F. W. Hackländer
Das Geheimniß der Stadt
F. W. Hackländer

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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Die Stadtschultheißin Welkermann war nicht im Stande, sich unter den heftigen Schicksalsschlägen, welche sie betroffen, auch nur in so fern wieder aufzurichten, um mit der Hoffnung in die Zukunft zu schauen, welche der Stadtschultheiß nicht unterließ, ihr beständig einzuflößen.

»Die Sache ist allerdings schlimm und trifft mich selbst an der Wurzel; nachdem ich aber, allerdings vor Zeugen und im Beisein des Polizeirathes, eine Unterredung mit Ferdinand gehabt, bin ich fest überzeugt, daß er keine Idee davon hatte, daß überhaupt falsche Banknoten existiren. Zwar hat er leichtsinnig gehandelt, wie schon oft, aber er ist kein Verbrecher, und wenn er auch dem Bankdirektor davon hätte Anzeige machen sollen, daß er für Herrn von Rivola hier und da Noten umgewechselt habe, so ist doch der Name eines so hochstehenden, allgemein geachteten und ungeheuer reichen Mannes Bürgschaft genug, um auch dieses Vergehen Ferdinand's erklärlich zu finden.«

»Deines Herrn von Rivola!« hatte Frau Welkermann mit Betonung zur Antwort gegeben und sich dabei des Gespräches mit ihrer Schwägerin, der Frau Staatsschulden-Tilgungskassen-Revisorin, erinnert. – »O mein Gott – o mein Gott!«

Ihre Thränen strömten alsdann so reichlich, als hätte sie einen Verstorbenen zu beklagen, einen wenigstens moralisch Gestorbenen, und gegen diesen Ausdruck konnte selbst der Stadtschultheiß nichts Stichhaltiges einwenden.

»Ich weiß es wohl,« hatte er gesagt, während er mit zusammengelegten Händen und einem trüben Blick an den Himmel emporschaute, »seine Laufbahn ist hier für ewige Zeiten verdorben, eben so wie die meinige.«

Darauf hin hatte er eines Morgens, als das Jammern kein Ende nehmen wollte, über die mütterliche Schwachheit gegen alles, was den ungerathenen Sohn betraf, mit vollem Rechte geeifert und hinzugesetzt, daß er in Anbetracht der obwaltenden Umstände den längst gefaßten Entschluß ausgeführt und seinen Rücktritt von Amt und Würden der Stadt angezeigt.

Herr Welkermann hatte gefürchtet, durch diese Erklärung einen neuen und größeren Sturm heraufzubeschwören, und war beinahe angenehm überrascht, als sich seine Frau, noch mehr aber Elise mit dieser Maßregel vollkommen einverstanden erklärten.

»Ich athme wieder auf,« sagte die Stadtschultheißin, bei dem Gedanken, die Stadt verlassen zu können – »wie danke ich dir für diesen Entschluß, sehe ich doch auch für Ferdinand nur in einer Entfernung von hier das einzige Heil!« –

Die Familie war nach manchen Tagen fortwährender Klagen wieder einmal im Begriffe, in eine gemüthliche Unterhaltung einzulenken, als das Erscheinen der Frau Schwägerin Revisorin besonders bei dem Stadtschultheißen und auch bei Elisen einen scharfen Mißton hervorbrachte und Frau Welkermann veranlaßte, ihre Thränen reichlicher strömen zu lassen.

»Weine nur,« sprach die Revisorin aus gefühlvoller Seele, nachdem sie den Stadtschultheißen kühl und Elise herablassend gegrüßt, »weine nur, du hast alle Ursache dazu!«

Herr Welkermann wollte dieses Gespräch durch eine scharfe Erwiderung schon zu Anfang beendigen, doch verstand er einen bittenden Blick seiner Tochter und verließ mit dieser achselzuckend das Zimmer.

»Ja, weine nur,« wiederholte die wohlwollende Trösterin, »wenn Jemand volle Ursache hat, so bist du es. Ich bin gekommen, dich so gut wie möglich zu trösten, muß dir aber zuvor ehrlich gestehen, daß – obgleich es schon seit einiger Zeit für mich keine große Ehre war, ebenfalls den Namen deines Mannes tragen zu müssen, ich, die arme Revisorin – seit gestern, wo der Herr Stadtschultheiß in öffentlicher Sitzung sein Amt niederlegte, alles das, was man hören mußte, nicht mehr zum Aushalten ist!«

»Ach, du solltest mich nicht auf's Neue erschrecken und betrüben!«

»Ich dich erschrecken und betrüben – ich, die nicht im Stande ist, einem Missethäter etwas Schlimmes nachzusagen? O, du hast mich von je her verkannt – ich verzeihe dir – ihr Alle habt mich verkannt, doch ich verzeihe euch Allen – du siehst, wie ich eurem namenlosen Unglücke Rechnung trage!«

Dabei erhob sie ihre Augen gen Himmel und schüttelte langsam mit dem Kopfe.

