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30. Rösels Heimkehr

Es war an einem Sonntagabend. Die Zwerge hatten zu Nacht gegessen. In der Küche war alles Geschirr gewaschen und an seinen Platz gestellt, der Speisesaal schon wieder für das Frühstück am andern Morgen zubereitet. Die Zwerge saßen auf den Bänken vor dem Hause, lasen Bücher und Zeitungen und rauchten dazu ihr Pfeifchen.

Frau Christine rief ihre Mädchen alle zusammen und sprach:

»Liebe Kinder, morgen ist großes Fest. Unsere Fee Güldenhaar feiert ihren fünftausendsten Geburtstag und hat die Zwerge alle und auch euch in ihr Schloß geladen. Beeilt euch in der Frühe, daß bis neun Uhr alles aufgearbeitet ist. Zu Mittag wird nicht gekocht. Wir essen im Schloß.«

Wie sich Rösel freute, daß sie morgen die Fee Güldenhaar sehen sollte!

Die Zwerge gingen geschlossenen Zuges in ihren Bergmannskleidern dem Schlosse zu. Hinter ihnen drein kam Frau Christine mit ihren Mädchen. Sie betraten den hohen Festsaal des Schlosses. Hier waren schon alle Untertanen der guten Fee versammelt: die Bergfeen und die Waldfeen, die Elfen und Nixen, die Zwerge aus allen Bergwerken. Blinkeblitz stand neben dem in Gold und Silber glitzernden, noch leeren Thron der Fee Güldenhaar. Alles wartete auf die Herrin.

In dem Augenblicke, als Frau Christine mit ihren Mädchen unter die Türe trat, gab Blinkeblitz ein Zeichen, und die Zwergmusikanten spielten die Königinnenhymne von Feeland.

Ein lichter Schein, wie das Morgenrot um die Sonne, strahlte um Frau Christine. Sie schwebte in jugendlicher Schönheit über die ganze Versammlung weg und stand vor ihrem Thron. Ihr goldenes Haar wogte in hellen Wellen von ihrem Haupte herab auf das blendend weiße Seidenkleid. – Alle Versammelten neigten sich tief vor ihrer Herrin.

Die Mädchen standen immer noch an der Türe des Einganges. Die Musik verklang. Fee Güldenhaar erhob die Hand, winkte und sprach:

»Komm hierher, Rösel. – Am heutigen Tage sollst du die erste sein, die ein Geschenk aus meiner Hand erhält.«

Rösel schritt mit Herzklopfen mitten durch den Saal bis vor den Thron der Fee.

»Steig nur herauf!« sprach diese und setzte sich. Rösel stand zwischen ihr und Blinkeblitz.

»Rösel«, fuhr Fee Güldenhaar fort, »die Zeit, die du im Zwergenreiche verbringen solltest, ist vorbei. Du wirst heute heimkehren. Das böse Fluderle ist tot, das gute Rösel soll noch lange leben. – Nimm dieses Andenken von mir und grüße mir daheim den Vater Seppel und den Bruder Bengele!«

Sie überreichte Rösel ein Büchslein von Elfenbein. Auf der einen Seite war das Bild eines Zwergmädchens im Arbeitskleide aufgezeichnet, auf der andern ein schwarzes Küken, das auf einem Aste saß und flatterte.

Die Fee wandte sich an Blinkeblitz: »Bringe unser Rösel gleich zum Wagen, der vor dem Hause wartet!«

Rösel küßte der Fee Güldenhaar die Hand und wußte kein Wort zu sagen. Es ließ sich von Blinkeblitz zum Saale hinausführen. Es vergaß, sich von den Mitarbeiterinnen zu verabschieden. Der Kutscher Mäusel stand schon vor dem Wagenschlag. Blinkeblitz gab Rösel die Hand. Es wollte ihm um den Hals fallen, um sich zu bedanken, aber schon war der Wagen geschlossen. Die dreihundert Paar weiße Mäuse rasten durch den Hohlgang dahin. Rösel saß stumm in dem weichen Polster des Gefährtes.

Licht schimmerte von ferne. Mäusel lenkte die Zugtierchen um, der Wagen stand quer über die unterirdische Straße. Der Kutscher sprang vom Bocke, öffnete den Schlag und sprach:

»Rösel, dort, wo der helle Tag hereinscheint, ist der Ausgang. Weiter darf ich nicht fahren. Ich möchte außerdem das Fest in Feeland mitmachen, wenn ich ausgespannt habe.«

Rösel stieg aus, der Kutscher sprang auf den Bock und fuhr in den Berg zurück.

Das Zwergmädchen ging dem Ausgang zu. Es trat ans helle Tageslicht und stand auf dem Wege, der neben dem Bache her in sein Heimatdorf führte. – Plötzlich war aus dem Zwergenmädchen ein siebzehnjähriges Menschenkind geworden, groß und schön gewachsen, einfach gekleidet. Es hatte nichts in der Hand als ein Elfenbeinbüchslein so groß wie ein Geldbeutel.

Wieder war ein Frühlingstag. Die Leute arbeiteten auf den Feldern und in den Weinbergen. Auf zartes Grün und auf weißblühende Bäume leuchtete die helle Sonne, der Bach hüpfte glitzernd über die Steine.

Rösel ging dem Dorfe zu und kam zu Vater Seppels Haus. Es trat in die Werkstätte ein. Seppel schnitzte eben ein Blumenmuster für eine Schranktüre.

»Guten Morgen, Vater!« sagte Rösel.

»Grüß Gott, Rösel! – Bist du schon da? Tante Christine hat mir gestern geschrieben, daß sie dich wieder heimschicken wolle. Du habest dich sehr gut angestellt und die Haushaltung so gründlich gelernt, daß du uns hier alles besorgen könnest. Das freut mich sehr, Rösel, denn wir können dich gut brauchen.«

Rösel machte große Augen und sagte: »Die Fee Güldenhaar läßt dich, lieber Vater, und meinen Bruder Bengele grüßen. Auch hat sie mir dieses Büchslein zum Abschied geschenkt.«

Sie öffnete das Büchslein und schüttelte den Inhalt auf die Schnitzelbank. Es waren sechs Goldstücke.

»Nun fängst du mir aber nicht schon wieder an mit den Märchengeschichten!« sagte Vater Seppel. »Ich will von Feereien nichts mehr hören. Einmal müssen solche Kindereien ein Ende haben. – Sechs Goldstücke hat dir die Tante geschenkt, eines für jeden Monat, da du bei ihr arbeitetest. Ja die Christine hat ein gutes Herz. Du hast sicher nicht soviel verdient, als sie dir gegeben hat. Nun sei es für dich der Anfang zu einem Spargroschen.«

Vater Seppel steckte das Geld wieder in das Büchslein, gab es der Rösel und sprach:

»Geh nun gleich in die Küche und koche uns das Mittagessen! Du kannst auch noch die Zimmer in Ordnung bringen. Aber Punkt zwölf Uhr muß das Essen fertig sein. Wenn der Bengele heimkommt, bringt er einen großen Hunger mit, und dann muß das Essen auf dem Tische stehen.«

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