F. W. Hackländer
Das Geheimniß der Stadt
F. W. Hackländer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Welden war am anderen Morgen allein auf seinem Bureau. Baron Miltau, der sich ihm in aller Frühe durch ein Billet, die Geschichte mit Welkermann betreffend, zur Verfügung gestellt und ihn darauf besucht, hatte ihn soeben verlassen, um sich als Cartelträger zu Ferdinand zu begeben.

Es war ein Feiertag und deßhalb außer ihm Niemand auf den Zeichnungszimmern, nicht einmal der Oberbaurath Lievens, was dem jungen Ingenieur sehr angenehm war; er hatte seinen Kopf noch zu voll von dem gestrigen Vorfalle, um sich seinen eigenen Arbeiten oder denen der Anderen widmen zu können. Am Fenster stehend, blickte er an dem trüb gewordenen Winterhimmel empor, in Nachsinnen versunken, ob er gestern Abend hätte anders handeln können oder sollen – können vielleicht wohl, doch gereute es ihn durchaus nicht, daß er mit dem übermüthigen jungen Menschen so verfahren, wie er es gethan. Was konnte auch die Folge davon sein? Ein Zusammentreffen, wie er schon ähnliche gehabt – er war in der Lage, Ferdinand zu fordern, jener hatte also den ersten Schuß, und wenn die Kugel ihn nicht traf, wie es ja wohl möglich war, so lag es in seiner Hand, den jungen Mann ganz zu verschonen oder ihm einen leichten Denkzettel zu geben.

Welden war ein guter Pistolenschütze, und, was die Hauptsache war, sein Gleichmuth und seine Ruhe hatten ihn in schwierigeren Lagen nicht verlassen, also auch nicht vor der Mündung einer Pistole.

Es war vielleicht eigenthümlich, vielleicht auch sehr natürlich, daß ihm bei diesen Betrachtungen das Bild Lucy's von Rivola häufiger als sonst vor seine Seele trat, und er ärgerte sich, wenn er bedachte, daß man im Hause des Freiherrn, wie ja auch wohl überall in der Stadt, diese an sich so unangenehme Geschichte noch mit großen Zusätzen erfahren würde: ein Streit beim Spiele mit jüngeren, leichtsinnigen Leuten – was mochte man über ihn im Hause des Freiherrn denken, wo er stets als das Muster eines besonnenen und vollkommen soliden jungen Mannes gegolten hatte?

Er beschloß, allen Gerüchten zuvorzukommen und dem Baron von Rivola die ganze Geschichte zu erzählen.

So am Fenster stehend und mit seinen Gedanken beschäftigt, hatte er es überhört, daß an die Thür des Nebenzimmers, wo der Eingang zu den Bureaux war, geklopft wurde, und wandte sich jetzt rasch um, als er das Knarren dieser Thür sowie Schritte hörte, welche sich dem Gemache näherten, in dem er sich befand. Es war der Polizeirath Merkel, der mit seinem wohlwollenden Lächeln nun vor ihm auf der Schwelle stand und ihm einen freundlichen Guten Morgen bot.

»Sie werden überrascht sein, mich schon so früh bei sich zu sehen.«

»Bin aber sehr erfreut darüber,« erwiederte der junge Ingenieur, »und halte es für recht passend, daß die hohe Polizei, der eigentlich nichts heilig ist, wenigstens den Feiertag verehrt, indem sie ihre Geschäfte bei Seite läßt und Besuche macht.«

»Leider kann ich Ihnen das nicht bejahen, so gern ich auch meine Sonn- und Feiertage für mich hätte. Glauben Sie mir, wir sind schlimmer daran, als die Briefträger, die doch nur zu gewissen Stunden in der Stadt umher zu traben haben, wogegen wir uns sagen können: keine Ruh' bei Tag und Nacht. – Doch wie geht es Ihnen? Ich hatte in der Nähe zu thun und bin nur gekommen, um nach Ihnen zu sehen, ja, sogar ohne bei meiner Schwester einzutreten.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Polizeirath,« antwortete Welden, »besonders wenn Sie mir in der That ohne alle und jede Nebenabsicht so früh schon Ihren Besuch schenken.«

»Man muß sich vor Ihnen in Acht nehmen,« entgegnete der Andere lächelnd, indem er sich rittlings auf einen der Zeichenstühle setzte – »nun denn, so frage ich ohne alle Beziehung, ob Sie gut geschlafen haben.«

Lag bei diesen Worten etwas Auffallendes in den Blicken des Polizeiraths oder glaubte Welden das nur, der sich, wie wir wissen, in Gedanken sehr mit dem gestrigen Abende beschäftigt hatte und deßhalb auch diese Frage damit in Zusammenhang brachte, genug, er erwiederte:

»Wenig und unruhig; ich war lange auf und unsere Unterhaltung sehr animirt.«

»Ja, ja,« machte der Polizeirath und fuhr in gleichgültigem Tone fort, während er mit seinem Spazierstocke etwas hangen gebliebenen Schnee von der Spitze seines Stiefels entfernte: »Das Spiel regt auf, selbst wenn man eigentlich so zu sagen nur Zuschauer ist.«

»Habe ich vom Spiel gesprochen?« fragte Welden im Tone der Verwunderung.

