henrik Ibsen seinen eigentlichen Dichter finden. Bei der hohen Bedeutung, die dieser Ausländer bald für Deutschland gewinnen sollte, ist es nötig, ihn näher ins Auge zu fassen.

Henrik Ibsen ist am 20. März 1828 zu Skien in Norwegen geboren und zeigte als Knabe schon seine mystische Veranlagung, die ihn früh zu Religion und Poesie hinzog. Als 20jähriger Apothekergehilfe in Grimmstadt entwarf er in dem Jahre der allgemeinen revolutionären Gärung sein erstes Drama »Catilina«, das aber weniger ein Revolutionsschauspiel, als vielmehr der Versuch eines philosophischen Seelengemäldes ist. Obgleich der erwünschte Erfolg dieser 115 Erstlingsarbeit ausblieb, verwarf er doch den Apothekerberuf, ließ sich durch eine »Studentenfabrik« für die Universität Christiania vorbereiten und besuchte diese flüchtig, um bald darauf im Norwegischen Theater in Bergen eine Thätigkeit als Dramaturg zu finden. Sein dortiges Bestreben, die Theatermache zu erlernen und möglichst bühnengerechte Stücke zu schreiben, führte ihn allmählich in die Sagenwelt des Nordens ein, und der uralte Stoff der Sage von Sigurt und seiner Brautwerbung für den König Gunnar (Gunter) brachte seinem ringenden Geiste zum ersten Male das Problem der idealen Ehe und ihrer Begründung auf Freiheit und Wahrheit nahe. Mit dieser nordischen Heerfahrt, die das älteste Sagengewand mit dem modernsten Gedankeninhalt wunderbar zu erfüllen weiß, beginnt Ibsens eigentliche Dichterlaufbahn. Je mehr ihn, den großen Idealisten, die Alltagsmeinung und die Tageskritik hinter den realistischen Björnson zurückstellte, desto kraftvoller wuchs Ibsens Eigenart sich aus. Mit keckem Trotz warf er in seiner »Komödie der Liebe« aller banalen Auffassung von Ehe und Liebe den Fehdehandschuh hin als echter Ritter des Ideals, und mit dem tiefdurchdachten Geschichtsdrama »Die Kronprätendenten« begann er den Zyklus seiner vier gewaltigen Meisterwerke, die in immer tiefer bohrender Gedankenarbeit und mit immer reicher anwachsender Gestaltungskraft immer von neuem das Verhältnis des einzelnen Menschen zum Weltganzen und zur Weltleitung ergründen und Thatenmut und Willenskraft in ihrem Verhältnis zu dem großen Gesetz der Notwendigkeit zeigen.

Aus dem dunklen, freudearmen und undankbaren Vaterlande nach dem sonnigen Süden fliehend, schuf er in Italien die drei letzten Stücke dieser Gruppe: die Religionstragödie »Brand«, das Märchendrama »Peer Gynt« und das weltgeschichtliche Schauspiel »Kaiser und Galiläer«. In der Ferne errang er, was ihm daheim nicht geworden war: die Anerkennung des Vaterlandes, das sich jetzt daran gewöhnte, namentlich nach Erscheinung des »Brand« in ihm den nationalsten seiner Dichter zu erblicken. Der »Peer Gynt«, zu dem der norwegische Komponist Grieg eine tiefsinnige Musik schrieb, galt bald als der skandinavische »Faust«. Mit Jubel empfing man den Heimgekehrten, dessen poetische Weltanschauung sich nunmehr so herausgeklärt hatte: Mit großem starken Wollen hat der Mensch alle die in ihm wohnenden Fähigkeiten zur denkbar größten Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit zu entwickeln; und die stärkste Bethätigung des eigenen Selbst 116 ist berechtigt, wenn es wie beim König Hakon oder beim Prediger Brand durch eine große Idee im Dienste der Menschheit sich erweitert. Dagegen erscheint der Egoismus als verächtlich, wenn er nur dem kleinen einzelnen Ich dient, wie beim Träumer Peer Gynt. Menschen von seinem Schlage, die weder ganz gut noch ganz schlecht sein können, gerade weil sie immerwährend hin und her taumeln in der blinden Bewunderung ihres eigentlich wesenlosen Ich – stellen den verächtlichsten Typus des Menschen dar. Wie sie zwecklos gelebt haben, sterben sie zwecklos, und der Tod füllt ihre inhaltlosen Seelen in den großen Kochlöffel, um sie als gestaltloses Material einfach wieder einzuschmelzen. Bei den großen starken Wollern dagegen, die im Dienste eines Menschheitsgedankens streben, darf man nicht voreilig mit den Begriffen gut und böse bei der Hand sein. Nicht immer ist das Genie auch glücklich wie der König Hakon. Auch irrende Riesen, wie der Prediger Brand und der Kaiser Julian, die beide Frieden bringen wollten und doch nur Leid erzeugt haben, erscheinen groß, wenn sie nach ihren Beweggründen beurteilt werden und wenn man bedenkt, daß die Richtung des Strebens wohl vom Willen des Menschen abhängt, über Erfolg und Wirkung aber höhere Mächte bestimmen. Solche Irrende sind gerade durch ihr scheinbares Unterliegen oft negative Förderer des Weltglücks, und nach ihrem Hinscheiden vollzieht der Tod an ihrer Seele gewissermaßen die Arbeit eines Photographen, der die negative Platte in das positive Bild umwandelt. – Aber ehrlich sich selbst treu zu bleiben, im Dienste großer Ideen zu leben, im Lichte des Ganzen sein eigenes Bild kühn zu entwickeln und aus freier Selbstbestimmung mutig der einmal erkannten Wahrheit zu leben – das sind die idealen Forderungen, die Ibsen an die Menschheit stellt.