»Ich weiß, daß mein Mann seine Stelle niedergelegt hat, und ich freue mich darüber!«

»Ja, du freust dich darüber, du armes Weib, wie du dich seit Jahren über so Vieles gefreut hast, weil du nie den Muth hattest, von allen diesen Geschichten die Schattenseite anzuschauen – was sage ich: Schattenseite? – die Nachtseite, die finsterste, trostloseste Mitternachtsseite – doch, lassen wir das, ich wollte dir nur mit der mir so eigenen Schonung von der gestrigen Sitzung berichten, was mir die gute Krampler darüber erzählt hat. Das Schreiben deines Mannes wurde nicht nur stillschweigend angehört, sondern auch sein Rücktritt einstimmig angenommen; selbst sein Special, der Seifensieder-Oberzunftmeister Spitzler, sagte: ›Es ist das Gescheiteste, was Herr Welkermann nach all diesen Sachen thun kann.‹ – Siehst du, mir, der armen Revisorin, gab es einen Stich durchs Herz, als ich hörte, dieser Spitzler, dieser seifensiederische Speichellecker, habe gesagt: ›Herr Welkermann‹ und nicht: ›Unser gewesener verehrter Herr Stadtschultheiß‹ – o, so was ist empörend!«

»Ich habe es nicht anders erwartet.«

»Auch nicht, daß man eine Dankadresse an deinen Mann würde ergehen lassen oder sein Beileid bezeigen für das traurige Vorgefallene der letzten Zeit? – Nichts von allem dem; der Stadtschreiber wurde beauftragt, den Brief deines Mannes einfach zu beantworten.«

»Nun, und damit war wohl Alles zu Ende?«

»Im Gegentheil; auf der Tagesordnung stand der Bericht über die Einrichtung jenes verruchten Hauses, welches dein Mann um eine Bagatelle von jenem Herrn von Rivola für die Stadt erhandelt – o, diese verdächtige Personage wollte es mit all seinen schrecklichen Erinnerungen vom Halse haben!«

»Laß uns darüber nicht mehr reden – mag das sein, was es will, so sollte der Gemeinderath dankbar dafür sein, daß ihm mein Mann dieses für die Stadt so nothwendige Haus um einen so billigen Preis verschafft.«

»Dankbar? Wenn ich dir nun sage, daß man nahe daran war, diesen Kauf rückgängig zu machen, daß sich sämmtliche Gemeinderäthinnen dahin geeinigt, dieses unheimliche Geschenk nicht anzunehmen, daß es mit seiner Vergangenheit nur ein böses Beispiel für sie sein müsse, daß man nicht wissen könne, zu welch' fürchterlichen Dingen auch noch ferner jener unterirdische Gang benutzt werde?«

»Auch noch ferner? O, wie du grausam bist!«

»Die Wahrheit vor Allem – ich habe es mir angelobt, stets die Wahrheit zu sagen – aber nur die Wahrheit, wenn du diese aber nicht hören willst, so kann ich auch schweigen.«

»So sprich denn!« sagte die arme, gequälte Frau mit einem tiefen Seufzer.

»Ja, das war beschlossen von lauter braven, würdigen Frauen, von Frauen, die nicht alles unbedingt glauben, was ihre Männer ihnen zu sagen für gut finden – von Frauen, die ihre Augen offen behalten und ihr Hausrecht zu wahren wissen.«

Jeden dieser Sätze sprach die Revisorin mit einer nicht zu verkennenden Betonung, wobei ihre grauen Augen immer schärfer, ihre Nase immer spitziger wurde.

»Und weißt du auch, warum dieser Beschluß nicht zur Ausführung kam?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Weil eine wohlwollende, versöhnliche Seele – ich will sie nicht nennen, diese Seele – zufällig bei dieser Verhandlung anwesend war, die vermittelnd vorschlug, das wüste Haus dadurch unschädlich zu machen, daß man den unterirdischen Gang zumauere – ich kann dir versichern, dieser Vorschlag wurde von sämmtlichen Gemeinderäthinnen zum Beschluß erhoben und darauf heute, wie sich das von selbst versteht, vom Gemeinderathe ebenso einstimmig angenommen.«