»Nein, aber ich,« versetzte der Andere, indem er dem jungen Manne mit großer Ruhe in's Gesicht schaute und dann lachend beifügte: »ich, der Polizeirath Merkel.«

»Als solcher?«

»Nein, als guter Freund meines guten Freundes.«

»Sehen Sie, wie Recht ich vorhin hatte,« fuhr Welden nach einer kleinen Pause fort, während welcher er in das herzliche Lachen des Anderen eingestimmt hatte; »also Alles wohl berechnet und Heuchelei: das Respektiren des Feiertages, das Bedürfniß, mich am frühen Morgen zu sehen.«

»Ich konnte doch nicht mit der Thür in's Haus fallen, ich konnte es Ihnen doch nicht sogleich sagen, ehe ich mich nur gesetzt und ehe Sie mir eine gute Cigarre angeboten, was Sie beiläufig noch nicht gethan haben, junger Mann.«

»Hier ist das Beste, was ich habe, Flor fin, das wird Sie hoffentlich milder stimmen, denn Ihre Anrede verspricht nichts Gutes.«

»Ihre Cigarre ist vortrefflich; doch nun lassen Sie mich fortfahren, undankbar aber gerecht. Junger Mann, Sie waren gestern Abend im Holländischen Hofe, und zwar in einem Hinterzimmer desselben, wo soupirt und später gespielt wurde, ein sehr interessantes, aber abscheuliches Spiel, welches man Makao nennt.«

»Bis dahin sind das unläugbare Thatsachen.«

»Ich brauche weder Läugnen noch Beistimmung, junger Herr, ich bin meiner Sache so gewiß, als ob ich selbst dabei gewesen wäre; Sie allerdings spielten sehr bescheiden, aber andere Leute trieben ein Spiel, das weit über deren Verhältnisse geht und in das sich die hohe Polizei eigentlich mischen sollte, wenn sie im vorliegenden Falle nicht Wichtigeres zu thun hätte.«

»Wichtigeres – worin besteht dieses Wichtigere?«

»In einem wahrscheinlich heute Morgen schon eingefädelten Engagement mit Herrn Ferdinand Welkermann, einem großen Taugenichts, dem eine tüchtige Lection allerdings nichts schaden könnte, für den ich aber in anderer Beziehung eine so große Zuneigung empfinde, daß es mir ganz entsetzlich wäre, wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt würde.«

»Ich verstehe Sie wahrhaftig nicht, Herr Polizeirath.« »Ist auch vor der Hand ganz unnöthig.« »Aber wenn ich Sie versichere, daß die Polizei, trotz ihrer Allwissenheit, dieses Mal doch nicht den richtigen Weg geht?«

»Mein lieber Welden,« gab hier der Polizeirath, plötzlich ernst werdend, zur Antwort, »ich verlange durchaus nicht, daß Sie mir den gestrigen Abend betreffende Zugeständnisse oder noch weniger Confidenzen machen; ich brauche das nicht, denn ich bin meiner Sache zu gewiß – wollen Sie Beweise?«

»Warum nicht, wenn es Ihnen gefällig wäre?«

»Mit vielem Vergnügen – also gestern Abend wurde in dem gewissen Hinterzimmer des Holländischen Hofes Makao gespielt; Sie setzten, wie es sich für einen vernünftigen Mann geziemt, Andere aber, verzeihen Sie mir den Ausdruck, wie die Narren, besonders Herr Welkermann, der außer unbedeutenderen Einsätzen das erste Mal dreitausend Gulden an Baron Miltau verloren, dann nochmals viertausend Gulden an denselben.«

»Ich möchte wissen, wer Ihnen das verrathen hat.«

»Niemand von denen, die anwesend waren – ich kann Ihnen mein Ehrenwort geben, daß Sie der Erste aus der gestrigen Gesellschaft sind, den ich seit vierundzwanzig Stunden spreche.«

»Unbegreiflich!«

»Allerdings. Sie schickten die Kellner fort, und es blieb nur im Vorzimmer ein unbedeutender, verschlafener Kerl, der ein paar Mal frisches Wasser und Champagner brachte . . .«

»So ist es.«

»Dem Herr Ferdinand Welkermann die theilweise verbrannte Banknote zuwarf, über welche Sie mit ihm in Streit geriethen.«

»Das geht über meinen Begriff,« sagte Welden im höchsten Erstaunen – »das ist mir unbegreiflich, da Sie soeben Ihr Ehrenwort gaben, mit Niemandem der Anwesenden gesprochen zu haben!«

»Was auch nicht nöthig war, da ich die Ehre hatte, selbst bei der Gesellschaft zu sein.«

»Ah bah,« machte der junge Ingenieur zurückfahrend, »Sie haben mich zum Besten!«

»Durchaus nicht; Sie werden sich erinnern, daß ich Ihnen gestern Abend auf der Straße sagte, Sie seien nicht im Stande, mich in einer meiner Verkleidungen zu erkennen, selbst nicht bei Gaslicht und Champagner, und Sie erkannten mich in der That nicht, als ich Sie gestern Abend fragte: Wer ist jener junge Herr, der mir die Banknote zugeworfen?«

»Sie – – jener Kellner?«

»Ich hatte die Ehre, und um Sie ganz zu überzeugen, bitte ich, dieses corpus delicti zu betrachten.«

Bei diesen Worten hatte der Polizeirath die Fünfhundertguldenbanknote aus seiner Brusttasche hervorgezogen und überreichte sie Welden, der sie kopfschüttelnd annahm, aber statt sie zu betrachten, das Gesicht Merkels, dieses ihm so wohlbekannte Gesicht, mit großen Augen anschaute. Dann sagte er: »Sie überzeugen mich, und doch zweifle ich noch!«