Und von diesen Forderungen ließ er auch nicht ab, als er jetzt zur modernen Stoffwelt überging. Auch ihn hatte das siebente Jahrzehnt des Jahrhunderts mit Interesse für die moderne Welt erfüllt, und er ging nun daran, sie mit den Idealen seiner Innenwelt zu vergleichen. In dem »Bund der Jugend« verspottet er in toller Satire das charakterlose politische Strebertum, in den »Stützen der Gesellschaft« reißt er der sozialen Heuchelei die Maske vom Gesicht; in »Nora oder ein Puppenheim« protestiert er energisch dagegen, daß in den meisten modernen Ehen die Frau unwissend erhalten wird wie ein Kind und sie doch die volle Last der Verantwortung treffen soll, wenn sie irrt; in den »Gespenstern« werden die schrecklichen Folgen enthüllt, die sich einstellen können, wenn der sinnlose Grundsatz von der Unauflöslichkeit der Ehe eine reine Frauennatur unentrinnbar an einen sittlich verkommenen Mann kettet, und obendrein wird in diesem Stück eine wahre Geistesschlacht der neuen Weltanschauung gegen die alte geschlagen. Der furchtbare Sturm, den die Stücke in Norwegen gegen Ibsen entfesselten, und der dem Dichter die Heimat wieder völlig verleidete, veranlaßte ihn dazu, im »Volksfeind« sich selbst als den unglücklichen Idealisten darzustellen, den man ächtet und dem man die Fensterscheiben einwirft, weil er aus edlen Gründen vorurteilsfrei die Wahrheit gesagt hat. Mehr und mehr beginnt jetzt schwarzer Pessimismus des Dichters bisher so klaren, hoffnungsvollen Geist zu umdüstern. Er glaubt nicht mehr an die Besserungsfähigkeit der Menschen. In der »Wildente« zeichnet er in der Figur 117 des Gregers Werle einen Mann, der des Dichters eigene ideale Forderungen in das Haus eines kleinlichen Menschen trägt, aber dessen Heim, statt es geistig zu erhellen, nur völlig verödet. Mit einer Thräne im Auge muß Ibsen in der Figur seines Gregers aus dem Hause weichen, in dem ein trivialer Arzt die Ideale für Lügen die Lebenslügen aber für den eigentlichen Stützpunkt des Lebens erklärt. Und in »Rosmersholm« endlich läßt er den letzten Verkünder seiner Ideale, den alten Brendel, in der Einsamkeit zum geistigen Egoisten verarmen, während dieser zuletzt noch mit ansehen muß, wie sein Lieblingsschüler Pastor Rosmer, aus dem Brendel einen freien Adelsmenschen erziehen wollte, in die Netze eines koketten Weibes gerät und in der Erkenntnis über die eigene innere Gesunkenheit nur noch den trivialen Ausweg des Doppelselbstmords findet.Vgl. zu dieser Darstellung von Ibsens Entwickelungsgang die ausführliche Begründung in meinem Buche »Ibsen als Idealist«, Vorträge, gehalten in der Humboldt-Akademie in Berlin, Leipzig, Verlag von Freund & Wittig, 1896: 2. Aufl. 1900.