»So muß ich Ihnen ja auch noch dafür dankbar sein, werthe Frau Schwägerin,« hörte man jetzt die Stimme des Stadtschultheißen sagen, der ungehört wieder eingetreten war, »daß eine Maßregel, die ich vorschlug, weil ich sie als nützlich erkannt, ausgeführt wird, nachdem sie von einem wichtigeren Collegium, als dem der Gemeinderäthe, befürwortet wurde – sagen Sie das diesem Collegium, wenn ich bitten darf; im Übrigen aber wünschte ich diese Unterhaltung mit meiner Frau ein für alle Mal abgebrochen!«

»Ich glaube, Sie recht zu verstehen, Herr Schwager,« gab die Revisorin in scharfem Tone zur Antwort, indem sie sich langsam erhob und ceremoniös verbeugte – »endlich einmal sind Sie so wahr, um kein Geheimniß mehr zu machen aus dem Groll und dem Hasse, den Sie, der vornehme, reiche Mann, gegen mich, die arme Revisorsfrau, stets im Herzen trugen!«

»Aber, Sophie!«

»Laß sie nur ausreden – wenn man sich zum letzten Male sieht, muß man nichts auf seiner Seele behalten.«

»Und ich – habe nichts mehr zu sagen, will nichts mehr zu sagen haben – will nicht – verstehen Sie mich wohl, nicht aus Unkenntniß der Lage der Sache; denn wenn man von gewisser Seite auch Alles gethan hat, um gewisse Dinge zu verschleiern und zu bemänteln, so können Sie mir doch glauben, Herr Schwager, daß das Geheimniß der Stadt Niemandem mehr ein Geheimniß ist!«

»Ah, das Geheimniß der Stadt, verehrte Frau Schwägerin – Sie bringen mich da auf das richtige Capitel: wissen Sie, was das Geheimniß der Stadt ist – nicht nur unserer Stadt, sondern auch jeder anderen, in der sich edle, wohlwollende Seelen so gründlich um das Beste ihrer Nebenmenschen bekümmern? Ich will es Ihnen sagen: das Geheimniß der Stadt ist meistens an und für sich ein ganz unbedeutendes Ding – hier bei uns zum Beispiel das Zumauern des unterirdischen Ganges, anderswo vielleicht eine unschuldige, etwas freie Äußerung, der auffallende Anzug einer Frau, die zufällige Begegnung zweier Personen, etwas Geld, das der Nachbar mehr ausgibt, als wir – das ist der kleine, nicht redenswerthe Punkt, den Klatschsucht und Verläumdung lawinenartig zu vergrößern wissen. Daß man darin gegen mich besonders thätig war, hauptsächlich von nahe stehenden Verwandten und sogenannten Freunden, weiß ich ganz genau, und wenn auch die unglückselige Geschichte mit Ferdinand nicht dazwischen gekommen wäre, so würde es doch den jakobinischen Clubs, Kaffeegesellschaften genannt, gelungen sein, meinen guten Namen auf's Schaffot zu bringen, wie es schon mit so manchem anderen gegangen ist und fortan noch geschehen wird, so lange es Weiber gibt, die, statt sich um ihre Haushaltungsgeschäfte zu bekümmern, unerbittlich Jagd machen auf den guten Namen ihres unschuldigen Nebenmenschen. – So, jetzt wissen Sie meine Meinung von dem Geheimnisse der Stadt, und um Ihnen, was uns anbelangt, keine fernere Veranlassung zu geben, sich in dieser Richtung mit uns zu beschäftigen, so habe ich die Ehre, mich und mein ganzes Haus für alle Zeiten Ihrer Vergessenheit zu empfehlen!«

Die Geberde, welche der Stadtschultheiß bei den letzten Worten machte, war so bezeichnend, daß darauf erfolgen mußte, was erfolgte, daß nämlich die Frau Haupt-Staatsschulden-Tilgungskassen-Revisorin, mit einem schmerzlichen Blicke auf ihre Schwägerin und einem, in welchem Haß und Verachtung gemischt war, auf den Stadtschultheißen, den Kopf in den Nacken warf und zum Zimmer hinausrauschte.

»So, der böse Geist wäre ausgetrieben,« fuhr Herr Welkermann nach einer kleinen Pause, aufathmend, fort; »wollte Gott, ich hätte früher in dieser Richtung bessere Umschau gehalten! Doch ist noch nicht Alles verloren, und du wirst sehen, daß es auch außerhalb der Kreise unserer sogenannten wohlwollenden Freunde noch Menschen gibt, die es gut mit uns meinen – freie, unabhängige Menschen, und es ist ein Glück, daß unsere Verhältnisse uns nicht zwingen, sie gerade in den Mauern dieser Stadt zu suchen! – O, wie ich mich nach frischer Luft und nach anderen Gesichtern sehne – wie es mich drängt, ein wenig über die Berge hinweg zu kommen, die unserer guten Stadt förmlich den Hals zuschnüren und ihr nicht gestatten, frisch und fröhlich aufzuathmen!«

»Und Ferdinand?« fragte die besorgte Mutter.