»Glauben Sie dem Beweise, den Sie in Ihren Händen halten; doch ist das, dessen ich vorher erwähnte, das tolle Spiel Welkermann's, diese angebrannte Banknote, nur Nebensache, vor der Hand wenigstens – was mich zu Ihnen führt, ist Ihr voraussichtliches Duell, das, es thut mir leid, es Ihnen zu sagen, unter keinen Umständen stattfinden darf.«

»Unmöglich, Herr Polizeirath,« fuhr der Ingenieur heftig empor: »Sie werden nicht von mir verlangen, daß ich mich vor einem Dutzend junger Leute beschimpfen lasse, ohne die nun einmal übliche Genugthuung dafür zu fordern!«

»Gewiß nicht, und Sie sollen alle Genugthuung haben, die Sie wünschen können: Herr Ferdinand Welkermann soll Ihnen vor allen gestern Anwesenden Abbitte leisten und es Ihnen noch obendrein schriftlich geben, daß er das gethan.«

»Dazu wird und kann er sich nie verstehen, und im Falle selbst, daß er sich dazu verstände, kann ich mich nicht damit zufriedenstellen.«

»Blutdürstiger Wütherich – nehmen Sie sich vor der Polizei in Acht – was kann Ihnen daran gelegen sein, diesem unbesonnenen jungen Menschen eine Kugel in den Leib zu jagen? – O, ich weiß,« fuhr der Polizeirath nach einer Pause fort, als Welden, der heftig im Zimmer auf und ab gegangen war, nun vor ihm stehen bleibend, den Mund zum Sprechen öffnete – »Sie sind ein ganz vortrefflicher Schütze. Sie werden mir versichern, daß Sie ihn durchaus nicht gefährlich verwunden wollen; aber, mein lieber Freund, die Kugel geht ihren eigenen Weg, und ich habe es schon erlebt, daß die besten Schützen ihr Ziel fehlten, und daß Jemand mitten durchs Herz geschossen wurde, und zwar von einem Menschen, der früher nie eine Pistole in der Hand gehabt.«

»Sei es darum!« sagte Welden in einem ärgerlichen Tone. »Aber weßhalb interessiren Sie sich für diesen Welkermann, der es doch, weiß Gott, verdient hat, daß man ihn einige Todesangst ausstehen läßt?«

»Was noch sehr zweifelhaft ist,« erwiederte der Polizeirath mit großer Ruhe; »dieser Welkermann ist allerdings ein großer Taugenichts, ein Spieler, ein leichtsinniger Verschwender, aber durchaus nicht feig, dessen kann ich Sie versichern.«

»Ich will mich von Herzen freuen, wenn dem so ist, alsdann wird er durchaus nicht einwilligen, mir die vorgeschlagene Abbitte zu thun.«

»Vielleicht doch, denn dieser Welkermann ist neben all seinen Fehlern ein ganz guter Kerl, und wenn Sie gestern Abend noch länger geblieben wären, so hätten Sie eben so gut hören können, wie es der alte Kellner gehört, trotzdem er verschlafen im Vorzimmer saß, daß sich Welkermann selbst über sein Betragen gegen Sie größere Vorwürfe gemacht, als es alle Anwesenden thaten, und daß er auf der Stelle zu jeder Ehrenerklärung bereit gewesen wäre.«

»Möglich – aber gerade deßhalb bin ich zufrieden, daß ich nicht mehr anwesend war.« Welden trat bei diesen Worten an das Fenster und setzte, an den Himmel emporschauend, hinzu: »Man spielt nicht mit solchen Dingen!« worauf er sich, nachdem Beide eine Weile geschwiegen, rasch gegen den Polizeirath mit der Frage umwandte: »Aber sagen Sie mir nun, verehrter Herr und Freund – Sie erlaubten mir häufig, Sie so zu nennen –, aus welchem Grunde sind Sie so zärtlich besorgt, daß dem Herrn Ferdinand Welkermann kein Leides geschieht?«

»Warum gerade auch ihm, mein lieber Welden? Auch Sie sind gegen eine Kugel nicht versichert – wenn meine Forderung nun ganz allein in dem Interesse für Sie wurzelte?«

»Unglaublich,« erwiederte der Ingenieur, indem er lächelnd den Kopf schüttelte; »die Motive, unser Duell zu verhindern, scheinen mir tiefer zu liegen.«

»Nun denn, das Interesse des Polizeibeamten, eine Ungesetzlichkeit zu verhindern.«

Welden machte bei diesen Worten ein so außerordentlich komisches Gesicht, daß es dem Anderen unmöglich war, ernsthaft zu bleiben.