So war denn Ibsen auf dem Tiefpunkte seines Pessimismus – aber allerdings auf dem Höhepunkte seiner Menschenschilderung – angelangt, als er (1886) auf den deutschen Bühnen Eingang zu finden begann mit seinen modernen Schauspielen. Abgesehen von einigen Aufführungen der »Nordischen Heerfahrt« kannte man wenig von dem großen Idealisten, als nun die Stücke des greisen Pessimisten ohne Uebergang mitten hineingetragen wurden in die deutsche Entwickelung. Gerade die »Gespenster« waren das erste Werk, das dem Namen des Norwegers in Deutschland eine unheimliche Berühmtheit verschaffte. Nachdem es zuerst in Augsburg von dem Direktor Franz Deutschinger und dem Dramatiker Felix Philippi zum Leben erweckt worden war, folgten einige Ibsen-Aufführungen in München, wo der greise Norweger in der letzten Zeit am liebsten gelebt und sein Riesenhaupt mit der gedankenschweren breiten Stirn und den sonnenartig emporstrebenden weißen Haaren allnachmittäglich ziemlich unbeachtet im Café Maximilian hinter einem Zeitungsblatte verborgen hatte. Und nun also die Aufführung 118 im Berliner Residenztheater unter der Direktion von Anton Anno! Dessen Gattin schuf trefflich die weibliche Hauptrolle der Frau Alwing, der Vertreterin der modernen Weltanschauung, während Emanuel Reicher in ihrem Widerpart, dem Pastor Manders, eine unvergeßliche Kunstleistung bot. Die Wirkung des Stückes war von erschütternder Furchtbarkeit. Das entsetzliche Ende des jungen Oswald Alwing, der die sinnlichen Sünden seines Vaters mit einer erblichen Gehirnerweichung zu büßen hat, mußte das Urteil des Publikums, das von Ibsen so gut wie nichts wußte, völlig irre führen. Es sah fälschlicherweise in diesem Abschluß und in dieser Erblichkeit den Schwerpunkt des Stückes, der doch vielmehr in dem Gegensatz der Mutter und des Pastors zu suchen ist. Den rastlosen Gedankendichter faßte man als den Schilderer des Gräßlichen vom Schlage des so viel tiefer stehenden Zola auf, und einen der rücksichtslosesten Idealisten, von denen die Weltlitteratur weiß, schrieen Feinde und Freunde als Naturalisten aus. Auf diese Weise einmal in schiefe Bahnen gelenkt, konnte auch durch die Aufführung des herrlichen »Volksfeind« unter Kurtz im Ostendtheater das öffentliche Urteil nicht mehr richtig gestellt werden, und die ältere Kritik protestierte energisch gegen den Norweger, während auch die jüngere Generation sich nur zum Teil für ihn begeistern konnte. Bleibtreu spricht in seinem »Größenwahn« sehr abfällig über Ibsenschwindel. Mir stand zum Zweck meines Eintretens für den großen skandinavischen Dichter damals die von Dr. Küster verlassene und vom Pfarrer Johannes Bohl angekaufte »Deutsche Studentenzeitung« zur Verfügung, deren Redaktion mir übertragen war. Zwei Kritiker mit weiter schallender Stimme, die, älter als ich, gleich mir von Anfang an für Ibsen eintraten, standen leider auf einem sehr einseitigen Standpunkte: Otto Brahm und Paul Schlenther.

Otto Brahm hatte sich inzwischen durch seine preisgekrönte und – trotz einiger Ausfälle gegen Schiller – auch wirklich recht verdienstvolle Schrift über Heinrich v. Kleist einen Namen gemacht. Rezensent an der Vossischen Zeitung war er freilich nicht mehr. Als er mit scharfer, aber berechtigter Kritik gegen das täglich sinkende Wallnertheater vorgegangen war, hatte dessen Direktor ihm den Eintritt verboten, und die Vossische Zeitung hatte aus dem Grunde über das Wallnertheater überhaupt nichts mehr berichtet. Brahm aber schrieb auch für die »Frankfurter Zeitung« Berliner Kunstbriefe und kritisierte darin nach wie vor Vorstellungen des Wallnertheaters, die er gar nicht gesehen hatte. Das wurde bald der Grund für seine Entlassung aus dem Verbande der Vossischen Zeitung, die nun einen andern Scherer-Schüler verpflichtete, Dr. Paul Schlenther (geb. zu Insterburg am 20. August 1854.)