»Es wird ihm nicht schwer werden, seine vollkommene Schuldlosigkeit zu beweisen – ich bin davon fest überzeugt und will dir auch nicht verhehlen, daß der Polizeirath Merkel, der alte, langjährige Freund unseres Hauses, gleichfalls die beste Meinung von ihm hat. Daß er immer noch einen Rückhalt in den so klaren Aussagen Ferdinand's wittert, das liegt nun einmal in seinem Geschäfte, und deßhalb konnte ich es ihm heute Morgen auch nicht übel nehmen, daß er mich dringend bat, auf meinen Sohn einzuwirken, um ihn zu veranlassen, mir unverhohlen Alles, selbst das Gravirendste, mitzutheilen; auch ließ er mich zu diesem Zwecke mit Ferdinand allein, doch muß ich dir schon gestehen, daß seine Betheuerungen, er habe alles gesagt, was er wisse, auf mich den Eindruck vollkommenster Wahrheit machten. Dabei ersuchte er mich, an Welden, von dem er mit der größten Achtung und Freundlichkeit sprach, ein paar Worte gelangen zu lassen, die er gern selbst aufgeschrieben hätte, wenn ihm nicht alle Schreibmaterialien auf's strengste untersagt wären.«

»Ach, dieser Welden,« sagte Frau Welkermann nach einem tiefen Seufzer, »ich hatte ihn so gern, er war in unserem Hause so gut aufgenommen, und von dem unglückseligen Zusammentreffen mit ihm datirt sich das Unglück Ferdinand's.«

»Woran aber Welden so unschuldig ist, wie du und ich; das ist auch Ferdinand's Ansicht, und deßhalb nahm ich gar keinen Anstand, ihm das Versprechen zu geben, Welden die paar Worte zu schreiben, Worte, deren Sinn ich übrigens nicht begriff, die mir aber in der Angelegenheit unseres Sohnes als gänzlich unverfänglich erschienen, denn sonst würde ich nicht verfehlt haben, den Polizeirath Merkel, der, wie schon bemerkt, gegen uns so wohlwollend wie möglich handelt, davon in Kenntniß zu setzen.«

»Und was sollst du denn Herrn Welden von unserem unglücklichen Ferdinand schreiben?«

»Daß Ferdinand den zwölften Mai eben so wenig vergessen würde, als die Freundlichkeit Welden's, und daß er sicher wüßte, die fragliche Thräne, die um ihn geweint worden, sei den geraden Weg abwärts gegangen, ohne sich mit einer anderen Thräne zu vermischen, und deßhalb würde er seine Verpflichtungen erfüllen.«

»Ich verstehe das nicht.«

»Ich auch nicht,« sagte der Stadtschultheiß: »doch vermuthe ich fast,« setzte er hinzu, während sich seit mehreren Tagen zum ersten Male wieder ein kleines Lächeln auf seinen Zügen zeigte, »daß das irgend eine Geschichte ist, wie sie junge Leute wohl zu haben pflegen – eine Thräne, die um ihn geweint worden – nun, ich versprach, ihm den Gefallen zu thun – hier ist der Brief an Herrn Welden, und ich werde ihn sogleich auf die Post bringen lassen.«

Dies geschah denn auch, und da es für unsere Geschichte von großer Wichtigkeit ist, beim Empfange des Schreibens gegenwärtig zu sein, so wollen wir demselben vorauseilen, um uns dabei auch nach dem jungen Ingenieur umzusehen.

Welden hatte stundenlang finster brütend in der Ecke seines Wagens gesessen, und erst nach und nach, als schon mehrere Berg- und Hügelreihen zwischen ihm und der Stadt lagen, welche er verlassen, als die Strahlen der Sonne freundlich um ihn spielten und als bei ihrem warmen Kusse das ganze, wunderbar liebliche Bild des Frühlings so mächtig auf ihn eindrang, da war es ihm, als erwache er aus tiefem Schlafe und sei das, was er in den letzten Wochen und Tagen erlebt, nur ein schwerer, böser Traum gewesen. Und diesen Gedanken hielt er fest, war doch die Vergangenheit für ihn farb- und leblos geworden und mußte es bleiben, wenn er auf eine erträgliche Zukunft hoffen wollte. – Und er hatte noch eine Zukunft, das fühlte er; ja, mit dem Zurückdrängen jener traumhaften Gestalten – und er konnte sie zurückdrängen bis auf ein einziges Bild, das allerdings eben so glänzend als schmerzlich zwischen allen anderen hervorstrahlte – erschien die große, schöne Aufgabe, die vor ihm lag, schon der Mühe werth, um jene düsteren Schatten zu vergessen.