»Ah, ich sehe,« rief er lachend, »Sie glauben mir nicht!«

»Nein, Herr Polizeirath.«

»Nun denn, so will ich Ihnen gestehen,« antwortete er, plötzlich wieder ernst werdend, »daß ich allerdings triftige Ursachen habe, im gegenwärtigen Augenblicke das größte Interesse an der Person des Herrn Ferdinand Welkermann zu nehmen, und daß es mir äußerst fatal wäre, wenn Sie ihn mir todtschössen.«

»Das ist schon etwas – aber wenn ich mich durch eine solche unglaubliche Nachgiebigkeit vor all meinen Bekannten lächerlich machen soll, so ist es doch vielleicht nicht indiscret, nach dem Grunde dieses Interesses zu fragen.«

Der Polizeirath zuckte mit den Achseln. »Mit dem eben Gesagten bin ich an der Gränze aller meiner möglichen Mittheilungen, und bitte ich Sie dringend, lieber Welden, dem Freunde Gehör zu geben, damit der Beamte nicht genöthigt ist, gegen Sie aufzutreten.«

»Wie so der Beamte?«

»Ei, eine komische Frage; Sie wollen sich duelliren, die Polizei weiß darum und muß Alles thun, um das zu verhindern, denn Sie haben gute Lust, Ihren Gegner zusammenzuschießen, und dieser Gegner ist – der Sohn eines allgemein verehrten Mannes, des Stadtschultheißen.«

»Ah, ich fange an, zu begreifen!«

»Sehen Sie, junger Mann,« sprach der Polizeirath mit einem Ausdrucke außerordentlichen Wohlwollens in den Zügen und in der Stimme, »mich freut es nur, daß Sie Gründe errathen, die man Ihnen nicht sagen darf.«

»Und wenn ich mich trotzdem weigere?«

»So müßte ich mich veranlaßt sehen, Ihnen eine Begleitung zu geben, die Ihnen zuweilen recht hinderlich wäre – seien Sie vernünftig, ich rathe Ihnen als älterer Freund; versprechen Sie mir, daß, wenn Ihnen Ihr Gegner eine Erklärung gibt, mündlich und schriftlich, wie Sie es nur verlangen können, daß Sie sich alsdann zufrieden geben wollen.«

Welden war hastig abermals im Zimmer einige Male auf und ab geschritten, und sein Kopfschütteln sowie seine finstere Miene zeigten deutlich, daß es ihm schwer, ja, unmöglich wurde, so schnell einen endgültigen Entschluß zu fassen. Endlich sagte er, vor dem Anderen stehen bleibend: »Ich kann Ihren Vorschlag nicht annehmen, die Sache ist schon eingefädelt, wie sie soll, denn die mir angethane Beleidigung war zu schwerer Art – will ihn aber auch nicht unbedingt ablehnen. Geben Sie mir drei Tage Bedenkzeit, wogegen ich Ihnen verspreche, daß das Duell innerhalb dieser drei Tage nicht stattfinden soll; ich, als der beleidigte Theil, werde das so einzurichten wissen, und daß ich so lange warte, ist schon ein großes Opfer, Herr Polizeirath, das ich Ihnen, einem mir wohlwollenden Freunde, bringe.«

»Sie sind ein harter Kopf, doch was kann ich machen – ich nehme die mir gegebene Frist an, drei Tage ohne Duell und ohne neue Reibung, welche die Sache noch schlimmer machen könnte.«

»Auch das verspreche ich Ihnen, ja, ich will noch weiter gehen, ich will einen in Sachen der Ehre erfahrenen und älteren Bekannten mit der Angelegenheit vertraut machen, mir seinen Rath ausbitten und sogar noch nach den drei Tagen dessen Rath, wenn auch nur bedingungsweise, maßgebend sein lassen.«

»Und wer ist dieser ältere Bekannte, wenn ich fragen darf?«

»Der Freiherr von Rivola – gewiß vollkommen competent in allen Ehrenangelegenheiten.«

»Gewiß,« erwiederte der Polizeirath im vollkommensten Tone der Überzeugung, wobei er noch obendrein zustimmend mit dem Kopfe nickte – »allen Respekt vor den Ansichten des Herrn von Rivola in dieser und jeder anderen Angelegenheit.«

»Und da ich heute Morgen doch nicht arbeiten kann,« fuhr Welden mit einem Zeichen des Mißbehagens fort, »so will ich gleich nach Eichenwald hinaus; »es ist das ein prächtiger Spaziergang bei dem hart gefrorenen Boden – erfrischend bei dem kalten Wetter.«

»Und abkühlend,« lächelte Herr Merkel, »wenn, wie ich glaube, etwas Schnee fallen sollte – nun, das schadet Ihnen bei einem Spaziergange nach Eichenwald in keiner Beziehung.«

Der Ingenieur schien anfänglich diese kleine, verdeckte Anspielung nicht zu verstehen oder verstehen zu wollen; als ihm aber der Andere heiter lächelnd voll in's Gesicht schaute, zuckte er leicht mit den Achseln.

»Doch da fällt mir eben ein,« sagte der Polizeirath, seine Heiterkeit plötzlich unterbrechend, »daß Sie den Baron von Rivola schwerlich zu Hause treffen werden, denn so viel ich weiß, ist er in der Stadt oder doch im Begriffe, herein zu kommen – ich erfuhr das aus guter Quelle, von dem Bankdirektor Schwemmer, mit dem er eine Zusammenkunft hat.«

»Die gewiß nicht lange dauern wird,« erwiederte Welden nach kurzem Nachsinnen, »und die mich in meinem Vorsätze bestärkt, recht langsam und so gemüthlich, als es mir in meiner Stimmung möglich, nach Eichenwald zu spazieren. Der Baron hat rasche Pferde und überholt mich wahrscheinlich, ehe ich sein Landgut erreiche.«

»Darin haben Sie Recht,« versetzte der Polizeirath, aufstehend, »und was unsere Absprache anbelangt« – er reichte dem jungen Manne die Hand – »eine dreitägige Frist.«