Damit war freilich eine Aenderung in der litterarischen Stellungnahme vermieden; denn Schlenther, obgleich zwei Jahre älter wie Brahm, war doch in geistiger Hinsicht völlig abhängig von diesem, der sein langjähriger Freund und Zimmergenoß gewesen war. Selbst völlig ohne Eigenart des Denkens, blickte er zu dem geistig so viel kraftvolleren Brahm mit völliger Schülerandacht empor. Mit ihm schwur auch Schlenther zur Schiller-Feindschaft, und als Brahm urplötzlich aus einem »Schillerhasser« zum »Schillerbiographen« wurde, da machte 119 auch Schlenther mühelos eine ähnliche geistige Häutung durch. Dabei wurden Schlenthers Kritiken in Berlin bald viel lieber gelesen als einst die von Brahm, denn man brauchte nicht soviel dabei zu denken – und sie waren so amüsant, so neckisch! Liebte Brahm es, nach Art ernster Revolutionäre mit schweren Bomben zu schießen, und quälte er seine Leser mit ästhetischen Begründungen, so ließ Schlenther dies fein beiseite und hüpfte mit tändelndem Witzgefecht um die Dinge herum, die er ernsthaft zu begründen nicht vermochte. Von dem Lessing'schen Witz unterschied den seinen nur der einfache Umstand, daß der große Hamburger Dramaturg den Witz herbeizog, um den Kern einer Sache klar zu spotten, während Schlenther seine kleinen Scherzchen herbeirief, um durch leichtes Rankengewächs die Hauptsache verschleiern zu machen und sich dadurch recht mühelos den Anstrich des Geistreichen zu geben. Als z. B. Brahm in mißverständlicher Auffassung der Ibsenwerke zu der sonderbaren Ansicht kam, die eigentliche Handlung sei aus dem Drama zu verbannen, nannte Schlenther sogleich diejenigen Dramatiker, die eine starke Handlung lieben: »Handlungsdiener«. Gewiß ist das ganz scherzhaft, aber besteht wirklich irgend eine geistige Beziehung zwischen einem Commis und einem Dramatiker, der starke Effekte liebt? Heißt das nicht, durch einen billig gefundenen Wortwitz von der eigentlichen Sache ablenken? Wie ganz anders, wenn Lessing davon spricht, daß man doch nicht einen Flaschenzug anwende, um eine Stecknadel aufzuheben! Das heißt, mit einem genial witzigen Vergleich die thörichte Umständlichkeit eines Dramatikers beleuchten und den Dichter belehren, ohne ihn zu verletzen. Schlenthers Witze aber pflegten, wie der obige, den Dichter zu verletzen, ohne ihn zu belehren. Die Manier, die von Blumenthal und Anderen angeregt war, die Zeitungskritik in ein prickelndes Feuilleton umzuwandeln, wurde von Schlenther zu einer schlimmen Höhe gebracht. Mußte ihm doch selbst die äußere Erscheinung der Dichter herhalten zu seinen oberflächlichen Scherzen, obgleich man sonst als erste Anstandsregel Kindern einzuprägen pflegt, daß der gebildete Mensch über körperliche Gebrechen seiner Mitmenschen nicht lachen darf, auch wenn sie unwillkürlich dazu reizen sollten. Für Schlenther aber diente das früh ergraute Haupt eines Schriftstellers, der vielleicht daran nicht gern erinnert wurde, schnell dazu, das Veraltetsein des Mannes zu beweisen; die mangelnde Körperfülle eines andern genügte, daß er durch Schlenthers taktlose Feder zum »schmächtigen Poeten« gestempelt wurde. Und auch bei den wirklichen Schwächen hielt der Kritiker sich an die Aeußerlichkeit. Wurde das Stück eines Schauspielers aufgeführt, das Schlenther mit wenigen Worten abthat, so hatte er doch noch Platz und Zeit, die gebrannten Haare des Autors zu erwähnen. Kurz – hatte sich der Feder eines Blumenthal gegenüber der Dramatiker fühlen müssen wie der Verbrecher auf der Anklagebank, so kam er sich Schlenthers Feder gegenüber vor wie jemand, der in Gesellschaft beim Pfänderspiel auf einen »Mokierstuhl« gesetzt wird – oder wie jemand, der öffentlich am Pranger steht. – Natürlich trug das alles nur dazu bei, daß Schlenthers Kritiken bald die beliebtesten in Berlin waren. Und da ihm nun sein zielbewußter, skrupelloser Freund die Richtung gab, so mußte der Bund dieser beiden jungen Männer bald unangreifbar und bestimmend für die 120 Zukunft der ganzen litterarischen Revolution werden, zu deren Führern sich die beiden nun schnell emporschwingen sollten.

Von den schon auf den Kampfplatz getretenen Neuerern wollten sie freilich wenig wissen; als z. B. im Ostendtheater Max Kretzers erster dramatischer Versuch in Szene ging, den »Bürgerlichen Tod« eines entlassenen Strafgefangenen schildernd, dem die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind – da erklärte Schlenther, er könne dem Autor nicht auseinandersetzen, wie sehr und wie oft er daneben gehauen habe; aber das wallende Blondhaar eines Urgermanen aus dem Verein »Durch«, das er im Zwischenakt erblickte, gab ihm Veranlassung zu einer Bemerkung über solche Frisuren im Besonderen und dem »deutschen Schwarmgeist« im Allgemeinen im Gegensatz zum dichterischen Naturalismus. Dazu hatte Herr Schlenther Platz und Zeit in jener Kritik, die ihm für die Belehrung des Dichters nicht Raum genug ließ.