So heiterten sich nach und nach seine Gedanken auf und gewannen, wie er langsam aufwärts stieg in die freiere, elastischere Luft des Gebirgslandes, wo er seine Thätigkeit entfalten sollte, ihre alte Frische und Spannkraft wieder, besonders jetzt, wo er mit Einem Male vor sich zwischen zwei niedrigen, bewaldeten Hügelreihen ein schmales Wiesenthal erblickte, mit kleinen, roth und weiß beflaggten Signalstangen. Ah, wie ließ ihn diese erste Spur der riesenhaften Arbeit, die er vor sich hatte, so leicht und freudig aufathmen! Und je weiter er fuhr, um so schärfer und ausgesprochener wurden diese Spuren. Da sah man schon die Vorarbeiten zu einem beginnenden Damme, dort zum Durchstiche einer quer vorliegenden Hügelkette; weiterhin an einer höheren Felswand bemerkte man schon die Maße eines Tunnelgewölbes einhauen, und an den Ufern jenes reißenden Baches lagerten schon Steinhaufen und Gerüstholz zu einer projectirten Brücke. Ah, wie das lustig anzusehen war – und erst eine Stunde später, als er das tief liegende Waldthal erreichte, wo die Arbeiten im vergangenen Herbste eingestellt worden und wo man jetzt wieder eifrig daran war, den haushohen Bahndamm zu vollenden, wo Karren auf provisorischen Schienen von zahlreichen Arbeitern hin- und her geschoben wurden, wo Welden aus seinem Wagen sprang, auf den Damm eilte, die Arbeiter anredete und von diesen sowie von seinen Unter-Beamten und Bauführern mit einem lauten Hurrah begrüßt wurde! Es war dies eine Freudenbezeigung, die sich wie ein Lauffeuer auf der ganzen Linie fortsetzte, ein Telegraph menschlicher Stimmen, der endlich fern ab im Forste zwischen den bewaldeten Hügeln erstarb, aber nicht, ohne dort als lautes Echo den dumpfen Knall von drei bis vier Böllern erweckt zu haben.

»Da hat gewiß der alte Heilemann wieder die Hand im Spiele,« sagte Welden mit heiterem Gesichte zu dem neben ihm dahin schreitenden Ingenieur.

»So ist es, Herr – Welden,« antwortete der Ingenieur; »es wurde gestern vom Bauamte angezeigt, daß Sie heute kommen würden, und da wir nicht anders dachten, als Sie nähmen Ihre Wohnung wieder bei Herrn Heilemann, so zeigten wir ihm Ihre Ankunft an.«

»Wenn er Platz für mich hat, werde ich gewiß zu ihm gehen.«

»O, was das anbelangt, so können Sie sich beruhigen, er hat Ihre Zimmer den ganzen Winter über leer stehen lassen.«

»Gut, ich freue mich recht sehr, den alten Heilemann wiederzusehen! Und wie steht's hier oben mit den Arbeitern – werden wir genug Tagelöhner haben können? Die Bahnlinie soll mit Aufbietung aller Kräfte gebaut werden.«

»Es wird nicht fehlen – es melden sich aus der Gegend Leute genug zur Arbeit, und dann ist uns auch schon ein bedeutender Zuzug von Fremden angezeigt.«

»Ah, wie ich mich auf unsere Arbeit freue, es wird ein schönes und malerisches Werk werden!«

»Gewiß, Herr – Welden.«

»Ich glaube, es wird Ihnen schwer, meinen Namen auszusprechen,« sagte Welden lachend – »haben Sie mich denn so ganz vergessen?«

»Im Gegentheil – Sie können mir glauben, daß wir mit einer wahren Herzensangst der Bestätigung Ihrer Ernennung entgegensahen, und um ihre Freude auszudrücken, haben die Arbeiter fast die ganze Nacht an den Guirlanden und Kränzen gearbeitet, die Sie dort am Eingange des engen Thales sehen.«

»Also gilt alles das mir?« fragte der Ingenieur mit strahlendem Auge und setzte nach einer Pause hinzu: »Ich dachte mir, Sie erwarteten irgend eine hohe Person.«

»Nun, ich meine,« erwiederte der junge Bauführer schmunzelnd, »wenn man ein solches Riesenwerk zu bauen anfängt, so könnte man sich schon für eine hohe Person halten.«

»Ja, ja, zu bauen anfängt, aber das alles ist vor der Hand nur bedingungsweise – ich darf allerdings hier oben anfangen, aber wer weiß, ob sie mir nicht in kurzer Zeit einen würdigen Baurath, der des Schreibens wohl kundig ist, als Ober-Ingenieur hieher schicken – man hat Ähnliches schon erlebt.«

»Ich glaube kaum,« gab der Bauführer lächelnd zur Antwort.