»So werde ich dieselbe, wie bedungen, halten, darauf können Sie sich verlassen. Sind Sie damit zufrieden?«

»Ich muß wohl, doch wäre es mir lieber, wenn Sie diese drei Tage vorbeigehen ließen, ohne überhaupt Jemanden zu Herrn Ferdinand Welkermann zu schicken.«

»Das kann unmöglich Ihr Ernst sein,« erwiederte Welden in kurzem, etwas rauhem Tone; »also es bleibt bei dem, was wir abgesprochen.«

Der Polizeirath hatte sich entfernt, und der Ingenieur durchschritt mehrere Minuten lang das Zimmer nach allen Richtungen. Seine Miene war verdrießlich; er warf seine angebrannte und wieder ausgelöschte Cigarre unmuthig von sich, fuhr dann rasch mit der Hand ein paar Mal durch sein lockiges Haar und entledigte sich hierauf der grauen Juppe, die er beim Arbeiten zu tragen pflegte, um einen einfachen, kurzen, dunkeln Rock anzuziehen, den er oben am Halse zuknöpfte. Dann nahm er seinen weichen Hut, verließ Zimmer und Haus und ließ bei den raschen Schritten, mit denen er dahinging, bald die Stadt hinter sich.

Das Wetter schien sich ändern zu wollen, und wenn auch der Boden noch hart gefroren war, so wehte doch vom Westen her ein weicher, fast warmer Wind, graue Wolkenmassen vor sich her jagend, die nach und nach den ganzen Himmel bedeckten. Nur dort über Eichenwald zeigte sich noch zwischen dem zerrissenen Gewölk eine leichte, blaue Stelle, die einen Sonnenstrahl durchließ, unter dem das weiße Landhaus auf der Höhe trotz des Schnee's hell leuchtend auf dem dunkeln Hintergrunde des Eichenwaldes hervortrat.

Dorthin wandte er, vorwärts schreitend, seine Blicke, und je fester er diesen leuchtenden Punkt in's Auge faßte und je höher er über die hinter ihm liegende, in Dampf und Dunst eingehüllte Stadt emporstieg, um so leichter und freier wurde es ihm zu Muthe.

»Es war eigentlich recht unklug von mir,« dachte er bei sich, »daß ich meine prächtige Station droben im Gebirge verließ, um nach der Stadt überzusiedeln. Dort hätte ich besser für das Frühjahr vorarbeiten können und ein herrliches und einsiedlerisches Leben geführt, wie es meinen Neigungen behagt. Hat er mir doch, mein alter Wirth droben, vorausgesagt, daß ich mich drunten in den engen Straßen und dumpfen Häusern nicht heimisch fühlen würde, hat er mir doch die Wintertage bei sich so ergötzlich ausgemalt, die lodernde Flamme in dem altmodischen Kamine, die knisternde Funken sprühenden Eichenklötze, die man sich obendrein noch selbst aus dem Walde holen darf, sein massives Haus, an der Berghalde gelegen, gleich über der Landesgrenze, und dazu noch die schönen Jagdgründe des Alten, um so ergiebiger durch den herrlichen Wechsel der starken Hirsche aus dem diesseitigen Revier und aus den Thalschluchten in dem jenseitigen. Und nicht einmal geschrieben habe ich dem alten Heilemann, wie ich ihm doch so fest versprochen!«

Bei diesen Worten blieb er stehen, denn er hatte, in seine Gedanken versunken, mit raschen Schritten eine der Anhöhen bestiegen, die Thal und Stadt beherrschten, eine Stelle mit einer weit ausgedehnten Fernsicht, wohin er seine Spaziergänge gern zu richten pflegte. Hier, wo sich der Fußweg von Eichenwald, dessen wir früher schon erwähnten, mit der Fahrstraße vereinigte, hatte ehedem ein fester Wartthurm gestanden, von derselben Construction, wie der in der Nähe des Rathhauses, wahrscheinlich einer und derselben Zeit angehörig; doch war von diesem hier nicht viel mehr übrig geblieben, als ein verfallenes Kellergewölbe und ein Stück Mauerwerk an einer Stelle, hoch genug, um als Sitz zu dienen, an einer anderen, um dem müden Wanderer zu gestatten, mit aufgestützten Armen auf die Stadt hinabzuschauen. Letzteres that auch Welden, und fuhr dann, halblaut mit sich selbst redend, fort: »Aber in dem Dampf und Qualm, dem wirklichen und dem noch unausstehlicheren des menschlichen Getreibes, vergißt man der besten Vorsätze, und was bleibt uns Erquickliches übrig von dem, was sie da unten ihre Gesellschaft und ihr Vergnügen nennen? Nichts für die Gegenwart, nichts für die Vergangenheit! Ist es doch ein ungemüthliches, schattenhaftes Getreibe, wo Einer an dem Anderen vorübereilt, jetzt ihn mit einem freundlich sein sollenden Gruße anblickt oder ihm hohnlachend nachschaut, nichts Geist und Herz Erfrischendes! Lug und Trug in Worten und Mienen, Vergnügen, bei denen sich Jeder mehr oder minder langweilt, und das nennt man gesellschaftliche Unterhaltung!«

Er hatte die letzten Worte ziemlich laut gesprochen, und fuhr nun überrascht, beinahe erschrocken zusammen, als er eine helle, klangvolle Stimme neben sich sagen hörte: »Sie sprechen ein hartes Urtheil aus.«

Er wandte sich rasch um und blickte in Lucy's von Rivola sanft geröthetes, frisches Gesicht, in ihre hell leuchtenden Augen, mit denen sie ihn forschend und lächelnd betrachtete.