Im Gegensatz zu ihm hatte sein Genosse Otto Brahm sich an eine ernstere Arbeit gemacht, indem er seinen leichtgeschürzten »Essay« über Ibsen in die Welt sandte. Dies Schriftchen hat das Verdienst, zum erstenmal größere Kreise in Deutschland auf Ibsens Lebensgang aufmerksam gemacht zu haben, aber dies Verdienst schmälert der Verfasser selbst dadurch, daß er des Dichters eigentlichen Werdegang bis zum »Kaiser und Galiläer« nur als Einleitung nimmt, ja dies gewaltige Drama selbst, das die zehn reifsten Lebensjahre Ibsens ausfüllt und in seinen zwei riesengroßen Teilen die ganze Philosophie des Norwegers enthält, mit einigen dreißig Zeilen voll allgemeiner Redensarten abthut als ein »grüblerisches« Kaiserdrama. So führte Brahms gute Absicht zu einer verhängnisvollen 121 Wirkung. Gerade diese Schrift half es verschulden, daß bis auf den heutigen Tag Ibsen irgend eine feste Stellung im Herzen des deutschen Volkes nicht gewinnen kann, weil man ihn immer wieder nur aus seinen modernen Werken der Altersperiode kennen lernen will, und weil diese unverständlich bleiben müssen für den, der Ibsens große Werke seiner starken Manneskraft nicht kennt.

So abfällig sich aber auch die ältere Kritik über Ibsen auslassen mochte – darin waren Alte und Junge einig, daß jener Direktor, der den Norweger zuerst in Deutschland eingeführt hatte, um seines litterarischen Ernstes und seines künstlerischen Könnens willen an die erste Stelle im Berliner Bühnenleben gehöre. Und so folgte Graf Hochberg nur dem Strome der öffentlichen Meinung, als er an Stelle des scheidenden Direktors Deetz nunmehr Anton Anno zum Direktor des Kgl. Schauspielhauses ernannte. Und der neue Mann sollte bald neue litterarische Gärungen miterleben.

Zwei neue Theater auf einmal waren der Reichshauptstadt erstanden – beide wollten sie vornehmen Kunstzwecken huldigen – beide nahmen sie Teile des großen Programms auf, das von dem Kgl. Schauspielhause so lange vernachlässigt war, beide dankten sie ehrgeizig strebsamen Männern ihre Entstehung. Von diesen beiden Männern war der eine Oskar Blumenthal, der mit seinem Theater der lebenden Dichter – das er Lessingtheater nannte – eine wirkliche Lücke auszufüllen schien, aber anfangs gar kein Glück damit hatte. Der andere war der geniale Schauspieler Ludwig Barnay, der das alte Operetten-Walhalla-Theater zu dem prächtigen »Berliner Theater« umschuf und es unter begeisterter Teilnahme des Publikums im Sinne eines besseren Volks- und Familientheaters zielbewußt leitete.

Das große dramatische Ereignis des Jahres 1888 aber ging nicht in einem der beiden neuen Theater vor sich, sondern im Königlichen Schauspielhause. Wiederum war es ein Schauspiel von Wildenbruch, das ganz Berlin, ja ganz Deutschland erregte. Wunderbar paßte es hinein in die politisch neu gewordene Zeit.

Denn in demselben Sommer, der die beiden neuen Theater als kleine Ereignisse für Berlin entstehen ließ, hatten sich in derselben Reichshauptstadt zwei große Ereignisse von furchtbarer Tragweite für ganz Deutschland vollzogen. Am 9. März war der greise Kaiser Wilhelm I. gestorben, und schon am 15. Juni folgte ihm sein vielbeweinter Sohn Friedrich ins Grab nach. Diese letztere Trauerkunde schlug langgehegte Hoffnungen auch auf künstlerischem und litterarischem Gebiete jäh zu Boden. Daß Kaiser Wilhelm I. kein weitgehendes künstlerisches Interesse besaß, war bekannt gewesen. Doch hatte dieser vorbildliche Fürst auch für das höhere Drama durch die Stiftung des Schillerpreises (1859) eine Ehrung geschaffen, die alle drei Jahre dem Verfasser des besten Dramas zu teil werden sollte. Von Kaiser Friedrich hatte man gewußt, daß er sich schon als Kronprinz viel mit Dichtern und Gelehrten umgeben hatte. Bei seinem frühen Tode richteten sich nun die Blicke auf den jungen Kaiser, und unter andern gab Alberti Hoffnungen und Wünschen Ausdruck in seiner Schrift: »Was erwartet die deutsche Litteratur von Wilhelm II.?« Der Kultusminister von Goßler ließ nach dem Verfasser forschen und lud ihn zu einem Besuche ein, der 122 aber keine weiteren sichtbaren Ergebnisse zeitigte. Nur wurde vorübergehend Heinrich Hart eine Unterstützung zur Vollendung seines Liedes der Menschheit zuerkannt. Deutlicher aber sprach der junge Kaiser im Winter 1888 sich selbst aus. Bei der Erstaufführung von Adolf Wilbrandts märkisch geschichtlichem Schauspiel »Der falsche Waldemar« erschien der Kaiser in Barnays Theater und gab seiner Anerkennung für derartige Poesien deutlichen Ausdruck. Bald darauf gingen Wildenbruchs »Quitzows« im Schauspielhaus in Szene.

