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1. Dreizehn

Kennst du den Bengele? – Diese Frage muß ich an dich stellen, bevor ich die neue Geschichte erzähle.

Antwortest du mir mit einem fröhlichen »Ja, ja!« so erinnere ich dich an einen Vorgang aus Bengeles Leben: An dem Abend des Tages, da er aus dem Holzscheit geschnitzt worden war, saß er allein in der Stube seines Vaters Seppel, mit hungrigem Magen, traurig, fast verzweifelt, da er nichts zu essen fand. Vom Kehrichthaufen glänzte ihm ein Ei entgegen. Weil er kein Fett hatte, goß er Wasser in die Bratpfanne, blies die Kohlenglut an, schlug das Ei auf und … »pieps – pieps!« aus dem Ei kroch flink ein Vögelein und sang:

Mein kleiner Freund, ich danke dir,
Du hast mich heut befreit.
Ich schwing' mich fort, weit fort von hier
Zur Waldeseinsamkeit.

Halbflügg entfloh dem Elternpaar
Ich aus dem Nest heraus
Und schlief verzaubert hundert Jahr'
In diesem weißen Haus.

So leb denn wohl, mein Bengelein!
Ich laß den Vater grüßen. –
Des Eigensinnes Diener sein,
Muß jeder bitter büßen.

Hier beginnt meine neue Geschichte.

Das Vögelein, das, kaum aus dem Ei geschlüpft, schon ein Lied sang und dem Bengele eine gute Mahnung gab, war verzaubert. Hundert Jahre lang, meinte es, sei es in dem Ei eingesperrt gewesen. Aber es war ihm nur so lange vorgekommen, da es immer geschlafen hatte. War es dazwischen einmal ein bißchen aufgewacht, so hatte es nur den Wunsch gehabt, befreit zu werden. Begreiflich, daß es sich jetzt freute und gleich davonflog, um die schreckliche Eierschale nicht mehr zu sehen.

Wann gab es je ein Vögelein, das sofort nach dem Ausschlüpfen sprechen, singen und fliegen konnte? – Fraglos nur zu Bengeles Zeiten.

Wäre Bengele nicht so schrecklich hungrig gewesen, so hätte er trotz seiner Entrüstung über das nichtsnutzige Ei genauer auf das Vögelein geachtet. Dann wäre ihm aufgefallen, wie in dem Augenblick, als das Vögelein aus dem Ei schlüpfte, ein kleiner Goldkäfer schnurrend durch das offene Fenster hereinflog. Der glitzernde Brummer ließ sich auf dem Rücken des Vögeleins, gerade an der Stelle nieder, wo die beiden Flügel herauswuchsen, und da bekam das Tierchen mit einem Mal die langen Schwingen und die Steuerfedern des Schwanzes, daß es davonfliegen konnte wie eine Amsel. – Und es war ein gewöhnliches Hühnerküken.

Solange der goldene Käfer auf seinem Rücken saß, konnte es singen und sprechen. Sonst war es nur ein molliges, schwarzflaumiges Hühnerküken, das um die Glucke herumrennt und »pieps« schreit, wenn es Hunger hat oder die Mutter nicht mehr sehen kann.

Nun tat das Küken groß, als wäre es ein Waldvögelein, das in die Waldeseinsamkeit gehörte.

Zum Fenster hinaus nahm es den Flug hoch in die Luft wie eine Lerche. Es flog über einen Berg und schaute auf die Wipfel der Tannenbäume, die eben das hellgrüne Gewand ihrer frischen Sprossen angelegt hatten. Es kam in ein Wiesental, in dem die Dächer der Menschenwohnungen wie dunkle Kleckse zwischen blühenden Obstbäumen lagen. Dieses Tal zog sich aufwärts dem höchsten Berg entgegen. Auf seinem langgestreckten Rücken stand ein Turm, dessen Fensterscheiben in den letzten Strahlen der Abendsonne wie ein feuriges Auge herableuchteten.

»Dort hinauf!« sagte das Küken, »dort gibt es keine Menschen mehr, die mich verfolgen, dort will ich ganz allein in der Einsamkeit leben.«

Da … es sinkt im Fluge. Seine Schwungfedern werden kürzer und kürzer. Es gleitet zur Erde und fällt in das halbhohe Gras einer Wiese neben dem Haus der schwarzen Karline auf dem Hagenberg.

Das Küken schaut sich um. – Nichts als Gras! Ein ganzer Wald von Gras, dicke und dünne Stengel, darüber der helle Abendhimmel.

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Horch! – »Tock – tock, tock – tock!« – »Tiu-tiu!« Das Küken rannte ein schmales Wegchen entlang, das zwischen das Gras getreten war, und sah eine braune Gluckhenne, die eben ihre Flügel ausbreitete und ihre Kleinen zu sich rief. Denn der Abend kam, und es war Zeit, den Stall aufzusuchen.

Das schwarze Küken schrie »tiu-tiu« wie alle andern und trippelte auf die braune Glucke zu. Diese schaute verwundert aus den Ankömmling. Ihre eigenen zwölf Kleinen liefen samt und sonders im goldgelben Flaumkleid einher. Was ging sie das Schwarze an? Sie wollte nach dem Fremdling picken. Da flog ein goldener Käfer vor ihrem Schnabel weg. Den suchte sie zu erschnappen, erwischte ihn aber nicht, und da das Kleine weiter mit seinem »tiu-tiu« bettelte, öffnete sie auch ihm die Flügel und ließ es unter ihren warmen Mantel schlüpfen.

Indessen kam die schwarze Karline. Sie trug in der linken Hand ein Schüsselchen, griff mit der rechten hinein und streute, laut rufend: »gluck – gluck – gluck!« vor dem Hause zarte Hirsekörner aus.

Die braune Glucke erhob sich, rannte ihrer Herrin entgegen und lud mit »tock – tock – tock« ihre Kinder zum Abendessen ein.

Karline, die freundlich ihre Hühnerfamilie betrachtete, machte auf einmal große Augen und sprach:

»Wie konnte ich das übersehen! – Da ist ja ein schwarzes! – Und die Efrosine von der Brandmatt hat mir heilig versprochen, daß ich von ihren Eiern lauter gleichfarbige Hühnchen bekomme. – Zwei von meinen Eiern mußte ich geben gegen ein Brutei. – Es ist kein Verlaß mehr auf die Leute. Ein schwarzes unter den gelben!! So Gott will, ist es ein Hahn. Der wird geschlachtet.«

Bevor die schwarze Karline ihre Glucke mit den Jungen in den Stall einließ, zählte sie die kleine Schar:

Dreizehn!

Sie zählte noch einmal:

Dreizehn!

Man kann sich zweimal verzählen. Zum dritten Mal:

Dreizehn!

Vor drei Tagen sind zwölf aus dem Ei geschlüpft. – Und jetzt noch eines, und ein schwarzes! – Die Karline begreift es nicht. – Dreizehn Küken statt zwölfe! – Wer kann das verstehen?

Als Karline zu Bett ging und ihr Nachtgebet verrichtet hatte, sagte sie gähnend noch einmal:

Dreizehn!

In der Nacht wachte sie aus einem schweren Traum auf und rief laut:

Dreizehn!


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