»Ei, mein Fräulein, welch' unverhofftes Zusammentreffen!«

»Vielleicht unverhofft, aber sehr natürlich,« erwiederte das junge Mädchen. »Sie waren so mit Ihren Gedanken beschäftigt, so im Anblicke der Stadt und in Ihre Philosophie vertieft, daß Sie meine Annäherung nicht gewahrten, und ich kann Sie versichern, daß ich durchaus nicht unhörbar herangeschlichen bin; das zur Entschuldigung, wenn ich Sie überrascht. Und was nun unser Zusammentreffen anbelangt, so geschah dies auf die allernatürlichste Weise von der Welt. Ich begleitete meinen Vater, welcher Geschäfte in der Stadt hatte, mit meinem kleinen Schlitten, um heute noch einmal die Schneebahn zu benutzen, die, nach dem Himmel zu urtheilen, morgen vergehen wird – sehen Sie, dort hinten hält mein Schlitten mit meinen Ponies –, und als mich Papa verlassen, wandelte mich die Lust an, hier von dem alten Gemäuer aus einen Blick auf die Stadt hinabzuwerfen. Ist es nicht hübsch, so die gleichen Gedanken zu haben?«

»Gewiß, Fräulein, und ich schätze mich glücklich, statt auf dem Fahrwege fortzuschreiten, hier bei dem Fußwege der ja nach Eichenwald führt, einen Augenblick verweilt zuhaben.«

»Und wo wollten Sie denn eigentlich hin?«

»Nach Ihrem Landhause zu Herrn von Rivola. Doch jetzt, wo er, wie Sie mir sagen, in die Stadt gegangen ist, werde ich wohl wieder umkehren müssen, um meinen Besuch ein anderes Mal zu wiederholen.«

»Ganz und gar nicht, Herr Welden, das heißt, wenn Sie in der Stadt nichts sehr Dringendes zu thun haben. Papa sagte mir, er bleibe nicht lange aus – warum also zurückkehren? Wenn Sie mich hier nicht zufällig getroffen hätten, so würden Sie auch Ihren Spaziergang fortgesetzt haben, und mit vollem Rechte, denn ehe wir nach Eichenwald zurückkommen, kann uns Papa vielleicht schon eingeholt haben; wenigstens bleibt er alsdann nicht mehr lange, darauf können Sie sich verlassen – bitte, gehen Sie mit, begleiten Sie mich!«

Er verbeugte sich lächelnd und ward von einem höchst angenehmen Gefühle durchströmt, als er sah, wie ihn das junge, schöne Mädchen mit einem so guten, offenen Blicke betrachtete, als sie ihre Bitte aussprach, wenn sich auch auf ihrem eben noch so heiter lächelnden Gesichte ein ernster, fast ängstlicher Zug zeigte.

»Gewiß, Fräulein Lucy, werde ich Sie begleiten, wenn Sie es mir erlauben. Ich würde mir einen Vorwurf daraus machen, Sie hier getroffen und dann allein gelassen zu haben. Wollen Sie Ihren Schlitten besteigen und mir gestatten, neben Ihnen zu gehen – ich werde schon Schritt halten können mit Ihren kleinen Pferdchen.«

»O nein, ich will zu Fuß gehen, Gottlieb kann uns mit den Ponies folgen! Es weht von den Bergen herüber eine so milde, angenehme Luft, und ich freue mich darauf, einmal eine weitere Strecke gehen zu können, als vom Hause in den Park hinauf, und auch das ist ja kaum möglich bei dem tiefen Schnee. Gottlieb,« rief sie dem Bedienten zu, welcher aus der Fahrstraße hielt und nun mit abgezogenem Hute hinaufschaute, »fahre langsam gegen Eichenwald zurück und warte droben, wo der Fußweg wieder die Fahrstraße trifft! Und nun kommen Sie, Herr Welden, ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr es mich freut, daß ich mit Ihnen diesen kleinen Spaziergang machen darf. Sie waren so lange nicht mehr bei uns draußen, das ist eigentlich sehr unrecht von Ihnen, – Papa hat schon ein paar Mal nach Ihnen gefragt, und selbst Mama. Ich glaube, ich sah Sie zuletzt auf dem Balle des Stadtschultheißen, bei meinem ersten Balle, wo ich zuweilen so außerordentlich vergnügt war, das heißt an dem Abende selbst, denn am anderen Tage kam mir doch Manches anders vor.«

»Und worin fühlten Sie sich getäuscht, Fräulein Lucy, wenn ich fragen darf?«

»Getäuscht habe ich mich gerade nicht gefühlt, doch dachte ich, indem ich mir den Ball wieder vergegenwärtigte, den Ball, dem ich mit einem so heißen Verlangen entgegengesehen, daß fast alles Vergnügen auf demselben – fast alles habe ich gesagt,« fuhr sie lächelnd fort, wobei sie ihren kleinen Zeigefinger emporhielt – »doch nur erkünstelt und unnatürlich ist, eine schwache Copie anderer Vergnügungen, die minder geräuschvoll, aber nachhaltig sind. Aber Sie werden über meine Bemerkung lächeln.«

»Gewiß nicht, Fräulein Lucy; ich höre Ihnen mit Vergnügen zu und verstehe alles, was Sie sagen und nicht sagen.«