Wildenbruch trug sich seit Jahren mit dem Gedanken, etwa im Plane der Shakespeareschen Königsdramen eine Reihe von Hohenzollerndramen zu schreiben, und er hub an mit dem Augenblick, wo Burggraf Friedrich von Nürnberg mit der Mark Brandenburg belehnt wird und den dortigen unerträglichen Verhältnissen ein Ende macht durch Ordnung und Gesetz.

Das Stück beginnt mit einer kecken Schilderung des allgemeinen »Drunter und Drüber« im alten Berlin. Der Thorwächter nimmt fern aufsteigende Staubwolken wahr. Sie deuten darauf hin, daß eine der Nachbarstädte von den jungen Pommernherzögen im Bunde mit dem märkischen Raubritter Dietrich von Quitzow »ausgepocht« worden ist. Diese Vermutung wird dem Bürgermeister gemeldet, der gerade eine Abordnung von Bürgern aus Oderberg, die Hilfe von ihm erfleht haben, mit schlechtem Trost entlassen muß. Zum Abschied trinken sie den Wein des Jobst von Mähren aus, des eigentlichen Besitzers der Mark, der aber sein Land fast nie betritt und sich nicht anders darum bekümmert, als wenn er Geld zu erpressen kommt. Während Ratsherren und Bürgermeister also dieses faulen Fürsten Wein im Ratskeller ausschlürfen, kommt ein junger Handwerksbursche zur Stadt herein, ein geborener Berliner, der auf der Wanderschaft war und beim belagerten Straußberg beinahe von den Pommernherzögen als Spion aufgehenkt worden wäre, wenn nicht deren zürnender Bundesgenosse Dietrich von Quitzow – aus reinem Widerspruchsgeist – den armen Köhnen Finke befreit hätte. Ja er hat ihm sogar eine Botschaft an die Berliner mitgegeben: er will sich mit diesen verbinden gegen die Pommern, wenn die Berliner ihm dafür seinen jüngeren Bruder Konrad mit sicherem Geleite zuführen wollen. Dieser Konrad von Quitzow ist in Berlin als Schüler eines Geistlichen, und während die Ratsherren sich über den Vorschlag zur Beratung zurückziehen, tummelt er sich mit der übrigen Schuljugend auf dem Marktplatze umher, die jungen Bürgermädchen neckend, unter denen sich auch Köhnen Finkes heimliche Braut, die Tochter seines früheren Lehrmeisters, befindet, die ihm durch schalkhaftes Schmollen ihre dauernde Liebe bezeugt. Dieser Lehrmeister selbst ist ein starker Gegner des Bundesantrags Dietrichs von Quitzow, während der Bürgermeister von Berlin in dem mächtigen Raubritter den kraftvollen Mann schätzt und verehrt. Nun aber kommen die Scharen der vertriebenen Straußberger daher, geführt von ihrem Bürgermeister, der die Rache des Himmels herabruft auf die Pommern und namentlich auf Dietrich von Quitzow. Tief ergreift das den jungen Konrad von Quitzow, in dessen mitleidsvoll weicher Seele sich überdies schnell erwachende Liebe für das von Grauen übermannte Töchterlein des Bürgermeisters von Straußberg regt. Mit leidenschaftlicher Wärme 123 reißt er die Berliner zur Annahme des Bundes mit seinem Bruder hin, der in seinen Augen das untrüglichste Vorbild edelster Männlichkeit ist.