»Nun, wir wollen sehen; wenn sie mich nur wenigstens ein halbes Jahr hier oben allein lassen, bis mir so viel als möglich in Angriff genommen haben, damit sie uns nicht mehr zu viel verderben können, dann wollte ich schon zufrieden sein – meine Pläne zu dem hohen Viaduct der Kirchheimer Schlucht sind doch zur Zeit angekommen?«

»Gewiß, und wir haben sie schon tüchtig studirt, wozu Sie uns ja schriftlich die Erlaubniß gaben.«

»Wird die Ausführung dieser Plane irgendwie Anstände haben?«

»Nicht im geringsten – sie sind so genau und dabei so praktisch, daß jeder Werkmeister den Viaduct bauen könnte.«

»Ich freue mich aber doch, dabei sein zu können – es gibt das eine hübsche, aufregende Arbeit.«

Während dessen waren Beide auf der langen, hier schon deutlich hervortretenden Bahnlinie dahin gegangen, von den Arbeitern auf's herzlichste begrüßt, sowie auch von den hier und da vertheilten jüngeren Bauführern, die Welden theils von früher noch kannte oder die er sich anderentheils von seinem Begleiter nennen ließ.

Jetzt beschrieb die Bahnlinie eine große Kurve um den Ausläufer einer hohen Bergkette herum, deren Durchbohrung man durch diesen Bogen vermieden hatte, und Welden sah vor sich das Dörfchen Kirchheim liegen und auf einer Anhöhe diesseits das Haus seines Gastfreundes Heilemann. Rechts und links von der Bahnlinie sah man hier von Zeit zu Zeit große Stangen mit Laubgewinden, die sich kurz vor dem Dorfe als Guirlanden quer über die Bahn von einer Stange zur anderen schlangen und deren letzte ein auf Papier gemaltes riesiges »Willkommen!« trug.

Da krachte es abermals aus den Böllern vor Heilemann's Hause, neben dem ein mächtiger Baum aufgepflanzt war, auf dessen Spitze eine riesige schwarzrothgoldene Flagge flatterte. Da sah man Heilemann selbst vor der Thür seines Hauses stehen und schon von Weitem seinen Dreispitz schwingen, und obgleich heute kein Sonntag war, so befand sich doch der reiche Bauer mit Frau und Tochter, ja, mit seinem ganzen Hausgesinde in festtäglichem Anzuge. Er selbst war wahrhaft stattlich anzusehen in dem langen, blauen Rocke von feinstem Tuche, der rothen Weste, an welcher Silberzwanziger die Stelle der Knöpfe vertraten, mit den kurzen hirschledernen Hosen und den blau- und weißgestreiften, Strümpfen, nicht zu vergessen die blank gewichsten Schuhe mit den schweren silbernen Schnallen. An der rechten Seite aus dem Beinkleide hervor schaute der silberbeschlagene Griff eines Messers, und wenn sich Herr Heilemann zufällig umgedreht hätte, so würden wir, da er sich in großer Parade befand, hinten aus der Tasche seines Rockes die bunten Quasten sowie die Mundspitze seiner Tabakspfeife, eines echten Ulmer Kopfes, gesehen haben.

Aber Herr Heilemann drehte sich nicht herum, er blickte dem rasch Herankommenden mit frohem, stark geröthetem Antlitze entgegen, in der Rechten den Hut schwingend, den er aber jetzt mit einem tüchtigen Schlage auf seinem Kopfe befestigte, um Welden seine beiden Hände entgegenstrecken zu können. Neben ihm stand die Bäuerin mit einem Teller in der Hand, auf dem sich das Ehrenglas des Hauses voll funkelnden Weines, sowie eine blendend weiße Brodschnitte befand, und bald hinter der Mutter verborgen bemerkte man Jungfer Dorothea, die vierzehnjährige Tochter des reichen Hofbauers und Ortsvorstehers. Letztere hatte ganz rothe Wangen, weil sie sich mächtig schämte, so vor aller Welt und besonders vor den jungen Bauleuten ebenfalls einen Teller tragen zu müssen, auf dem man indessen nichts sah, als einen großen Blumenstrauß. Vater Heilemann hatte es aber nicht anders gethan, und wenn es nach seinem Wunsche gegangen wäre, sagte die Bäuerin später lachend, so hätte er sogar den Kühen und Ochsen im Stalle die Hörner mit Blumen umwinden lassen.