»Woher das Letztere, wenn ich fragen darf?«

»Das lese ich vielleicht aus Ihren Mienen, aus Ihren Blicken.«

»Ich möchte Ihnen aber auch alles sagen, was ich denke.«

»Und ich würde es so gern hören.«

»Und mir aufrichtig sagen, ob meine Bemerkungen richtig sind, wie Sie ja auch meine Fehler beim Zeichnen corrigirten?«

»Gerade so.«

»Nun, ich hatte mich darauf gefreut, in's Leben einzutreten, wie man es zu nennen pflegt, auf Bälle und Gesellschaften. Ich hatte den Augenblick nicht erwarten können, am Tage meines ersten Balles in den Wagen zu steigen; ach, welche Seligkeit! Und wissen Sie wohl, was in jenem Augenblicke den einzigen Schatten in mein Glück warf? Der Gedanke, aus jenen strahlenden Räumen, aus jenem geräuschvollen Treiben wieder nach dem einsamen Eichenwald zurückkehren zu müssen. Dieser Schatten aber verlor sich mehr und mehr bei jedem Feste, das ich in letzter Zeit mitgemacht, und ich habe deren viele und glänzende mitgemacht; ja, er verlor sich so gänzlich, daß gestern, als ich in den Wagen stieg, um mit Mama zu einer Soirée bei dem Minister des Auswärtigen zu fahren – Papa war schon in der Stadt –, ich mit Wonne an jenen Augenblick dachte, wo der Wagen wieder dort oben vor dem Landhause halten würde, wo ich wieder in mein kleines Zimmer eintreten könne. Verstehen Sie das?«

»Allerdings verstehe ich das, aber Sie dürfen diesen Gedanken nicht in Ihr Leben eintreten lassen. Ihrem Stande und Ihrem Reichthume nach sind Sie für jenes glänzende Leben erzogen worden; jene Gesellschaften, die Sie schon wieder liebgewinnen werden, machen einen Theil Ihres Lebensberufes aus.«

»Und das sagen Sie mir mit so heiterer Miene, Sie, den ich vorhin an dem alten Wartthurme Worte ausrufen hörte, die einen ganz entgegengesetzten Sinn hatten?«

»Ah, mein Fräulein, das war ein Selbstgespräch! Ich stellte mich in Gedanken jenen sogenannten Vergnügungen gegenüber.«

»Für welche Sie sich zu gut dünken, die aber für mich gerade recht wären. Es thut mir leid, daß ich das von Ihnen hören muß; Sie sollten mich besser kennen – o, könnte ich Ihnen beweisen, daß mir gar nichts mehr daran liegt, in jenem Treibhausleben selbst wie eine künstliche Pflanze zu erscheinen, bei nachgemachter Sonne, bei all dem künstlichen Schimmer, dem künstlichen Lächeln, künstlichen Blumen, künstlichen Freuden! Darin gleiche ich meinem guten Vater, und wenn meine Mutter nicht wäre, so würde ich jetzt schon erklären, keine Bälle mehr zu besuchen.

»Ah, wie schön ist es hier oben!« fuhr sie nach einer Pause fort, indem sie stehen blieb und ihre feine Hand auf den Arm des jungen Mannes legte. »Welch entzückender Duft schon dort aus der aufgebrochenen Erde emporsteigt! Wissen Sie, daß ich gestern schon Schneeglöckchen gefunden habe – und so mahnt mich Alles an den Frühling, an ein wirkliches, natürliches Leben, und deßhalb mag ich gar nicht mehr hinein in die dumpfige Stadt.«

Welden hatte dem jungen Mädchen mit Staunen, ja, mit inniger Freude zugehört. Waren es doch seine eigenen Gedanken von vorhin, die sie hier, wenngleich mit anderen Worten, aussprach! O, er hatte es schon früher herausgefühlt, mit welch' tiefen Schätzen wahrer Empfindung das Herz dieses Kindes angefüllt war! Hatten ihn doch schon so oft ihre einfachen Worte bewegt, ja, erquickt wie Quellengeriesel an einem heißen Tage, wie Waldesduft auf staubiger Straße!

Als sie so neben ihm stand, die hellen, seelenvollen Augen mit kindlicher Innigkeit auf ihn gerichtet, da überkam ihn ein Gefühl, wie es doch so traurig sei, gänzlich allein in der Welt zu stehen, und wie es ihn so überaus glücklich machen würde, für eine jüngere, geliebte Schwester arbeiten zu dürfen, sie zu leiten, sie sorgsam durch das Leben zu führen und ihr wahrlich ein besseres Leben zu bereiten, als diesem jungen, schönen, vornehmen und reichen Mädchen zu Theil werden mußte.