Im zweiten Akt lernen wir den Bruder selbst kennen im Lager von Straußberg, wo er im überschäumenden Kraftgefühl mit den feigen Pommerherzögen wenig Umstände macht, die begeisterte Liebe einer jungen Polin erregt, den jungen idealistischen Bruder mit derber Herzlichkeit empfängt und – obwohl ihn Konrads humane Schwärmerei ein wenig befremdet – doch den Berliner Abgesandten gern seine männliche Zusage giebt. Er folgt in ihre Stadt und kommt dort gerade im Augenblicke an, wo ein kaiserlicher Gesandter in Berlin erscheint, um den Tod des Jobst von Mähren zu verkündigen. Wie die Berliner darüber die vorgeschriebene pietätsvolle Wehmut zu heucheln beginnen, lacht der mannhafte Quitzow sie aus und entfesselt die berechtigte Freude der Bürgerschaft darüber, daß sie durch den Tod des fürstlichen Saufbolds die ärgerliche Bevormundung seitens eines nichtsthuenden Erpressers losgeworden sind. Begeistert will der Bürgermeister von Berlin den Bund mit dem mannhaften Raubritter beschwören, da erhebt der Bürgermeister von Straußberg seine warnende Stimme und wird dafür sofort von Dietrich von Quitzow in Fesseln gelegt. Vergebens erklären die Berliner und Straußberger das als einen Eingriff in ihre freien Bürgerrechte. Da der wütende Dietrich seine Beute nicht wieder will fahren lassen, so zerreißen sie den Bund mit ihm, ehe er beschworen wurde; sie beschließen, dem kaiserlichen Befehl Folge zu geben und dem neuernannten Markgrafen von Brandenburg, dem Burggrafen Friedrich von Hohenzollern, entgegenzuziehen, dessen Herannahen schon verkündet wird. Dietrich von Quitzow aber läßt den Straußberger Bürgermeister auf seine Burg Friesack schleppen und erzürnt sich seinetwegen so stark mit seinem menschenfreundlichen Bruder Konrad, daß dieser die Frau und die Tochter des Gefangenen eigenhändig ins Lager des Hohenzollern geleitet, ohne sich jedoch persönlich dem Markgrafen zu nähern – denn er fühlt sich durch seinen Eidschwur äußerlich an seinen Bruder gekettet. Markgraf Friedrich aber sagt den beiden geängstigten Frauen bereitwilligst seinen fürstlichen Schutz zu; und wie die von allen Seiten heranziehenden märkischen Bürger als die erste That des Hohenzollern ein solches Werk der Menschenliebe erblicken, da sinken sie mit den Wappenbannern ihrer Städte huldigend zu seinen Füßen nieder. Als geschworene Hohenzollernfreunde kehren die Berliner in ihre Stadt zurück, wo auch der lustige Köhne Finke seine Braut erhält. Friedrich von Hohenzollern aber zieht mit seiner Streitmacht vor die Burg Friesack, die nun in ihren Mauern das feindliche Paar der beiden Quitzows birgt; und während die den Märkern bisher unbekannte riesige Kanone die Mauern der Feste erschüttert, steigt drinnen der Streit der Brüder auf den Siedepunkt, bis Konrad den Dietrich als Vaterlandsverräter niederstößt und sich dann – über seine eigene That entsetzt – von seinem Waffenknecht als Brudermörder hinrichten läßt. Sterbend streckt er dem eintretenden Hohenzollern die Hände entgegen.

Ganz gewaltig war der Eindruck dieses gestaltenreichen, lebensvollen Geschichtsschauspiels bei seiner ersten Aufführung. Der unlängst erst fürs Königl. 124 Schauspielhaus gewonnene feurig geniale Adalbert Matkowski verkörperte den jüngeren Quitzow mit stürmischer Leidenschaft. Es kam in Berlin zu weit über hundert Aufführungen, obgleich man nicht das Schauspielhaus, sondern das größere Opernhaus gewählt hatte.

Und doch leidet auch dieses Stück an einer Schwäche. Soll man denn wirklich glauben, daß diese steifnackig trotzigen märkischen Bürger, die soviel berechtigten Grund haben, dem vom Kaiser entsandten Markgrafen zu mißtrauen – daß sie wirklich all ihren Widerstand aufgeben, bloß weil der Hohenzoller gegen zwei schutzlose Frauen seine Ritterpflicht erfüllt? Oder darum, weil er schöne Worte zu machen weiß? Mit tönenden Versprechungen waren die Märker doch seit Jahrhunderten genasführt worden! Nein, so leicht hatten es in der Geschichte die süddeutschen Zollern nicht, sich die verschüchterten und verstockten Herzen der nordischen Märker zu erobern! – Kaiser Wilhelm II. trat sehr für das Schauspiel ein, ja er ließ es in einer besonderen Vorstellung nur für Schüler aller Lehranstalten Berlins aufführen. Darin lag erstens ein Beweis dafür, daß Wilhelm II. der Kunst nicht nur eine starke Wirkung auf die Menschenherzen zuschrieb, sondern daß er die Bühne für einen geweihten Ort hielt, auf dem auch Ehrwürdiges zur Darstellung gebracht werden kann und soll. Zweitens aber konnte man aus seinem Vorgehen auch ersehen, daß der junge Kaiser schon damals auch der Kunst mit starkem Herrscherwillen ihren Weg vorzeichnen wollte im Sinne seiner kaiserlichen Politik.

Ferner aber bedeutete Wildenbruchs neuestes Stück auch merkwürdigerweise einen Fortschritt der litterarischen Revolution, und zwar einen nicht unwesentlichen. Wildenbruch mischte hier zum ersten Male Verse und Prosa und drückt bei seinen Personen den tieferen Grad der Bildung – ganz naturalistisch – durch die stärkere Betonung des Dialekts aus. Dieser Dialekt hätte nun, der Geschichte entsprechend, eine Art Niederdeutsch sein müssen – dem Reuter'schen Platt nicht unähnlich – wie es noch heute in der Mark gesprochen wird. Wildenbruch wählte statt dessen den Berliner Jargon, von dem ganz gewiß in der damaligen Mark noch gar nicht die Rede sein konnte. Das hat Wildenbruch auch sicher gewußt, aber er wollte in den heutigen Menschen den Eindruck hervorrufen, der für unsere Erfahrung hoch und niedrig durch Dialekt und Aussprache viel schärfer von einander trennt, als es damals der Fall war. Und aus dem Grunde machte er, der sonst auf 125 dem Kothurn daher zu schreiten gewöhnt war, in einem ernsten Stück auf der vornehmsten Bühne der Reichshauptstadt zum ersten Male den Berliner Dialekt sozusagen »hoffähig«. Das Erstaunen darüber war in ästhetischen Kreisen groß. Die litterarischen Revolutionäre aber erblickten darin nicht mit Unrecht ein Zugeständnis an den Naturalismus.