Wenn nun Welden auch schon vor einem Jahre, als er zum zweiten Male das gastfreie Haus des Herrn Heilemann betreten hatte, auf's herzlichste begrüßt worden war, so war doch der heutige Empfang ein so überwältigend feierlicher, daß der Ingenieur nun, dem Beispiele seines Wirthes folgend, ebenfalls den Hut abnahm und in der Hand behielt, um so ehrfurchtsvoll die gediegenen Worte zu hören, mit denen ihn Heilemann begrüßte, wobei es ihn indessen einigermaßen befremdete, als er nun am Schlusse derselben unter dem Blumenstrauße Dorotheens einen großen Brief hervorzog, ihn dem jungen Manne einhändigte und dabei mit seiner gewaltigen Stimme rief: »Und so sei er denn nochmals willkommen und lebe hoch unser neuer Herr Ober-Ingenieur – hoch und abermals hoch!«

Und dasselbe riefen die Bauleute und schrieen die Knechte und Mägde des Hauses. Auch krachten die Böller abermals, und dann führte Heilemann seinen Gast unter diesem allgemeinen Gelärm in die ihm von früher her so wohl bekannten Zimmer.

Dann ließ er ihn allein, und Welden trat mit einem unaussprechlich wohlthuenden Gefühl an das Fenster und ließ seine Blicke über die frisch grünen, eben erst belaubten Wälder streifen, wo er jeden Weg kannte, wo er schon so froh und glücklich gewesen war und wo er es wieder hätte sein können – wenn nicht – wenn nicht – seine jüngste Vergangenheit gewesen wäre, an die er jetzt wieder so plötzlich erinnert wurde durch das Erblicken der ihm so wohl bekannten Schriftzüge seines früheren Chefs.

Er riß den Umschlag ab, und der Inhalt des Schreibens konnte für ihn nicht befriedigender sein: es war ein ministerielles Decret, welches ihn zum Oberingenieur der zu erbauenden Bahn ernannte und die Ausführung derselben ohne jede Beschränkung in seine Hand legte, womit natürlicher Weise ein Gehalt verbunden war, das seine kühnsten Erwartungen übertraf. Oberbaurath Lievens hatte ihm dieses Schreiben übermittelt und einige herzliche Zeilen hinzugefügt, wobei er ihm und zu gleicher Zeit auch dem Staate zu dieser Anstellung Glück wünschte. Schließlich sagte er:

»Was uns allein hierbei schmerzlich fällt, mir und meiner Frau, welche selbstverständlich den regsten Antheil an Ihrem Glücke nimmt, ist der Umstand, daß wir Sie nun so bald nicht mehr sehen werden, indem man mir bei der Auflösung meines Eisenbahnbureau's die Erbauung der schon längst projektirten großen Donaubrücke übertragen hat. Somit liegt zwischen Ihnen, der sich an der Nordgrenze befindet, und zwischen uns, die wir im äußersten Süden sein werden, das ganze, wenn auch nicht gerade ungeheure Reich, brieflich allerdings leicht zu durchfliegen, sowie es auch keine Entfernung ist für unsere herzlichsten Wünsche.«

Welden blieb gedankenvoll am Fenster lehnen, nachdem er diese Schreiben gelesen; dann sprach er zu sich selber: »Mein günstiges Schicksal sei gepriesen, das mir Arbeit vollauf gibt, um damit alle finsteren Gedanken verjagen zu können!«

Und so war es auch; sein Wirkungskreis war so weit und herrlich, aber dabei von so großer Verantwortlichkeit begleitet, daß er trotz seiner gediegenen Kenntnisse genug zu thun hatte, um die ihm gestellte Aufgabe ehrenvoll zu bewältigen. Aber er warf sich mit voller Lust und Jugendkraft in die vielseitige Arbeit, ja, er wollte sogar heute, als am Tage seiner Ankunft, diesen nicht als Feiertag gelten lassen, wie es Heilemann angeordnet.

Angenehm für Welden, hatte dieser ein junges, kräftiges, selbst aufgezogenes Reitpferd überflüssig, das der Ober-Ingenieur sogleich kaufte, selbst sattelte und zäumte und in die waldige Gegend hinaus ritt, um sich an verschiedenen Stellen über einige Punkte, die ganz besondere Schwierigkeiten darboten, aufzuklären. Auch die nächsten Tage brachten der Arbeiten so viele, daß Welden nicht Zeit gewann, an die Vergangenheit zu denken, und wenn er auch dergleichen Gedanken mit aller Kraft zurückdrängte, so empfing er doch nach einigen Tagen einen Brief mit dem Poststempel der Residenz nicht ohne sichtbare Aufregung.