Lucy schien seine Gedanken zu verstehen, sie schien es zu empfinden, daß sie hier einem Herzen voll Wohlwollen, voll aufopfernder Freundschaft nahe war; er fühlte den Druck ihrer kleinen Hand auf seinem Arme, das Licht ihrer braunen Augen verdüsterte sich ein wenig und ein schmerzlicher Zug zuckte um ihre feinen, reizenden Lippen, als sie sagte: »Und bei alledem war es nicht recht von Ihnen, lieber Herr Welden, daß Sie sich so lange nicht bei uns sehen ließen. Wie gern hätte ich mit Ihnen über Dies und Das geplaudert, wohl manchmal über Unbedeutendes, aber auch Ihren Rath verlangt über Wichtiges, und wenn Sie mir dann vielleicht gesagt hätten, wie Sie das Leben und Treiben der sogenannten großen Welt ansehen, so würde ich Ihnen gestanden haben, daß ich gerade so denke und daß ich mich freue, wenn einmal der Frühling wieder da sein wird, wenn die Bäume grünen, die Blumen blühen und wenn wir unsere Spaziergänge abermals aufnehmen dürfen durch Feld und Wald.«

Er konnte sich nicht enthalten, leicht ihre Hand in die seinige zu nehmen und ihr mit dem herzlichsten Ausdrucke der Freundschaft, den er in den Ton seiner Stimme zu legen vermochte, zu antworten: »O ja, Fräulein Lucy, der Frühling wird kommen, auch Bäume und Blumen werden blühen, Manches aber wird und muß anders werden! Sie sind kein Kind mehr, und wenn auch ich selbst darauf hoffe, in Ihrer lieben Gesellschaft hier und da das märchenhafte Geflüster des Waldes zu hören oder das traumartige Gemurmel des Bergwassers, an dem Sie so gern verweilten, so wird es doch von jetzt ab nur geschehen unter dem vollen Rechte des gesellschaftlichen Herkommens, und so soll und muß es auch sein.«

Sie blickte ihn fast erschrocken an, als sie hierauf erwiederte: »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie so mit mir reden würden! Warum wollen Sie nicht mehr sein, wie früher?«

»Ich werde mich gewiß nicht ändern, sondern bin nur so glücklich, die Verhältnisse ruhig und richtig überschauen zu können.«

»Ja, ruhig und richtig.«

»Mit dem wiederkehrenden Frühling werden Bälle und Soiréen allerdings aufhören, doch wird dann die sogenannte Gesellschaft, vor allen Dingen aber Ihre Eltern andere Ansprüche an Sie machen. Sie sind nun einmal in das Leben eingetreten, Sie schwimmen auf dem Strome der Welt dahin, glücklicherweise nicht in einem gebrechlichen Kahne, wie tausend Andere, sondern auf einer stattlichen Gondel mit bunten, flatternden Wimpeln. Anfangs schauen Sie allerdings sehnsuchtsvoll rückwärts nach dem Ufer, wo Sie Ihre Kindheit verlebten; doch verblassen diese Ufer nach und nach, um am Ende ganz zu verschwinden, um Ihnen den unverkümmerten Genuß all der Herrlichkeit zu gestatten, an der Sie der Strom des Lebens vorüberführen wird, um Ihr Schifflein endlich, hoffentlich lind und leise, in einen freundlichen Hafen zu tragen.«

»Und Sie?«

»Ah, ich befinde mich schon stark in der Strömung, aber nicht sanft mit dem Strome schwimmend wie Sie, nein, in kräftiger Arbeit, bald, um von einem Ufer an das andere zu gelangen, oder um gegen die Strömung aufwärts zu rudern, auch hier und da, um einen bösen Strudel zu vermeiden!«

»Ihre Worte gefallen mir, obgleich ich sie nicht ganz verstehe, und doch wohl verstehe, aber vielleicht nicht ganz den Sinn, welchen Sie hineinlegen wollen. Könnten wir uns denn auf dem Strome nicht später einmal wieder begegnen?«

»O ja, gewiß, ich hoffe es sogar! Dann werde ich, im Falle Sie mich wiedererkennen, Ihnen freundlich von fern mit der Hand winken und Ihnen vielleicht zurufen: Ich habe die Tage von Eichenwald nie vergessen, eben so wenig, wie meine kleine Freundin Lucy!«

»O, darauf hoffe ich!«

Sie hatte ihre kleinen Hände auf seinem Arme zusammengefaltet und blickte ihn ein paar Sekunden lang mit ihren schönen, klaren Augen an und mit einem Ausdrucke, in dem ihre ganze Seele lag, wogegen er ruhig und freundlich auf sie niederschaute. Dann wandte sie sich mit einem leichten Seufzer von ihm und sagte: »Ach, da ist auch Gottlieb mit meinem Schlitten – wie kurz mir der Weg geworden ist!«

Welden trat neben die kleine Equipage, nahm die Zügel aus den Händen des Bedienten, sowie auch die Peitsche, um sie an Lucy zu geben.

»So soll ich also einsteigen?« sagte diese.

»Ich glaube, es ist wohl besser, und wenn Sie mir erlauben, so gehe ich neben Ihrem Gespann her; ich werde wohl mit den kleinen Thieren Schritt halten können.«

Die beiden Schecken schüttelten allerdings unmuthig mit den Köpfen, daß sie, so nahe ihrem Stalle, im langsamsten Schritte gehen mußten; dabei klingelten die Schellen ihres Geschirres, daß es eine wahre Freude war. Auch schien das junge Mädchen sich höchlichst daran zu ergötzen, denn sie hielt die Zügel noch straffer gespannt und sagte lächelnd mit einem Seitenblicke auf den Ingenieur: »Wart', ich will euch lehren, ungeduldig zu sein und davonrennen zu wollen; fest will ich euch halten, so fest ich kann, und wenn ihr folgsam seid und euch ruhig in euer Schicksal findet, so sollt ihr es auch gut bei mir haben; ich will euch hegen und pflegen, lieb haben und streicheln, aber Gehorsam verlange ich – Gehorsam.«


 << zurück weiter >>