Das eigentliche soziale Drama aber wurde damals erfolgreich nur durch einen Dramatiker vertreten.

Richard Voß (geboren zu Neu-Grape in Pommern am 2. September 1851) hatte sich langsam mit seinen Schauspielen den Weg gebahnt und fing eben an, lebhafteres Interesse zu erregen, als das Lessing- und Berliner Theater begründet wurden. Dies errang mit seiner »Alexandra« (1886), jenes mit seiner »Eva« stürmische Erfolge. Alexandra ist die Tochter einer Gauklerin; der Sohn des Präsidenten Elberti hat sie verführt, und, von ihm verlassen, hat sie ein Kind zur Welt gebracht in der Hütte eines Försters auf dem Elbertischen Gut und denkt dort mit Schmerz und Zorn des Geliebten. Als dieser ihr gar Geld bieten läßt, gerät sie in fast sinnlose Wut und giebt die Veranlassung zum Tode ihres Kindes, obwohl sie selbst nicht die Mörderin ist. Sie gilt aber dafür, wird verurteilt und eingekerkert. Nach verbüßter Strafe hat sie nur den einen Gedanken, ihre Ehre wieder herstellen zu lassen durch ihren einstigen Verführer. Sie weist deshalb den Antrag ihres gerichtlichen Verteidigers ab, der sie aufrichtig liebt, und weiß die alten Gefühle in Erwins Herzen wieder zu entflammen. Ihrer Verlobung und ihrem Glücke steht nichts mehr im Wege, nachdem der Verteidiger die Wiederaufnahme des Prozesses durchgesetzt und juridisch ihre Unschuld erwiesen hat. Aber nun naht das Verhängnis in der Gestalt des jungen Försters Anton, der sie ohne Erhörung geliebt hat. Er weiß die Präsidentin von Alexandras moralischer Schuld am Kindesmord zu überzeugen, und wie Erwin sie zum zweitenmal verläßt, da nimmt sie Gift. –

Eine solche Dulderin unter drückenden sozialen Verhältnissen ist auch Eva (1889). Sie ist die Tochter eines Grafen und die Verlobte eines vornehmen jungen Lebemannes. Doch stellt es sich heraus, daß ihr Vater sich in schwindelhafte Gründungen eingelassen hat. Er erschießt sich, und Elimar verläßt die Tochter des entehrten Vaters. Sie aber reicht die Hand dem Fabrikanten Hartwig, einem kreuzbraven und grundehrlichen Manne, auf den aber der Graf vor den Augen 126 der Welt den größeren Teil seiner Schuld geschickt abzuwälzen verstanden hat. In vier Jahre langer treuer Arbeit weiß Hartwig alle Gläubiger zu befriedigen und gilt nun auch wieder in der Oeffentlichkeit als Ehrenmann. Aber in sein Haus ist mittlerweile der Unfriede eingezogen. Hartwigs kleinbürgerlich engherzige Mutter erinnert die Schwiegertochter immer wieder an die Vergangenheit, und so fühlt sich Eva von Tag zu Tage unglücklicher. Da erscheint eines Tages wieder Elimar bei ihr – die alte Liebe erwacht wieder in beiden – und Eva, ehrlich, wie sie immer ist, erklärt ihrem Gatten Hartwig, daß sie ihn verlassen müsse. Sie kommt nun zu Elimar, aber sie hat sich schwer in ihm getäuscht. Er ist ein Lüstling schlimmster Art und will ihre Liebe nur mißbrauchen. Empört verlangt sie von ihm, daß er sie heirate. Wie er ihr ausweicht, übermannt der Jähzorn sie, und sie schießt ihn nieder. Nun kommt auch sie, wie Alexandra, wegen Mordes ins Gefängnis. Aber es sind ihr mildernde Umstände zugesprochen worden, und sie wird vor der Zeit begnadigt. Doch ihr Herz ist gebrochen, und ihre Kräfte sind verbraucht. Wie Hartwig kommt, um ihr seine Verzeihung zu bringen, sinkt sie sterbend in seine Arme. –

Durch die glänzende Darstellung der Frau Niemann-Raabe wurde diese Eva die Heldin eines ganzen Theaterwinters. Auch galt damals Richard Voß unter den Jüngstdeutschen vielfach als der hoffnungsreichste Dramatiker der Gegenwart. Er war der einzige, der dem Dichter der Quitzows die Alleinherrschaft auf der Bühne streitig zu machen schien.

Neben den beiden aber harrte eine stattliche junge Schar von Dramatikern vergebens der Aufführung.

 


 


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