Es war dieses ein Schreiben des Stadtschultheißen Welkermann – er hatte sogleich nach der Unterschrift geblickt, um nun, wie er dachte, die Zeilen ruhig durchlesen zu können; aber es kam anders, als er erwartet; schon nach den ersten Worten, die er las, spannten sich seine Mienen scharf und waren überflogen von einem ängstlichen Ausdrucke; er preßte seine Lippen fest auf einander, und als er zu Ende gelesen, ließ er die Hand mit dem Briefe sinken und rief mit erschreckter Stimme, während seine Züge mit einer tiefen Blässe überzogen waren: »Dieser unglückselige Mensch! – Ach, warum willigte ich ein, ein so frevelhaftes Spiel zu treiben? – Und wenn es mich statt seiner getroffen hätte – lebensmüde, wie ich mich in jenen furchtbaren Tagen fühlte, würde ich nicht am Ende auch die Wahrheit bezweifeln? – Welch ein furchtbarer Wechsel gegenüber der seligen Ruhe, die ich hier genossen! – Ich muß hin zu ihm, ich muß ihm seinen Unglauben zu benehmen suchen, mich im Nothfalle an den Polizeirath wenden und ihn als letzte Hülfe in Bande und Fesseln legen lassen!«

Wiederholt las er den Brief in fliegender Hast; diese Zeilen, in so ruhigem Ausdrucke sie auch von dem unglücklichen Vater Ferdinands ahnungslos geschrieben waren, ließen für ihn keine andere Deutung zu. Am Schlusse sagte Herr Welkermann:

»In der Angelegenheit Ferdinands vertraue ich auf Gott und auf seine Unschuld, von welcher ich auf's festeste überzeugt bin; doch können Sie sich denken, mein lieber Herr Welden, daß es mir nach dem, was vorgefallen, unmöglich ist, länger hier in der Residenz zu bleiben. Wie glücklich sind Sie, dort auf dem Lande in der herrlichen, Alles versöhnenden Natur weilen zu dürfen, und auch ich will Alles thun, um eines ähnlichen Glückes theilhaftig zu werden, zu welchem Zwecke ich Sie bitte, die Einlage Ihrem vortrefflichen Wirthe, Herrn Heilemann, zu übergeben. Es handelt sich darin um ein schönes Gut, das nicht weit von Kirchheim zu verkaufen ist, und ersuche ich in der Einlage Herrn Heilemann noch um einige erklärende Einzelheiten, die mir nothwendig sind. – Glauben Sie mir, mein lieber Herr Welden, daß wir uns Alle sehr darauf freuen, Sie dorten, so nahe Ihrem schönen Wirkungskreise, begrüßen zu können.«

Er faltete diesen Brief zusammen und war nach kurzer Überlegung entschlossen, nach der Stadt zurückzukehren, Ferdinand aufzusuchen und ihn wo möglich von seinem gefährlichen Wahne zu befreien, als habe er, Welden, an jenem verhängnißvollen Morgen den Großmüthigen gespielt und als habe nicht vielmehr das Schicksal durch Zusammenfließen der Regentropfen milde und gütig ihr frevelndes Spiel geendigt. –

Aber wenn es ihm nicht gelingen würde, Ferdinand zu überzeugen? O, diesen Gedanken mochte er nicht verfolgen – er wäre in seinen Folgen zu entsetzlich für Beide gewesen!

Um allen Fragen seines freundlichen Wirthes über seine Abwesenheit zu entgehen, besonders da dieselbe nur ein paar Tage dauern würde, beschloß er, gar nichts davon zu sagen, sondern nur eine längere Untersuchung auf der Bahnlinie vorzugeben, weßhalb er sein Pferd sattelte, etwas Wäsche zu sich steckte und einen Weg quer durch das Gebirge wählte, wo er nach einigen Stunden im Thale die Landstraße und von dort mit Postgelegenheit die Residenz erreichen konnte.

Auf der mehrstündigen nächtlichen Fahrt dorthin hatte er Zeit genug, durch reifliche Überlegung zu dem Entschlusse zu kommen, dem Polizeirath Merkel die ganze Thorheit jener Unterredung mit Ferdinand einzugestehen, ihm das Schreiben des Stadtschultheißen zu zeigen und so um so eher und rascher die Erlaubniß, Ferdinand sprechen zu können, zu erhalten.


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